Und die Show geht immer weiter
von Matthias Reichert
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 22.4.2023
Premiere – Mit einer tänzerischen und musikalischen Hommage an die Rockband Queen reißt das Tonne-Theater sein Publikum von den Sitzen. Von Matthias Reichert.
Mal was anderes: Tänzerisch, textlich und musikalisch huldigt das Reutlinger Tonne-Theater der britischen Rockband Queen. Den Part von Sänger Freddy Mercury übernimmt Haus-Schauspieler David Liske. Eingangs steht er im Unterhemd da, streift kurzerhand des Sängers Königsmantel über und rezitiert die deutsche Übersetzung von »The Show Must Go On«: »Leere Räume – wofür leben wir?« Das klingt ziemlich traurig – und war es damals auch: Der Song kam 1991 kurz nach dem Aids-Tod des Sängers auf dem postumen Album »Innuendo« raus. Jetzt ist er einer M von einigen Gänsehaut-Momenten im neuen Stück, das am Donnerstag Premiere hatte. Liske knödelt sich tapfer und mit eingängiger Bass-Stimme durch das Repertoire der britischen Band. Er gibt ganz eigene Interpretationen, die glücklicherweise gar nicht erst versuchen, Sängerstar Mercury und dessen Klangvolumen zu imitieren.
Weit mehr als eine Revue
Begleitet wird Liske vom inklusiven Ensemble, das in selbstgeschneiderten Phantasiekostümen zunächst eifrig mitklatscht. Und sie singen auch mit – in den berührendsten Momenten des Abends stimmen die Rollifahrer Seyah Inal und Santiago Österle melodische Queen-Liebeslieder an. »Love Of My Life«, »Too Much Love Can Kill You«, »Somebody To Love«, einfühlsam von Liske am Klavier begleitet und jeweils den Tränen nahe interpretiert, ganz nah am wirklichen Leben. Die Tänzerinnen Justine Rouquart und Simona Semeraro begleiten das mit ausdrucksstarken Bewegungen, mal tröstlich, mal abweisend und immer sehr eigenständig. Choreograf Yaron Shamir gibt dem einstündigen Stück mit seinem ausgeklügelten Tanz-Drehbuch Rückgrat und roten Faden, so dass es weit mehr ist, als nur eine Revue von bekannten Popsongs.
Teils halten die Leute im Publikum den Atem an. Die Tänzerinnen wälzen sich über einen gigantischen, bewegbaren Eisentisch, kreisen im roten und im weißen Kostüm, winden sich mit Breakdance und verleihen den Songs ganz eigene Gesichter. Das Ensemble tanzt emsig mit, fungiert als Hintergrundchor, reckt rhythmisch die Fäuste, macht das Victory-Zeichen in Richtung des Publikums, dreht sich im Gegenlicht und unter gleißenden Scheinwerfern.
Einer lässt Liske und die anderen mit vorgehaltener Pistole den Kultsong »Bohemian Rhapsody« anstimmen. Zu »Bicycle-Race« starten sie ein drolliges Wettrennen mit Rollis und Fahrrädern, Klingelkonzert inklusive. Zu »I Want To Break Free« kopiert Bahattin Güngör mit Schlafrock, Frisierhaube und Staubsauger Mercurys Travestie-Nummer aus dem damaligen Video zum Song. Danach leuchten rote Perücken auf allen Köpfen des Ensembles in hellen Overalls (Kostüme: Iskra Jovanović-Glavaš).
Zwischen den Tour-Koffern
Teils kommt die Musikbegleitung vom Band, gelegentlich ist auch Mercury himself zu hören. Ansonsten spielt Liske recht virtuos den Klavierpart. Den Gesang samt Musikdramaturgie hat Ulrike Härter einstudiert und gecoacht. Shamirs Bühnenbild besteht neben dem erwähnten Universal-Tisch aus einem seitlichen Podest mit dem Flügel und am Eingang aufeinandergestapelten Tour-Koffern. Die Reihung der Songs und Tanzeinlagen soll das Auf und Ab im Leben eines Rockstars versinnbildlichen, hatte der Choreograf angekündigt. So heißt es am Ende wieder »The Show Must Go On«, diesmal aber gesungen. Schlusspunkt und Zugabe ist, was sonst, »We Are The Champions«.
