Zwischen Trugbild und Verheißung

von Christoph B. Ströhle

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 21.05.2022

 

Theater – »Träume sind Schäume« mit dem inklusiven Tonne-Ensemble entführt in die Welt des Zwielichts und der Fantasie

 

REUTLINGEN. Was für ein starker Bilderreigen! Der inklusive Theaterabend, den Yaron Shamir unter dem Titel »Träume sind Schäume« am Theater Die Tonne inszeniert und choreografiert hat – Premiere war am Donnerstag –, fesselt nicht als durcherzählte Geschichte, sondern als in poetischen und üppigen Bildern angelegte Reise durch Fantasien und Träume.

 

Alle haben sie ihren Anteil daran: die beherzt und mit Sinn für Komik wie für das Alptraumhafte spielenden Darstellerinnen aus dem inklusiven Tonne-Ensemble – Haydar Baydur, Bahattin Güngör, Nina Hoehne, Coralie Honl, Seyyah Inal, Daniel Irschik, Roswitha John, Anne-Kathrin Killguss, Santiago Österle, Antje Rapp, Andrea-Sophie Richter und Gabriele Wermeling. Co-Regisseur Daniel Tille, der bei der Stückentwicklung zugleich als Text-Verantwortlicher fungierte. Kostümbildnerin Sibylle Schulze, die dem Übersteigerten und dem Wunsch der Beteiligten nach Glitzerwelten Rechnung trägt. Der Komponist Stefan Menzel (Sandrow M), der die Darstellerinnen und Darsteller ausgehend vom Geräusch einer tickenden Uhr in verträumte Piano-Welten und einen ausgelassenen Rave schickt. Iskra Jovanovic´-Glavaš, die für eine besonders traurige Szene eine menschengroße Gliederpuppe geschaffen hat. Und viele andere.

 

Panzer gegen Enttäuschungen

Die von Anne-Kathrin Killguss sensibel geführte Puppe mit einer Aura von gleichzeitiger An- und Abwesenheit dient Daniel Irschik als Anspielstation. Ihr macht der seltsam mit sich selbst beschäftigt Wirkende in angedeuteter Rittermontur einen Heiratsantrag. Doch die Möglichkeit, dass sie Ja sagt, bleibt für ihn schwer zu verarbeitende Illusion. Mit jedem Mal mehr, dass er »Ich liebe dich doch« sagt, verpufft das von ihm ersehnte traute Glück, wird die Tragik, die in seinem Beharren liegt, ein Stück spürbarer. Mit den Worten »Ich liebe dich« legen ihm die schwarz gekleideten Ensemblemitglieder nach und nach Teile eines vor Enttäuschungen schützenden Panzers an.

 

Gabriele Wermeling führt souverän moderierend durch den Abend. Sachlich meist und mit Fragen immer wieder auf die Traum-Erfahrungen der Menschen im Publikum anspielend. Gelegentlich mit sanften verbalen Spitzen gegen menschliche Illusionen und Schwächen. Von heilsamen, tröstenden, warnenden und auch heimsuchenden Träumen ist da die Rede. Von Heldinnen und Helden, zu denen wir in unseren Träumen werden. Von Träumen, die uns verzaubern oder um den Verstand bringen. Die uns beflügelnd wahr werden oder uns in Sackgassen führen.

 

Nicht jeder könne den dicksten Goldfisch angeln, sagt Wermeling. Und leitet über zur ersten Szene, die Seyyah Inal als an seinem Glück und seinen Fähigkeiten zweifelnden Angler zeigt. Mit leeren Dosen, einem Stiefel und Ähnlichem, die er aus dem Wasser gezogen hat, kann er nichts anfangen. Gerade als er eine höhere Macht bittet, ihm ein Zeichen zu senden, zappelt ein Fisch an der Angel. Kein gewöhnlicher Fisch, wie sich herausstellt, sondern einer, der sprechen, ja sogar singen kann. Santiago Österle spielt diesen Goldfisch, der wie der Angler Klartext spricht. Überhaupt ist es eine derb-gewitzte und alltägliche Sprache, die beide pflegen. Österle und Inal kosten die Situationskomik wunderbar aus und ernten einige Lacher, bevor der Goldfisch mit dem »Kümmer-Gen« den Kindheitswunsch des Anglers erfüllt und ihn zum gefeierten Formel-1-Star macht. Weil im Traum schlichtweg alles möglich ist. Aus zwei Rollstühlen, auf die die beiden Darsteller auch im wahren Leben angewiesen sind, werden Boliden. Ein rasantes, Glückshormone freisetzendes Rennen beginnt, bei dem das Publikum ihnen zujubelt.

 

Elemente des Tanzes tauchen im Stück immer wieder auf, ob im Rollstuhl oder mit den Händen der Ensemblemitglieder an einem Metallkettenvorhang. Herrlich die Szene, in der die ins Riesenhaft-Göttliche gesteigerte Coralie Honl und Roswitha John als ihre auf den Machterhalt versessene Schwester einander anzicken, weil die Menschen sie als Autoritäten nicht mehr anerkennen, sie als Witzfiguren sehen. Während sie »Nieder mit ihnen« und »Vergeltung, Rache« schreien, rückt Bahattin Güngör als Anführer eines Revolutionskommandos an, um in den Palästen aufzuräumen.

