GEHEIMNIS EINES BILDES

von Armin Knauer

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 07.04.2012

 

Theater - Tonne, Capella vocalis und Casa Magica erwecken da Vincis »Abendmahl« in der Stadthalle zum Leben

 

REUTLINGEN. Ja, was war das nun eigentlich, das da am Donnerstagnachmittag im baustellenmäßig kahlen Foyer der Reutlinger Stadthalle vor sich ging? Ein Oratorium? Ein Mysterienspiel? Eine Multimedia-Performance? Was es auch war, das Tonne-Intendant Enrico Urbanek hier mit Sängern der Capella vocalis und den Computergrafik-Künstlern von Casa Magica inszeniert hat: Es hat berührt und eine tiefe Aura entwickelt. Leonardo da Vincis berühmtes Abendmahl-Gemälde ist in Gesten, Worten, Musik und Bildern behutsam wie eindrücklich zum Leben erweckt worden.

 

Die Idee, mit deiesem Thema aus der Kirche hinauszugehen, kam im Übrigen direkt aus der Reutlinger Evangelischen Kirche selbst, die hier auch Kooperationspartner ist: von den Pfarrerinnen Christina Hörnig, Sabine Großhennig und Sabine Drecoll.

 

SÄNGER, IN LAKEN GEWICKELT

Schon der Beginn erweckt Gänsehaut, Sänger der Capella in Anzügen und in Laken gewickelt, singen sich links und rechts auf den Treppenaufgängen das »Agnus Dei« zu, die gregorianische Anrufung des »Lamm Gottes«, einstimmig, mystisch, archaisch (Einstudierung: Eckhard Weyand). Es ist die gehbehinderte Darstellerin Alfhild Karle, die sich daraufhin mit Gehstützen auf die kahle Fläche des Foyers bewegt und einen Prolog spricht. Klar artikuliert, ein Text, der das Abendmahlgeschehen mit Rilke in die Moderne öffnet und in eine surreale Traum-Vision verwandelt.

 

Hinten ist wandfüllend da Vincis »Abendmahl« eingeblendet und scheint den Foyerraum nach hinten fortzusetzen. Jesus erscheint, einer der Capella-Sänger im Anzug. Er schreibt die Namen der Jünger auf die Betonwände links und rechts, und wie er sie schreibt, verschwinden sie auf da Vincis Bild. Statt ihrer schreiten nun die Capella-Sänger singend die Treppe hinunter, wo sie von Jesus umarmt werden: »Ubi caritas et amor Deus ibi est«, schallt es - wo Güte und Liebe ist, da ist Gott, die Antiphon zur Gründonnerstagsliturgie.

 

Das Foyer wird zum Schauplatz des Abendmahls. Doch nicht Brot und Wein werden gereicht, sondern Äpfel, die Frucht des Sündenfalls, jedem auf Namensruf zugeworfen. Hereingebracht hat sie Ulrike Härter, die hier vielleicht Maria Magdalena darstellt, auf jeden Fall aber für die zentrale Rolle der Frauen im Passionsgeschehen steht: Sie sind es, die Jesus bis unters Kreuz folgen werden, sie werden das Grab leer finden.

 

Es wird kaum mehr gesprochen als wenige originale Sätze aus dem Bibeltext. Dafür erklingt, von den Sängern und der Sängerin a cappella gesungen, Musik. Gregorianische Melodien, kunstvoll geflochtene Motetten der Renaissancezeit, demutvolle Choräle des Barock. »Alle Augen warten auf dich, Herre«, tönt es in den Harmonien von Heinrich Schütz. Es sind die Tenöre und Bässe der Capella, die hier auftreten, samt einem Countertenor, der mit mildem Glanz die Diskantlinien zieht.

 

Es ist stark und eindrücklich, was für einen dichten, charismatischen Klang die jungen Männer schaffen. Klar, hell und strahlend entfaltet sich auf ihrem Fundament die Sopranstimme von Ulrike Härter. Die Musik steigt im nach oben offenen Foyerraum hoch und füllt den Raum mit Wärme und Erhabenheit. Enrico Urbaneks Inszenierung läst diese Erhabenhwit wirken und füllt sie nur sparsam mit eindrücklichen Gesten der Darsteller. In erschrecktem Aufruhr landen alle Äpfel bei Judas dem Verräter.

 

EIN SARKOPHAG AUS TÜCHERN

Später legt Jesus aus den Äpfeln eine Bahn, die er beschreitet. Am Ende hüllen sie ihn in all ihre Tücher, als gelte es, ihn zu behüten. Und doch ist er, in diesem Sarkophag aus Tüchern, nicht mehr von dieser Welt. Auch die Computergrafik mit da Vincis Bild zieht sich zusehends zurück. Nach den Jüngern verschwindet auch der Tisch, es bleibt der leere Raum, und eine Kamerafahrt auf den Hintergrund führt durchs Fenster in eine Landschaft, die seltsam der Achalm ähnelt. Doch auch das ist noch nicht das Ende.

 

Keine Stunde dauert das Geschehen. Und schafft es doch, in dieser Zeit eine dichte Atmosphäre zu erzeugen, die einen tief hineinzieht in das Geschehen - und dabei das ganze Geheimnis dieses Mysteriums offenhält.

 

Am heutigen Ostersamstag sind noch drei Aufführungen angesetzt, die jedoch alle bereits ausverkauft sind. Die Darsteller sind: Anselm Bieber, Matthieu Binder, Tobias Enke, Mathias Franke, Ulrike Härter, Florian Hartmann, Alfhild Karle, Christopher Kimmig, Simon Nesper, Matthias Renz, Willi Roesner, Thomas Roth, Paul Schenk, Florian Schmid, Tobias Schucker, Moritz Tempel, Simon Ulmer und Johannes Wollasch.

