Tanz auf dem heißen Vulkan

von Jürgen Spieß

REUTLINGER NACHRICHTEN, 14.12.2022

 

Reutlingen – Die Tonne feierte mit einer großen Produktion von »Cabaret« eine umjubelte Premiere. Eine Musikrevue, die in den 1930er Jahren spielt.

 

Musicals in der Tonne sind ja eher die Ausnahme: Dass das Reutlinger Theater auch vor schweren Brocken nicht zurückschreckt, zeigte es am Donnerstag bei der Premiere von »Cabaret« unter der Regie von Irfan Kars. Die vor 50 Jahren als Kinofilm bekannt gewordene Musikrevue entführte das Publikum mit enormem personellen Aufwand in ein Berlin zu Beginn der 1930er-Jahre.

 

»Cabaret«, das Musical von John Kander (Musik), Fred Ebb (Text) und Joe Masteroff (Buch) lebt vom herben Kontrast zwischen sündigen Berliner Cabaret-Nächten der wankenden Weimarer Republik und dem bedrohlichen Milieu des aufkeimenden Nationalsozialismus. Im Mittelpunkt steht der amerikanische Schriftsteller Clifford Bradshaw (solide: Aron Keleta), den es durch eine Zufallsbekanntschaft mit dem Nazi-Anhänger Ernst Ludwig (David Liske) in den Kit Kat Klub verschlägt. Fasziniert taucht er ins Berliner Nachtleben ein und erlebt die fiebrige Suche nach Amüsement als rauschhaften Tanz auf dem Vulkan.

 

Seine Partnerin bei diesem Tanz ist die Nachtclub-Sängerin Sally Bowles, mal rassig, mal zerbrechlich dargestellt von der bezaubernden Bernadette Hug, die in Reutlingen mit Tiefgang und toller Stimme vor allem beim anrührenden »Maybe this time« und bei »Cabaret« überzeugt (Gesangseinstudierung: Ulrike Härter). Sie charakterisiert die in dem mit acht Oscars prämierten Film von Liza Minelli gespielte Sally Bowles mal als unbeschwerte Nachtclub-Diva, mal als verzweifelte Schwangere, der im Angesichts der erstarkenden Nationalsozialisten alle Felle davonschwimmen. Nicht zu vergessen Thomas B. Hoffmann, der den jüdischen Obsthändler Schultz herrlich altmodisch spielt, Sabine Hollweck als strenge Pensionswirtin Fräulein Schneider und Sarah Kreiß als Männer verschlingende Fräulein Kost, die ihre Rollen mit Bravour ausfüllen.

 

Getoppt werden sie alle aber von dem ehemaligen LTT-Schauspieler Jonas Breitstadt als androgynem Conférencier, der mit Mephisto-Maske und Stöckelschuhen so spielfreudig und souverän agiert, als habe er sein Leben lang auf diese Rolle gewartet. In »Money makes the world go round« beweist er mit den Club-Girls zudem noch tänzerische und in seinen Zwischenmoderationen kabarettistische Klasse. Überhaupt zeigt sich das rund 30 Akteure umfassende Ensemble gesanglich und tänzerisch erstaunlich reif. Ein Augenschmaus, die sieben mit Strapsen und Federboas herumwirbelnden Tänzerinnen plus einem Transvestit (Choreographie: Corinna Roesener), die gleich zum Auftakt den »Kit Kat Klub« mächtig aufmischen.

 

Ein Hingucker auch das Bühnenbild von Ausstatterin Sibylle Schulze. Während das Publikum quasi mitten im Kit Kat Klub sitzt und wiederholt ins Spiel einbezogen wird, ist das Pensionszimmer der beiden Hauptdarsteller in den hinteren Teil der Bühne verlegt, wodurch der räumliche Abstand – vor allem zum hinten sitzenden Publikum – leider etwas groß gerät. Insgesamt 85 verschiedene Kostüme kommen zum Einsatz, bei denen Sibylle Schulze auf den Fundus des Reutlinger Naturtheaters zurückgreifen konnte, das »Cabaret« 2016 schon einmal aufgeführt hat.

 

Daneben überrascht das Musical mit einigen schönen Ideen. Das fängt mit einem traumverlorenen Diversitätsauftritt mit dem Conférencier und einem tanzenden Gorilla an, das setzt sich in Szenen fort, die den Riss durch Beziehungen und die Gesellschaft durch den NS-Spuk offenlegen. Zusammen mit den inklusiven Darstellern, die als Matrosen, Taxifahrer und Zigarren rauchender Kit-Kat-Chef überzeugen, gelingt eine zweieinhalbstündige, niemals langweilige Show, die mehr als nur »Fun« und Oberflächlichkeit bietet. Das Stück spricht für sich, hier müssen keine von (Neo-)Nazis eingeschlagenen Fenster beim Berliner Türken nachhelfen.

 

Da zudem die Hauptrollen durchweg gut besetzt, die Choreografien stimmig sind und die fünfköpfige Band (musikalische Leitung: Maciej Szyrner) so intonationssicher wie einfühlsam begleitet, gibt es für das Reutlinger »Cabaret« bei der Premiere zu Recht viel Beifall und zum Teil stehende Ovationen.

 

 

Amüsement mit bitterem Geschmack

von Christoph B. Ströhle

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 7.12.2022

 

Musical – Die Tonne erzählt in »Cabaret« eindringlich vom Berlin der frühen 1930er-Jahre. Ein Riss geht durch die Gesellschaft

 

REUTLINGEN. Das sündige Berlin der frühen 1930er-Jahre bringt das Theater Die Tonne mit »Cabaret«, seiner vermutlich bislang größten Produktion, auf die Bühne. Da gibt es anfangs gleich anzügliche Tänze der Kit-Kat-Klub-Mädels und zotige Moderationen des Conférenciers. So richtig will man die »Holz vor der Hütten«- und »… läutet ihre Glocken«-Sprüche im Zeitalter von Emanzipation und MeToo allerdings nicht mehr hören.

