Sieben Sekunden im Spitalhof
von Kathrin Kipp
REUTLINGER NACHRICHTEN, 29.10.2016
Es geht um die angebliche Freiheit, andere zu töten – und um »unsere Art zu leben«: Das choreografische Theaterprojekt »Sieben Sekunden (In God We Trust)« nach Falk Richter verhandelt ein aktuelles Thema – in Zeiten von Krieg, Terror und Vertreibung.
Früher, und in etwas entlegeneren Regionen führte man manchmal einen Kriegstanz auf, bevor es los ging. Jetzt gibt’s an der Tonne einen Anti-Kriegs-Tanz. Unter der Regie von Enrico Urbanek, nach dem Text von Falk Richter (von 2003) und mit der Choreographie von Yaron Shamir ist das Ganze nichts weniger als ein interdisziplinäres Gemeinschaftsexperiment.
Und eine sehr plakative Anklage. Gegen Krieg und Gewalt-Eskalation, gegen billige Propaganda, gegen den ganzen Der-Hat-Zuerst-Angefangen-Wahnsinn. Gegen das platte Gut- und Böse-Schema, gegen die dumpfen Kriegsphrasen, gegen strunzdumme Militärs, gegen Rüstungswahnsinn, gegen den Krieg als Computer-Game, gegen die mediale Aufbereitung des Kriegs, gegen die Inszenierung von Soldaten als gottgesandte, muskelbepackte, unfehlbare Popstars in einer Soap-Opera: Tonne-Schauspielerin Chrysi Taoussanis spricht und schreit den Text in die Welt hinaus. Sie begibt sich in das Gefühlsleben und die Gedankenwelt von Brad, einem Flugzeugpilot, der meistens keine Ahnung hat, wo er gerade kämpft, gegen wen er kämpft, was er da gerade bebombt. Nur, dass die da unten böse sind, unsere Freiheit und unsere Art zu leben bedrohen und uns sofort angreifen, wenn wir es nicht tun.
Die Zeit bis zum Aufprall
Ein ziemlich schlichtes Gemüt, der Brad: Politik ist nicht so sein Ding: »Ich bin ja nicht als Philosoph angestellt.« Der Krieg ist sein Alltag, dementsprechend ist es auch praktisch, wenn man ein wenig abgestumpft ist. Sonst braucht man so viele Beruhigungsmittel. Die wird er allerdings bald nicht mehr brauchen, denn gerade wird er abgeschossen und hat noch sieben Sekunden bis zum Aufprall.
Dabei gehen ihm noch einmal alle möglichen Dinge durch den Kopf: seine republikanische Denke, seine patriotischen Gefühle, seine verschwurbelten Feindbilder. Gedanken an seine Vorstadtidyllen-Familie und seine zweite Familie, die Army, in der alle zusammenhalten.
Chrysi Taoussanis steigert sich in die entsprechende Harmoniesucht, Propaganda und Panik vor dem Feind. Und bahnt sich dabei ihren Weg durch einen Park voller Kunstrosen in Sprudelflaschen, die in ihrer Ordnung und Massenhaftigkeit an einen Soldatenfriedhof erinnern, aber natürlich auch an die friedensbewegten Blumen in den Gewehrläufen.
In den Rosenfeldern stehen auch die Tänzer(innen) Risa Kojima, Nora Vladiguerov und Tobias Weikamp. Choreograph Yaron Shamir lässt sie Ritterrüstung tragen – der Krieg ist schließlich eine Konstante in der menschlichen Zivilisation, nicht erst seit dem Mittelalter. Er ist aber meistens auch ein sinnloser Kampf gegen Riesenwindmühlen wie bei Don Quijote.
Marionetten und Roboter
Die drei Tänzer versuchen anfangs, die Rosenflaschen nicht zu berühren, mit ihren Bewegungen, die synchron wie die Masse, zackig und klapprig wie Marionetten und Roboter sind. Das wäre praktisch, wenn man nur noch Roboter gegeneinander kämpfen lassen könnte.
Aber auch bei den ferngesteuertsten Drohnenkriegen geht es immer noch um Menschen, um energiegeladene Körper, die in explodierenden Häusern verbluten. Auch wenn wir es auf den Kriegsbildern nicht mehr sehen können. Chrysi Taoussanis räumt die Flaschen weg und schiebt den Rosenkranz durch den Raum, wird von den anderen unter Flaschen vergraben: Yaron Shamirs Choreographie liefert eher abstrakte Bilder, die weite Assoziationsspielräume zulassen. Der Sound von Oliver Doerell reicht vom unkonkreten Wüstensturm über akustische Bombardements bis hin zu friedvollen, harmonischen Momenten.
Und was die Tänzer(innen) hier bieten, hat eher weniger mit Krieg zu tun, eher mit sehr viel Energie. Denn wer sich so schön und intensiv bewegt, kann unmöglich ein Krieger sein. Vielleicht die Opfer? Die Höhlenmenschen, von denen Brad spricht, die in ihren Höhlen andere Götter anbeten als wir und deshalb gefährlich sein müssen?
