Teufelchen im Ohr

von Christoph B. Ströhle
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 10.03.2018

 

Theater – Marion Schneider-Bast bringt Ingrid Lausunds Monolog-Sammlung »Bin nebenan« geistreich auf die Tonne-Bühne

 

REUTLINGEN. Gerade noch hat man herzlich gelacht, da hat man auch schon den ersten Kloß im Hals. Nicht zum letzten Mal an diesem Abend. Virtuos spielen Regisseurin Marion Schneider-Bast und die Schauspieler Robert Atzlinger, Ina Fritsche und Steffen Happel in Ingrid Lausunds Stück »Bin nebenan« auf der Klaviatur der Empfindungen ihrer Zuschauer.

 

Die Textvorlage der gebürtigen Ingolstädterin Ingrid Lausund, die unter dem Pseudonym Mizzi Meyer auch Drehbücher schreibt (»Der Tatortreiniger«, »Er ist wieder da«), ist stark. Wie die Beteiligten das Ganze im Reutlinger Tonne-Theater im Spitalhofkeller umsetzen, muss man schon kongenial nennen. Am Donnerstag war Premiere, das Publikum zeigte sich schwer begeistert.

 

Es sind Menschen aus Fleisch und Blut, die einem da auf Sofas gegenübersitzen und einen Einblick in ihren Wohnzimmeralltag geben. Fast so, als glotze der Fernsehapparat mal zurück und zeige die großen und kleinen Dramen der Zuschauer, ihr Ringen ums Selbst, gegen ihre Dämonen und für ein entspanntes Zuhause-Gefühl, das sich allerdings nicht einstellen will. Extrem komisch sind ihre Monologe, tragisch und manchmal beides, doch immer so, dass man als Zuschauer involviert ist, teilnimmt an dem, was da gesprochen wird.

 

Befreiende Komik

Beispielsweise, wenn Robert Atzlinger als stilrenitenter Konsument versucht, seinen Rest an Individualität gegenüber den Marktforschern zu behaupten, die alles, was ihm gefällt, vorausberechnen können. Am Ende stellt sich heraus, dass der Hang zum Individuellen für seine Zielgruppe typisch ist – genau wie der rebellische Impuls, gerade das nicht zu kaufen, was ihm eigentlich gefällt, nur um der Marktforschung eins auszuwischen.

 

Mit großer Eindringlichkeit verkörpert Atzlinger auch einen zunehmend der Demenz anheimfallenden Professor im Ruhestand. Das Publikum musternd stellt er fest, dass der Altersdurchschnitt für Studenten doch eher hoch ist. Eine »vorzeitliche Höhlenästhetik« meint er in den Räumlichkeiten des Tonnekellers zu erkennen.

 

Diese zum Lachen animierenden Momente befreiender Komik können und wollen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass da einer dabei ist, seine komplette Orientierung nach innen wie nach außen zu verlieren. Die ihm anfangs noch routiniert über die Lippen gehenden Worte und Begrifflichkeiten zerbröseln ihm beim Sprechen. Einen Plan A und B, was zu tun ist, wenn er seinen eigenen Namen nicht mehr weiß, kann er, misstrauisch geworden, nicht mehr ausführen.

 

Ina Fritsche gibt eine Frau im mittleren Alter, die einfach nur so auf dem Sofa sitzen will, aber immer von ihrer übermächtigen Mutter geplagt wird. Einer Mutter, die gar nicht mehr unter den Lebenden sein muss, um ihr überall reinzureden (»... und dieser Mann, mit dem du zusammen bist...!«) und alles, was sie tut, schlechtzumachen. Dabei ist die Stimme der Mutter nicht die einzige, die sie stört. In einem Akt kreativer Selbstbefreiung bannt sie die zerstörerischen Kräfte. Hinreißend gespielt ist das von Fritsche; Atzlinger und Steffen Happel geben mit großer Nonchalance die heiligtuerischen Teufelchen in ihrem Ohr.

 

Der Clou in Schneider-Basts Inszenierung ist zweifellos, dass die Monologe nicht einfach so nebeneinander stehen beziehungsweise nacheinander präsentiert werden. Sie sind vielmehr prägnant und geistreich ineinander verwoben, ohne dass die Klarheit verloren geht.

 

Chorisches Sprechen gehört ebenso zu Schneider-Basts wunderbar funktionierenden Einfällen wie ein Springen im Skript und ein gegenseitiges Sich-Unterbrechen. Die Figuren sind stets für sich – und doch Teil eines komplexen Ganzen. Dass die Schauspieler Regieanweisungen wie »Schweigen« (in einem Dialog) aussprechen, wirkt ebenso verschroben wie passend.

 

Steffen Happel gibt in einem der fünf ausgewählten Monologe einen jungen Mann, der sehnsüchtg auf die Gelegenheit hofft, den Pflegeeltern, die ihn nach mehrwöchiger Probezeit wieder zurück ins Heim gaben, zu beweisen, dass etwas aus ihm geworden ist. Man will ihn spontan in den Arm nehmen und ihm aufmunternd zureden – so gut spielt er seine Rolle, so authentisch kommt er rüber.