 

Besonders eindringlich ist das Stück, ist die Aufführung, wie die Vorpremiere im Rahmen der Reutlinger Theateroffensive am Montagabend zeigte (die Premiere ist am Donnerstag), wenn es darum geht, den Wandel einer Gesellschaft angesichts einer erstarkenden politischen Rechten aufzuzeigen. Die Nationalsozialisten stehen kurz vor der Machtübernahme und die Menschen müssen sich, ob sie nun wollen oder nicht, dazu verhalten.

 

Da geht ein plötzlicher Riss durch eine deutsch-jüdische Verlobungsfeier, die so unbeschwert begonnen hat. Ein Amerikaner, der von Berlin aus für Geld einen Botengang nach Paris gemacht hat, ohne sich für die Hintergründe zu interessieren, erkennt, für wen er da Dokumente über die Grenze geschafft hat: Menschen, die alles, was nicht deutsch ist, für minderwertig erachten.

 

Nazis als Nachbarn

 

David Liske spielt den anfangs so freundlich erscheinenden Ernst Ludwig, der bei der Feier stolz seine Hakenkreuzbinde zur Schau trägt und in Fräulein Kost (Sarah Kreiß) eine Gesinnungsgenossin findet. Dabei war man als Zuschauer gerade noch geneigt, sie als komödiantische Figur zu verbuchen, die mit ihren gewerbsmäßig getakteten Männerbesuchen gegen Bezahlung Pensionswirtin Fräulein Schneider allenfalls sittlich herausfordert.

 

Trotzig, mit satirischen Mitteln und mit Galgenhumor sieht man den von Jonas Breitstadt nicht zuletzt mit vielsagenden Blicken verkörperten Conférencier die gesellschaftliche Entwicklung spiegeln und gleichzeitig Werte wie die Diversität und dass jeder nach seiner Fasson glücklich werden soll, hochhalten. Etwa wenn er singt »Säh’t ihr sie mit meinen Augen« und dabei von einer Gorilla-Frau umtanzt wird.

 

Er und Sally-Bowles-Darstellerin Bernadette Hug, die in Spiel und Physiognomie an die großartige Katharine Hepburn erinnert, geben gesanglich die stärksten Vorstellungen. Wobei auch die anderen Schauspielerinnen und Schauspieler überzeugend singen (Gesangseinstudierung: Ulrike Härter) und agieren: Aron Keleta als amerikanischer Schriftsteller Clifford Bradshaw (nicht zuletzt im Duett mit Hug), Kreiß und Liske, Thomas B. Hoffmann als jüdischer Obsthändler Schultz, der rührend um die Gunst von Pensionswirtin Schneider wirbt und die nationalsozialistischen Umtriebe für eine vorübergehende Erscheinung hält, und auch Sabine Hollweck als ebendiese Frau Schneider, der erschreckend bewusst wird, dass die Nazis ihre Freunde und Nachbarn sind. Was, wenn sie auch noch regieren?, fragt sie bang.

 

Wenn Hug besonders beeindruckend Amüsement mit bitterem Geschmack »Maybe This Time« singt, charakterisiert sie Sally Bowles als »manisches Fee-Traummädchen« (Manic Pixie Dream Girl), wie dieser Figurentypus im Englischen genannt wird. Man nimmt ihr ab, dass Politik in ihrer Welt keine maßgebliche Kategorie ist. Sie bleibt in Berlin, auch als der Mann, dem sie gerade noch so innig zugeneigt war, Clifford Bradshaw, Deutschland den Rücken kehrt, weil er den Nazis nicht traut.

 

Packende Musik und Tänze

 

Auch hier geht also ein Riss durch eine Beziehung. Die allerdings in Bradshaws Schreiben – und dafür kamder Schriftsteller nach Berlin – eine Erinnerungsräume schaffende Verlängerung findet. In Irfan Kars’ Inszenierung des Musicals von John Kander (Musik), Fred Ebb (Liedtexte) und Joe Masteroff (Buch) nach einem Schauspiel von John van Druten (basierend auf zwei autobiografischen Romanen von Christopher Isherwood) sieht man die Figuren als literarisch gewordene Gestalten auf die Bühne zurückkehren und hört sie Sätze sagen, die wie ein Echo nachhallen.

 

Mit Liebe zum Detail sind Bühne und Kostüme (Ausstattung: Sibylle Schulze) im Stil der frühen 30er-Jahre gestaltet. Corinna Roesener hat mit sieben Tänzerinnen und einem Tänzer packende Choreografien erarbeitet. Das inklusive Ensemble der Tonne bringt sich ebenso lustvoll ein wie eine von Maciej Szyrner geleitete Combo, die bei der von Ragtime und frühem Jazz inspirierten Musik und den revueartigen Nummern keine Wünsche offenlässt.

 

Ein wenig bedauerlich ist, dass sich manches vom Schauspiel im hinteren Bühnenraum abspielt, wodurch die Distanz zum Publikum unnötig groß ist. Andererseits nehmen die Kit-Kat-Klub-Mädels an einer Stelle im Stück unmittelbar Kontakt mit den Zuschauerinnen und Zuschauern auf. Bei der Vorpremiere wurden die Mitwirkenden des mit Pause zwei Stunden und 45 Minuten dauernden Stücks, auch das Regieteam, mit lang anhaltendem Jubel gefeiert. (GEA)

 

 

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