Sie sehen jedenfalls alles andere als gefährlich aus. Zumal sie irgendwann ihre Rüstungen ablegen, sich ausbreiten und nur noch reine Körper sind, die ihre Fall-, Dehn-, Streck- und Wälzstudien betreiben und weiche Breakdance-Figuren beschreiben. Kraft und Erschöpfung.
Die Figuren sind sich mal Stütze, mal Widerspruch, und je nach Weltlage – oder Gefühlslage bei Brad und seiner Familie – ganz hektisch, dann wieder sehr gediegen, manchmal fast akrobatisch unterwegs. Da ist in den Körperfiguren fast mehr Komplexität als in Brads Hirn.
Sieben Sekunden an der Tonne: bezwingende Ästhetik
von Monique Cantré
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 29.10.2016
Theater die Tonne - Uraufführung von »Sieben Sekunden« nach Falk Richter an der Tonne verknüpft Tanz und Schauspiel
REUTLINGEN. »Sieben Sekunden« – so lange dauert es, bis eine in 10000 Metern ausgelöste Bombe auf der Erde aufschlägt; sieben Sekunden dauert es auch, bis ein abgeschossener Bomber auf der Erde zerschellt. In diese Klammer packt Falk Richter seine sarkastische Reflexion moderner Kriegsführung, deren anonyme Tötungsmaschinerie in banalisierter Sensationsberichterstattung an die Öffentlichkeit gerät. Das Theater Die Tonne hat Richters Text als Fundament für ein »choreografisches Theaterprojekt« gewählt. Dieses wurde am Donnerstag im Spitalhofkeller unter lang anhaltendem Beifall uraufgeführt.
Die Inszenierung des Choreografen Yaron Shamir und des Theaterregisseurs Enrico Urbanek überzeugte durch höchste ästhetische Kraft. Der nur schwer zu verkraftende Inhalt, der die Bomberpiloten als angeblich unwissende Tastendrücker beschreibt, trifft auf körperliche Echtheit, auf perfekt dargebotene Bewegungsmuster, auf zwei Tänzerinnen und einen Tänzer mit enormer Ausstrahlung: Risa Kojima, Nora Vladiguerov und Tobias Weikamp. Die Schauspielerin Chrysi Taoussanis spricht – integriert in die Szenen – den Text, den Falk Richter eigentlich für bis zu acht Sprecher konzipiert hat. Seinen ständig wechselnden »Realitätsebenen« ist im Monolog freilich nicht immer leicht zu folgen.
Das Finale zu Beginn
An den Beginn wurde Richters Finale gestellt, in dem eine Kriegsreportage von einem TV-Mächtigen abgelehnt wird mit der Kritik, dass in dem Film zwar drei Millionen Menschen sterben würden, man aber nur Grafiken sehe. Das sei langweilig, ohne Handlung. Besser wäre, »wenn wir nur ein Kind ganz langsam sterben sehen, aber so, diese Massen, das berührt mich nicht«. Der Filmautor entgegnet, aber darum gehe es ja, um die »Eintönigkeit der Massenvernichtung«. Diese Eintönigkeit ist offenbar das größte Problem für Bomberpiloten wie den Familienvater Brad. Wie gut, dass es auf den Flugzeugträgern wie auf dem mit dem Namen »In God we trust« (Wie vertrauen auf Gott) so viel Zerstreuung gibt und jeder seine Ballerspiele zur Verfügung hat.
Per Synthesizer sind schon beim Einlass in den Tonne-Keller, wo die Zuschauer an den Wänden entlang sitzen, Wind- und Fluggeräusche zu hören, zu denen später Detonationen und auch Klaviertöne kommen. Die Musik von Oliver Doerell hat ebenso wie die raffinierte Lichtregie und Yaron Shamirs Ausstattung Anteil an der Dichte der Inszenierung. Dem »dreckigen« Krieg kontrastieren die eleganten schwarzen Herrenanzüge der Mitwirkenden. Anfangs trägt das Tanz-Terzett darüber glänzende Ritterrüstungen, die knackende Geräusche abgeben. Vorsichtig durchschreiten die Geharnischten ein kreuzförmiges Feld aus roten Rosen in Flaschen, das an ein Kriegsgräberfeld erinnert.
Die Rosen werden zusammengerafft und zu einem Kranz gelegt, unter den Flaschen wird der Bomberpilot begraben. Die Choreografie ordnet sich zu synchronen Tanzschritten und Bodenfiguren. Es kommt zu Bewegungszitaten von fallenden Soldaten und von im Sterben verkrampfenden Körpern, bevor der Tod sie starr macht. Der Tanz illustriert nicht den Text, sondern sucht einen eigenen Ausdruck für Qual und Angst – aber auch für Lebendigkeit.