 

Man kann dieser großartigen Produktion nur möglichst viele Zuschauer wünschen!

 

 

Wunschlos unglücklich voller Heimweh daheim

von Matthias Reichert
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 10.03.2018


Premiere – »Bin nebenan« an der Reutlinger Tonne ist ein Parforceritt durch allzumenschliche Befindlichkeiten

 

Tragisch und komisch, ein Parforceritt durch menschlich-allzumenschliche Befindlichkeiten: Das Reutlinger Tonne-Theater brilliert mit »Bin nebenan«. Am Donnerstag war die nicht ganz ausverkaufte Premiere im Spitalhofkeller.

 

Anfangs spielt Robert Atzlinger einen Sofakäufer, der den Vorhersagen der Marktforscher nicht entrinnen kann, auch wenn er genau das Gegenteil tut. Zum Brüllen. Outet er sich in der Kundenbefragung als Serienmörder, wird ihm das als kreatives Selbstbewusstsein ausgelegt. Atzlinger glänzt auch als demenzkranker Professor, der das Theater mit dem Hörsaal verwechselt. Er taxiert das Publkum, holt in seiner Verwirrung die Mäntel aus der Garderobe, setzt immer wieder zu geschliffenen geisteswissenschaftlichen Vorträgen an – und am Ende zerfallen ihm die Worte wie modrige Pilze im Mund, ist er nur noch zu einem stammelnden Dada-Sprech fähig.

 

Ina Fritsche mimt nicht minder spielfreudig eine gescheiterte Künstlerin, die als Kellnerin jobbt und von besseren Tagen träumt. Sie muss sich mit den Stimmen ihrer verstorbenen Mutter und ihres früheren Kunstprofessors auseinandersetzen, die es ja immer schon gewusst haben – gesprochen von den beiden anderen Darstellern. Zuletzt mischen sich noch Che Guevara und Johannes der Täufer in den Reigen der Vorwürfe. Und eine machtlose Therapeutin. Die wird von der Stimme der Mutter zum Teufel geschickt, statt ihrerseits die Mutter aus dem Unterbewusstsein der Frau zu verbannen. Steffen Happel ist dann der groß gewordene Junge einer Alkoholikerfamilie. Drei Wochenenden lang war er als Kind bei einer Pflegefamilie – doch die wollte ihn dann doch nicht. Nun träumt er als Erwachsener immer noch davon, dass die Pflegeeltern zu ihm zurückkommen. Wieder und wieder betont er, wie sehr er sein Leben im Griff habe – und am Ende sieht man, dass unter der gespielten Sicherheit die schiere Verzweiflung wuchert.

 

Nach der ersten Szene, in der Atzlinger auf einem Sofa hockt, schieben die Akteure weitere Sessel herein. Die sind in den folgenden Episoden jeweils bestimmten Figuren zugeordnet. Zu dritt spielen sie zunächst als Gewirr innerer Stimmen die Suche nach dem idealen Daheimgefühl. Alles scheint zu stimmen, aber der innere Computer vermeldet eine unpassende Emotion. Da tickt förmlich eine Bombe im Kopf, doch die Explosion bleibt aus. Noch. Sämtliche alltägliche Handlungen vermögen nicht, den Abgrund unter der spießigen Fassade zu überbrücken. Ein Paradoxon, das jede/r zumindest ansatzweise kennt: wunschlos unglücklich, voller Heimweh auf dem heimischen Sofa.

 

Inferno mit Nagellack

»Monologe für Zuhause« hat Autorin Ingrid Lausund ihr Stück genannt. Die Reutlinger Regisseurin Marion Schneider-Bast, die an der Tonne schon mit ihrer Version von »Anna Karenina« erfolgreich war, hat aus den ursprünglich elf Szenen der Vorlage fünf ausgewählt. Sie montiert die Episoden ineinander. Das funktioniert: Da sucht etwa Atzlinger als Professor nach der richtigen Aussprache des Namens Adorno – und dann hockt er sich auf die Lehne von Fritsches Sessel und ist im nächsten Augenblick die Mutter der Kellnerin.

 

Jede Geste sitzt. Happel muss einen Teil des gut anderthalbstündigen Abends auf seinem Sessel sitzend gelangweilt Türmchen aus Keksen bauen, weil er gerade nicht mitspielt. Aber das macht er virtuos, dass er den anderen fast die Schau stiehlt.

 

Ein Lichtblick zum Schluss: Die verstorbene Mutter hat der gescheiterten Künstlerin früher einen wandgroßen Druck von Michelangelos »Jüngstem Gericht« geschenkt. Zuletzt schüttet die Protagonistin Nagellack über das Werk und richtet so ein kunsthistorisches Inferno an. Genau damit schafft sie zuletzt doch noch etwas ganz Eigenes. Großes Kino.

 

Unterm Strich

Regisseurin Marion Schneider-Bast bringt die ohnehin starke Vorlage kreativ und kongenial auf die Bühne. Die Darsteller hängen sich mit Verve rein, allen voran Robert Atzlinger. Jede Geste sitzt, die Montage funktioniert – und das Lachen bleibt den Zuschauern immer wieder im Halse stecken.

Zurück