Original oder Kopie - oder beides?

von Elke Schäle-Schmitt

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 06.05.2019

 

Theaterpädagogik − Mit einem spartenübergreifenden Tanz-Theater-Projekt betritt das Tonne-Jugendforum Neuland

 

REUTLINGEN. Woran denken Sie beim Wort Copy? An Copy + Paste bei der Computerarbeit? Oder an einen Copyshop voller Fotokopiergeräte? All das spielt eine Rolle beim ersten Tanz-Theater-Stück des Tonne-Jugendforums, mit dem zehn Schülerinnen und ein Schüler verschiedener Reutlinger und Tübinger Schulen am Samstagabend ihre umjubelte Premiere feierten.

 

Die Gedanken, die sich die jungen Akteure zwischen 13 und 18 Jahren unter der Anleitung von Regisseurin Sandra Omlor und Choreografin Katja Büchtemann gemacht haben, gehen jedoch weit über die Büroarbeit hinaus, die einem beim Stichwort kopieren zunächst in den Sinn kommen mag. Lexikonpassagen zur Funktionsweise von Fotokopiergeräten werden zwar auch vorgetragen, doch »Copycat« (englisch für Nachahmer), wie die Jugendlichen ihr selbst entwickeltes Stück genannt haben, befasst sich in eindringlichen Texten und ausdrucksstarken Choreografien mit Kopien aller Art − oder in der Mode etwa.

 

Balance finden

Auch kleine Nebenaspekte wie die ansteckende, zur »Nachahmung« animierende Wirkung von Gähnen oder Lachen werden in den Blick genommen. Nach und nach schält sich so auf der Bühne das Kernthema heraus: die beiden oft unvereinbaren Bedürfnisse, ein einzigartiges Original zu sein, aber auch zu einer Gemeinschaft Gleichgesinnter dazuzugehören. Schließlich ist es eine der schwierigeren Aufgaben im Prozess des Erwachsenwerdens, die Balance zu finden zwischen den einerseits von der Familie vermittelten, »nachgeahmten« Werten oder auch der Anerkennung einer Clique, deren Ausdrucksformen man teilt, und andererseits der Emanzipation von genau diesen Werten und Ausdrucksformen, um zu eigenen Entscheidungen und Maßstäben zu gelangen.

 

Im Tonne-Theater bildet eine Art riesiger Halfpipe den Rahmen, in dem sich die ganz in Schwarz-Weiß gekleideten Tänzerinnen sowie ihr männlicher Kollege mit diesen Themen auseinandersetzen. Das Licht ist geheimnisvoll gedämpft. Mit simplen Mitteln wie zwei Trinkgläsern oder einer Schale voll blubbernder Himbeerbrause und zwei gewöhnlichen Overheadprojektoren rechts und links am vorderen Bühnenrand werden verblüffende, spannungsgeladene Effekte aus den weißen Projektionsflächen der Halfpipe erzeugt.

 

Die »Musik« des Tanz-Theater-Stücks ist nicht immer melodiös. Über weite Strecken wird zu mechanischen oder elektronischen Klängen und Rhythmen getanzt, im Gesamtensemble, in kleineren Gruppen oder auch solistisch. Texte und Sprechgesang werden einzeln, im Chor oder im Kanon vorgetragen. Das alles auf so fesselnde Weise, dass die Zuschauer im voll besetzten kleinen Saal des Tonne-Theaters völlig gebannt wirkten.

 

Einer tanzt aus der Reihe

Ironisch augenzwinkernde, dabei nicht weniger sinnig ausgearbeitete Teile, wie ein Online-Tutorium, mit dessen Hilfe das Tanzen im Gangnam-Style erlernt wird, sorgen dafür, dass die Aufführung nicht zu düster und bedeutungsschwer ausfällt. Und doch wird auch das postwendend gebrochen, indem eine neue spannende Frage aufkommt: wie ist es einzuordnen, wenn die Gruppe plötzlich gemeinschaftlich nach eigenen Regeln tanzt, während ein Einzelner sich weiterhin dem vorgegebenen Bewegungsmuster unterwirft und dadurch an den Rand des Geschehens gerät? »Was du willst, wirst du niemals ergründen, wenn du nur tust, was sich andere wünschen«. So lautet das Fazit des gut einstündigen Stücks, einer starken schauspielerischen und tänzerischen Gemeinschaftsleistung von Lisanne Adler, Josephine Albert, Vivien Beck, Riwalenn Bosch, Clara Göhner, Louisa Mayer, Yara Möck, Katharina Pticar, Ronja Thaler, Lorenzo Tonani und Nathalie Wurm, die vom Publikum mit begeistertem Applaus bedacht wurden.