Propaganda eingeimpft
Wie den Menschen zu Hause die Terrorangst eingepflanzt wird, damit sie den Krieg befürworten, wird an der Erzählung von Brads Frau Marge gezeigt. Die Propaganda hat ihr eingeimpft, dass im Nahen Osten ihre westliche Art zu leben verteidigt wird. Mit brechender Stimme trägt Chrysi Taoussanis die Strophen von »Lili Marleen« vor. Der Tänzer Tobias Weikamp rechtfertigt sich in der Rolle des Brad für seinen Job, in dem er eigentlich nicht weiß, wen er bekämpft und für wen er tötet:»ständig neue Allianzen«. Er sieht nicht, was er zerbombt, ob Krankenhäuser oder Kindergärten und möchte über die Opfer auch nichts wissen. Augen zu und durch!
Die glauben nicht an unseren Gott
von Bernhard Haage
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 29.10.2016
Sieben Sekunden - Ein feinfühlig choreografisches Tanz-Theaterprojekt in der Reutlinger Tonne entlarvt die Scheinwelt moderner Kriege.
Brad ist einer dieser Typen, die Hochzeiten bombardieren, ein Krankenhaus, einen Kindergarten - und trotzdem ist er auch der nette Kerl, der oft an seine Kinder denkt, an seine Frau und an das Barbecue im Garten seines Eigenheimts in Colorado. Um die Perversion moderner Kriegsführung zu entlarven, konfrontiert Autor Falk Richter das Publikum in dem Stück »Sieben Sekunden« mit einem Befehle ausführenden Täter, der die Gedanken verdrängt, wen oder was er da eigentlich zerstört.
Choreograf Yaron Shamir und Regisseur Enrico Urbanek haben aus den Texten ein feinfühliges choreografisches Theaterprojekt gemacht, das am Donnerstag im Reutlinger Theater Tonne Premiere hatte.
Risa Kojima, Nora Vladiguerov und Tobias Weikamp tanzen, was hinter den ungeheuerlichen Worten steckt, die von Schauspielerin Chrysi Taoussanis wie nebenbei, ernst, aber im unverbindlichen Plauderton vorgetragen werden. Eine andere Sprache sprechen die Bilder: Ein Kreuz aus roten Rosen, in Glasflaschen. Dazwischen eine Kriegerin (Risa Kojima) mit Brustpanzer und versteinertem Blick. So beginnt das Drama, das in diesem Fall jedoch auch in 10 000 Metern Höhe spielt. Ein Kampfpilot mit einem Auftrag hat die Orientierung verloren. Er findet die Landebahn nicht, aber bombardieren kann er noch. Und wenn er das nicht tut, macht es sein Computer.
Die Tänzerinnen und Tänzer begleiten die unheimliche Situation marionettenhaft, während sich in Brads Kopf Filmszenen entwickeln: Großaufnahme der Kinder und der Frau. Tobias Weikamps Solotanz verkörpert die Verlorenheit des Piloten.
Der wiederum sagt sich immer wieder, dass er böse Menschen jagt, »die leben in Höhlen und hassen uns«. Auch der pseudoreligiöse Aspekt der Kampfesmotivation wird deutlich: »Die glauben nicht an unseren Gott, die glauben nur an einen anderen Gott, nicht an unseren, und die bedrohen unsere Art zu leben.« Dass ein amerikanischer Flugzeugträger »In god we trust« heißt, zeigt, wie bitter real diese Texte sind.
Äußerst ästhetisch verkörpern die Tanzenden den emotionalen Hintergrund. Weniger Kampf als Zerbrechlichkeit, weniger Zorn und Verstörung als stilles fassungsloses Leiden. Auch die Musik von Oliver Doerell bleibt trotz Kriegsgeräuschen und Sirenenfragmenten unaufdringlich am unglücklichen Seelenzustand von Tätern und Opfern gleichermaßen.
Dass die beiden Tänzerinnen am Schluss mit entblößtem Oberkörper tanzen, ist vielleicht ein bisschen zu plakativ, aber es verdeutlicht doch noch einmal die besondere Verletzlichkeit des Menschen vor dem perversen Hintergrund, dass der moderne »saubere« Krieg für die Ausführenden beinahe wie ein Computerspiel wirkt, es aber in Wirklichkeit um das nackte Überleben oder Sterben von echten Menschen geht. Dass der Pilot seine Landebahn nicht mehr finden wird ist, ein dramatischer Nebenaspekt. Man hatte ihn ja beinahe schon irgendwie lieb gewonnen. Das Premierenpublikum bedankte sich für die hervorragenden tänzerischen Leistungen und die sensible Inszenierung mit langem Applaus.
Unterm Strich
»Sieben Sekunden« zeigt den menschlichen Aspekt hinter der von menschenverachtender Technik bestimmten modernen Kriegsführung. Sprache und Tanz ergänzen sich zu einem überzeugenden Sittengemälde einer Zeit, in der die Verlogenheit perfektioniert und das massenhafte Leid zu einem technischen Detail herabgewürdigt wird.