»Champions« ist diese Hommage auch betitelt, und die wahren Champions stehen hier auf der Bühne, jeder und jede mit ganz eigenen Talenten und Fähigkeiten. Am Ende sind sie völlig außer sich, schwenken die Fäuste und juchzen vor Glück. Das Publikum spendet nach den meisten Songs Szenenapplaus, teils sind laute Jubelrufe zu hören, und am Ende gibt es stehende Ovationen. Man muss kein Prophet sein, wenn man voraussagt, dass dieses Stück eines der gefragtesten in der aktuellen Saison des Reutlinger Theaters werden wird.
Unterm Strich
Wer da nicht wenigstens im Takt mitwippt, ist aus Stein: ein musikalisch und tänzerisch rundum geglückter Abend über eine vormalige Kultband, der selbst das Zeug hat, Kult in Reutlingen zu werden.
Königliche Musik für ein Ensemble aus Siegern
von Thomas Morawitzky
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 22.4.2023
Bühne – Das Theater Die Tonne bringt grandios die Songs von Freddie Mercury und Queen auf die Bühne
REUTLINGEN. Wer möchte nicht einmal Champion sein? Wann immer ein Song von Queen im Radio läuft, irgendwo, ist es jeder ein bisschen, irgendwie. Freddie Mercury sang »We Are The Champions«, und nun singen es die Darsteller im Theater Tonne. »Champions« heißt auch das Stück, das gespielt wird von Menschen mit und ohne Behinderung – und Champions sind sie selbstverständlich alle: Ihre Revue aus Queen-Songs feierte am Donnerstagabend Premiere und war ein kleiner Triumph.
Seit 20 Jahren schon gibt es an der Tonne eine Gruppe, die aus Menschen mit Behinderungen besteht. Sie stammen aus unterschiedlichen Orten, erhalten am Theater zwei Mal in der Woche Schauspielunterricht, lernen Stimmbildung, Improvisation, Text- und Bewegungsarbeit, vieles andere – und beginnen ihr Training immer mit einer Wunschmusik. Und oftwar das die Musik von Queen und sorgte für Euphorie bei den Proben. Der nächste Schritt schien naheliegend.
Choreograf Yaron Shamir, mit dem die Tonne regelmäßig zusammenarbeitet, unternahm ihn, gestaltete einen Abend, bei dem David Liske als Musiker und Sänger einiger Queen-Songs auftritt, bei dem die Mitglieder des integrativen Ensembles aber nicht minder zu Geltung kommen. Bei dem sich ihre Begeisterung den Zuschauern in jedem Augenblick ganz mitteilt – und der den Liedern und Texten von Freddie Mercury ganz neue emotionale Dimensionen erschließt. Mercurys Schmerz, seine Schwärmerei, sein Pathos und seine Hingabe ans Leben werden ganz zu dem ihren.
Bilder aus Gesang und Tanz
Haydar Baydur, Eugen Blum, Dunja Fuchs, Bahattin Güngör, Nina Hoehne, Seyyah Inal, Daniel Irschik, Roswitha John, Alfhild Karle, Anne-Kathrin Killguss, Santiago Österle, Antje Rapp, Andrea-Sophie Richter und Jochen Rominger singen, tanzen, erschaffen gemeinsam Szenen und Bilder. Zuerst tritt der Schauspieler und Musiker Daniel Liske auf, geht über die Bühne, findet den roten Mantel, den ein König dort vielleicht vergessen hat.