 

 

Nachahmungstrieb mit Brausepulver

von Matthias Reichert
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 06.05.2019

 

Uraufführung − In »Copycat« inszeniert das Tonne-Jugendforum eine brillante einstündige Chreografie übers Imitieren

 

Während das Publikum den kleinen Saal des Tonne-Theaterneubaus betritt, hockt das jugendliche Ensemble in einem Gestänge im Bühnenhintergrund. Vereinzelt geben sie Geräusche von sich: »Ha«, »ha«, »haha«, »schtttt«. Lichter flackern, ein Soundtrack beginnt wie aus einem ratternden Kopiergerät. Damit ist das Jugendforum des Tonne-Theaters mitten im Thema. Es geht in der neuen Produktion »Copycat« ums Imitieren, Nachahmen, Covern, Klonen, Faken. Daraus haben Dramaturgin und Regisseurin Sandra Omlor sowie die Tübinger Choreografin Katja Büchtemann eine gut einstündige Choreografie entwickelt, die durch Präzision, Spielfreude und viele Einfälle besticht. Am Samstag war die ausdauernd beklatschte Uraufführung.

Sie kopieren zunächst die Tanzschritte der anderen: Drei Finger hoch, erst tanzen alle, dann vier, dann zwei. Alle sind aber die ganze Zeit über auf der Bühne: zwölf Mädchen und ein Junge zwischen 13 und 18 Jahren. Nach der ersten Tanzeinlage hocken sie auf Stühlen im Hintergrund. Schweigen, eine lacht, alle fallen ein, das Ganze wiederholt sich. Zwei Darstellerinnen verteilen bunte Blätter, aus denen das Ensemble eine veritable Papierschlacht entwickelt. »Der andere Körper spiegelt sich in meinem«, sagen sie stakkatoartig auf.

Immer wieder intonieren die jungen Leute eigene Texte zum Thema, die sich teils ziemlich tiefgründig mit gesellschaftlichen Problemen oder Selbstfindung auseinandersetzen. Höhepunkt ist am Ende ein Rap über das Thema, wie junge Leute in einer uniformen Gesellschaft den eigenen Weg gehen.

 

Das Bühnenbild zeigt eine weiße Projektionsfläche. Darauf werfen zwei Overhead-Projektoren Schattenrisse und Bilder. Zunächst legen die Akteurinnen Gitternetze auf den Projektor, später lösen sie ein rotes Brausepulver in einer Glasschüssel mit Wasser auf. Das erzeugt Kunstwerke aus roten Blubberblasen an den Wänden − mit minimalen Mitteln klaustrophobische Kulisse.

 

Sie erzählen auch Trump-Witze, nehmen US-amerikanischen Tanzunterricht zum Hit »Gangnam Style«. Es gibt Kriegsbemalung fürs gesamte Ensemble. Der Barbie-Puppe wird äußerst kritisch zum 60. Geburtstag gratuliert: Sie ziehen Gummihandschuhe an und posen, ein Star wird ausgiebig geföhnt, eine Darstellerin reckt zwei Stinkefinger ins Publikum.

 

Die Akteurinnen und der Akteur hieven einander über den Boden, laufen und tanzen, kreuz und quer. Und die staunenden Zuhörer erfahren sogar, wie Kopiergeräte funktionieren: Die laden sich nämlich über Fotoleiter auf und werden analog belichtet; diese Litanei mit elektrostatischer Ladung dauert. Auch die Disko-Tanzeinlagen gegen Schluss sind vielleicht ein bisschen zu ausgedehnt. Dafür reißen die Texte mit, und die Choreografie ist perfekt. Dieses Stück macht einen Riesenspaß − dem Ensemble und dem Publikum.

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