 

Einmal stehen zu bleiben und die Perspektive zu wechseln, dazu rät Wermeling. Das Leben träume sich mit offenen Augen doch viel schöner. Das Schlusswort hat Santiago Österle, der in einem selbst geschriebenen Rap-Text eine Abwärtsspirale beschreibt, in der er gleichwohl die Möglichkeit erkennt, sie aller Entmutigungen zum Trotz auch nach oben zu beschreiten.

 

Für die Mitwirkenden auf der Bühne und hinter den Kulissen gab es bei der Uraufführung stehende Ovationen.

 

 

Mit dem Goldfisch zur Formel 1

von Kathrin Kipp

SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 21.05.2022

 

Uraufführung − Das Reutlinger Theater Tonne begeistert mit Traumgeschichten in großartigen Bildern.

 

Mit »Träume sind Schäume« bietet die Tonne mal wieder ein starkes Stück Inklusivtheater. Gabriele Wermeling assoziiert sich dabei mit traumwandlerischer Ernsthaftigkeit als Conferencieuse durch die Szenen, stellt Fragen und Klugheiten in den Traum-Raum.

 

Es geht um Träume im Schlaf, im Leben und natürlich um Albträume: »Nicht jeder kann einen dicken Goldfisch angeln!«, weiß die Wortführerin, als sich auch schon der Kettenvorhang hebt, und Seyyah Inal als armer Fischer, der keiner sein will, mit seiner Angel im Trübsinn fischt. Aber selbst im schmodderigsten Tümpel tummelt sich beizeiten eine gute Fee, und so zappelt es auch beim armen Fischer an der Leine.

 

Santiago Österle taucht auf und entpuppt sich als glitzernder Goldfisch, der mit seinem Rollwägelchen über die Bühne schlittert, und wie im Märchen Wünsche erfüllen kann. Ein Traum! Und weil der Fischer schon immer mal wie Michael Schumacher Formel 1 fahren und sich von Fans bejubeln lassen wollte, heizen die zwei Traumgestalten in ihren E-Rollis über die Bühne, angestachelt von rasanter Musik, bis das Publikum tobt. Alle sind im Rausch, und der arme Fischer kann wenigstens kurz seinem Lebens-Gefängnis ausbrechen. Manchmal gehen Träume in Erfüllung. Und manchmal halt auch ganz anders, als man denkt.

 

»Unsere Existenz verkommt zu einer quälenden Selbstverständlichkeit«, wenn wir unsere Träume aufgeben, meint Gabriele Wermeling und schickt das Publikum ebenfalls durch ein Wechselbad der Gefühle mit ihren abwechselnd inspirierenden, depressiven, sentimentalen oder hoffnungsvollen Ansagen. Und auch Daniel Irschik bringt einen zum Verzweifeln, als er seiner Angebeteten einen Heiratsantrag macht und einfach nur dasteht, mit seinem goldenen Harnisch und den Rosen. Die Geliebte ist nämlich eine sehr hartherzige Dame, ganz aus Holz, eine stumme Puppe, die von Anne-Kathrin Kilgus geführt wird und sich prompt vom Rosenkavalier abwendet. So viel Kälte! Daniel Irschik ist pure Enttäuschung. »Ich liebe Dich doch!«. Alle anderen versorgen ihn mit weiteren Ritterrüstungsteilen gegen den Schmerz. Sehr rührend.

 

Und so geht es wie immer um Liebe, Wahn, Illusion, um Lüge, Traum, Selbsttäuschung. Wer soll da noch durchblicken? »Wenn es uns nicht gut geht, legen wir unser Schicksal in die Hand von Göttern. Und wenn wir sie lieben, müssen sie uns doch auch lieben?«. Schon erscheinen zwei vergessene Göttinnen: Roswitha John als energische, grantige Glitzerheldin schiebt ihren Schwanenthron vor sich her: »Alles muss man selber machen«, schimpft sie.

 

Ihre riesige, kleine Schwester schwebt ganz in Blau ein: Coralie Honl wächst als überdimensionale Königin der Elemente ganz aus sich heraus, das Tonne-Team sorgt auch hier wieder für großartige Bilder und Effekte. Aber alles umsonst – die Menschheit hört nicht mehr auf die Götter, macht sich lieber selbst kaputt. Wäre es da nicht mal wieder Zeit für eine Revolution? Schon tanzt ein Putztrupp unter der Führung von Bahattin Güngör ein, wischt noch mal mit Schwung durch. Schwarze Gestalten in weißen Reifröcken formieren sich in einer bildschönen Performance zu Gruppen, Einzelkämpfern, Kreisläufen. Santiago Österle wiederum beendet den Traumreigen mit einem sanften Rap: »Ich weiß, dass du nur Liebe brauchst«.

 

Unterm Strich

Eine schillernde Szenencollage aus großartigen Bildern, Choreos, Traumgeschichten und verträumten Weisheiten. Yaron Shamir (Regie, Choreo, Bühne), Daniel Tille (Co-Regie, Texte) und Sibylle Schulze (Kostüme) haben mit den charakterstarken Schauspielerinnen und Schauspielern ein vieldeutiges Traumkunstwerk geschaffen.

 

 

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