Liske spricht einen Songtext in deutscher Übersetzung: »In der Dunkelheit sehne ich mich danach, frei zu sein. Die Show muss weitergehen, auch wenn mir das Herz innerlich zerbricht. Meine Seele ist bemalt wie Schmetterlingsflügel. Märchen von gestern können erwachsenwerden, aber niemals sterben.«
Und schon klatschen die Hände den Rhythmus zu »We Will Rock You«, alle Darsteller sind auf der Bühne, tragen Jeansjacken, später dann silberne Overalls – Iskra Jovanović-Glavaš schuf die Kostüme. Drei Rollstühle wirbeln umher in einer Choreografie; die zwei Tänzerinnen Justine Rouquart und Simona Semeraro tanzen grazil, ausdrucksstark. Eine große Tafel aus Metall, ein Tisch, an dem Ritter speisen, wird herbeigerollt; eine Frau im roten Kleid tritt auf; David Liske setzt sich an den Flügel.
Große Augenblicke
Bei »Living On My Own« hört man Freddie Mercury im Originalton; zur »Bohemian Rhapsody« tritt ein Mann in Schwarz vor und zielt auf den Pianisten. Große Augenblicke entstehen, wenn Seyyah Inal im Rollstuhl »Love Of My Live« singt und eine Tänzerin ihn umkreist, wenn Seyyah Inal und Santiago Österle »Who Wants To Live Forever« singen.
Und wenn Bahattin Güngör schließlich auftritt, sehr keck mit dem Staubsauger tanzt, Freddie Mercurys Auftritt im Video zum Queen-Song »I Want To Break Free« nachstellt und das Ensemble dazu mit pink leuchtenden Perücken und Staubwedeln tanzt – dann ist kein Halten mehr, auf der Bühne und im Publikum. »Champions« bringt in rund 60 Minuten die größten Hits von Queen auf die Bühne, als eine durchweg erstaunliche, selbstbewusste, humorvolle und anrührende Performance des gesamten Ensembles, als ein Fest der Lebensfreude und Musik. (GEA)
Die Show muss weiter gehen
von Jürgen Spieß
REUTLINGER NACHRICHTEN, 27.4.2023
Kultur – Das Tonne-Ensemble huldigt in »Champions« den Songs der britischen Band Queen.
REUTLINGEN. Die unvergesslichen Queen-Hits bringt das zum Teil inklusive Reutlinger Tonne-Ensemble in »Champions« unterhaltsam und weitgehend handlungsfrei auf die Bühne. Die von Yaron Samir inszenierte Hommage an die legendäre Band beeindruckte bei der Uraufführung vor allem durch die lustvolle Spielfreude der Darsteller.
Das kompromisslose Motto des 1991 mit 45 Jahren verstorbenen Queen-Sängers Freddie Mercury, bleibe unangepasst und koste jeden Moment des Lebens in vollen Zügen aus, scheint das Rezept der neuen Produktion des Theaters Die Tonne. In den gut 70 Minuten wird mit vollem Einsatz gesungen, getanzt, gelitten und das Leben gefeiert. Die 16 Darsteller, darunter Hauptdarsteller David Liske als Mercury und die Tänzerinnen Justine Rouquart und Simona Semeraro, inszenieren sich als lustvolle Rock’n’Roller. Immer wieder bietet diese Musikrevue Jux und Gaudi, lässt aber auch verzweifelte Momente aufblitzen. Liske, der die meisten Songs zu Playback-Musik singt, überzeugt weniger durch seine Stimme als durch Bühnenpräsenz. Er begleitet sich oft selbst am Klavier oder tänzelt über einen langen Tisch, der das spartanische Bühnenbild dominiert.
Das trashige Potpourri überzeugt vor allem emotional und optisch, etwa, wenn das Ensemble mit Dreirädern und Rollstühlen einen abgefahrenen »Bicycle Race« veranstaltet. Mal setzt die Musikrevue ostentativ auf die Stadionstampfer und Brachialhits – »We Will Rock You«, »The Show Must Go On«, »I Want To Break Free« –, dann wieder auf leise Passagen, in denen das Rockevent zum Requiem wird.
Dabei sind es gerade die nachdenklichen Stücke, die berühren: »Too Much Love Will Kill You«, »Love Of My Life« oder die auch schauspielerisch schön umgesetzte »Bohemian Rhapsody«.
Fazit: Diese Queen-Hommage ist ein Rausch aus Bildern, Emotionen, Melodien. Das Publikum honorierte das nach der Uraufführung mit stehenden Ovationen.