 

 

DER APFEL DER ERKENNTNIS

von Kathrin Kipp

REUTLINGER NACHRICHTEN, 07.04.2012

 

Nein, sie ist noch nicht eröffnet. Dennoch ist die Stadthalle nun schon künstlerisch geweiht - mit dem Abendmahl-Projekt »Bin ichs? Leonardo Ma(h)l in Szene«: die Passionsvesper als Kunst-Event auf der Baustelle.

 

REUTLINGEN. Passend zur Karwoche: Dauerregen. Die Jünger der Kunst stapfen durch die Dreck-Pfützen in Richtung unfertige Stadthalle. Denn die wurde in der Karwoche schon mal vom Tonne-Theater, dem Männerchor der capella vocalis, der Evangelischen Kirche Reutlingen und der Casa Magica in Beschlag genommen.

 

Vielleicht, weil sie sich die zukünftige Kathedrale der Kunst im fertigen Zustand nicht mehr leisten können? Jedenfalls sahen die Macher eine schöne Verbindung zwischen Gründonnerstag, Leonardo da Vincis legendärem Abendmahl-Gemälde (um das sich viele Gerüchte ranken) und der Rohbau-Optik der neuen Stadthalle (um die sich ja ebenfalls Gerüchte ranken). Und die in ihrer derzeitigen Betonnacktheit durchaus an die architektonische Gestaltung der Abendmahls-Halle auf Leonardos Wandbild erinnert.

 

Das Reutlinger Abendmahl-Kunst-Konsortium wiederum holt das letzte Mahl Jesu mit seinen Freunden auch ganz praktisch nach Reutlingen: Denn die Schelme der Casa Magica, die das Gemälde an eine Stadthallen-Foyer-Wand projizieren, haben nicht nur Maria Magdalena ins Bild geschmuggelt, sondern auch die Achalm in den Hintergrund montiert.

 

Will vielleicht sagen: Golgatha liegt auch auf der Achalm. Und so geht es um Verrat, Schuld und Erlösung, aber vor allem geht es bei der »Bin ichs?«-Performance darum, Leonardos Gemälde lebendig zu machen und einen Blick auf die Menschen zu werfen, die in den letzten Stunden bei Jesus waren und sich zu einer Art Abschiedsessen versammelten.

 

Genau diese andächtige Vorabend-Atmosphäre und Abschieds-Stimmung trifft der Jünger-Chor der capella vocalis (Leitung: Eckhard Weyand) mit seinen feierlichen gregorianischen Gesängen. Auch wenn die Jünger noch gar nicht wissen, was auf sie zukommt.

 

Auf Leonardos Gemälde verkündet Jesus gerade, dass einer der anwesenden Jünger ihn verraten wird. Das ist natürlich ein starkes Stück, alle sind ganz aufgeregt und fragen: »Bin ichs«". Oder ist es ein anderer? Hände zeigen in alle Richtungen. Beim Abendmahls-Event in der Stadthalle wiederum sind die Jünger ganz feierlich unterwegs, als sei ihnen die Tragweite des Abends durchaus bewusst.

 

Und so versetzen sich die jungen Sänger der capella vocalis in die Jünger auf dem Bild hinein (Regie: Enrico Urbanek). Zunächst gibt es aber brillanten Chorgesang von den Emporen der Baustelle, mit einer Motette von Thomas Selle.

 

Die capella vocalis ist sowieso immer ein Erlebnis, aber im Rahmen dieser Baustellen-Passionsgeschichte wirkt die Tenor- und Bass-Abteilung mit ihren Chorälen und Hymnen ganz besonders elysisch. Tiefgründig und erhaben zugleich. Alfhild Karle zitiert derweil Rilkes »Abendmahl«: »Sie sind versammelt, staunende Verstörte.«

 

Dann schreitet der Menschenfischer die Treppe herunter, geht zum Wandbild, markiert jeden einzelnen seiner Jünger mit einem Lichtkegel und schreibt deren Name menetekelhaft auf die nackte Betonwand, bevor er die entsprechende Figur auf Leonardos Gemälde verschwinden lässt. Am Ende sind nur noch Jesus und Judas übrig. Aber auch sie werden ersetzt durch die jungen Sänger, die nun einzeln begrüßt werden.

 

Jesus teilt mit der Christengemeinde nicht nur sein Leib und sein Blut, sondern verteilt in diesem ganz speziellen Fall Äpfel, die Urfrucht der Erkenntnis. Und des Verrats. Die Jünger schwören Treue, sind später aber bekanntlich die ersten, die flüchten, als es brenzlig wird. Und sie singen ihre passionsrituellen Weisen. Psalmen. Gebete. Zeitgenössisches.

 

»Wahrlich ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten«, sagt Jesus, und Judas beißt in dem Moment in den Apfel. Alle sind ganz erschrocken, laden Judas die Äpfel auf, bilden einen Kreis und tuscheln.

 

Jesus nimmt Judas die Äpfel ab und offenbar auch die Schuld, auch wenn er findet, dass dieser Mensch besser »nie geboren« wäre, auch wenn gilt: Ohne Judas keine Kreuzigung und keine Auferstehung. Es braucht eben immer einen Gegenspieler.

 

Und eine funktionierende Gemeinde braucht vor allem die Frauen. So taucht auch noch Maria Magdalena auf, singt wunderschön und wickelt den Menschensohn in die weißen Gewänder der Jünger, die ihrerseits die Jünger auf dem Bild ersetzen: Die Passionsgeschichte nimmt ihren Lauf.

 

 

Zurück