Ausgefochtene Poesie
von Christoph B. Ströhle
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 14.07.2018
Sommertheater − Die Tonne zeigt Edmond Rostands romantisches Versdrama »Cyrano de Bergrac« open air im Spitalhof
REUTLINGEN. »Ist Ihre Fantasie von Gicht geplagt?«, fragt Roxane den Mann, den sie liebt, als dieser vor ihr steht und nur noch stumpfe Sätze herausbekommt. Sie ahnt zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass er die Briefe an sie gar nicht geschrieben hat, die ihr Herz so für ihn, den schönen Christian de Neuvillette, entflammen ließen. »Wer solche Locken hat, besitzt Vollendung«, schwärmt sie und bezieht das reichlich naiv auf sein ganzes Wesen, den Körper, den Geist und die Seele.
Nun ist Christian zwar ein Heißsporn, aber einer, der es durchaus ehrlich meint mit ihr und sie liebt. Er gibt einen wunderbaren Ehemann für sie ab. weil ihm aber die Worte versagen, er sich selbst gar als argen Dummkopf bezeichnet, hilft nur ein Kniff, um Roxane für sich zu gewinnen. »Ich bin dein Geist, du meine Wohlgestalt«, lässt er sich von Cyrano de Bergerac, Roxanes Cousin, überzeugen. »Zu zweit«, meint dieser, »sind wir ein ganzer Liebesheld«.
Cyrano de Bergerac, der Titelheld in Edmond Rostands gleichnamigem romantisch-komödiantischem Versdrama, hat im Frankreich des 17. Jahrhunderts wirlich gelebt. Er schrieb unter anderem zwei fantastische Romane über Reisen zu Mond- und Sonnenbewohnern. Im Stück, das das Theater Die Tonne als Sommertheater im Spitalhof zeigt − am Donnerstagabend war vielbejubelte Premiere − dient er im gleichen Regiment wie Christian von Neuvillette, bei den Gascogner Kadetten. Hier ist er es, der mit seinen Liebespoemen Roxanes Innerstes berührt, ohne sich jedoch als Urheber der Briefe und Liebender zu erkennen zu geben.
Fechtszenen mit Roxane
Sein »Nasenungetüm« und die Angst vor Zurückweisung halten ihn ab. Als Roxane Cyrano ihre Zuneigung zu Christian gesteht, ist er bereit, diesen zu unterstützen, indem er an seiner Stelle Gedichte schreibt. Er gibt nicht nur den Ghostwriter für Christian, er leiht ihm − in einer schönen Balkonszene − auch aus einem Versteck heraus seine Stimme und hält den mächtigen Konkurrenten um Roxanes Gunst, Graf de Guiche, im entscheidenden Moment so lange auf, bis Roxane und Christian verheiratet sind. Graf de Guiches Rache lässt nicht lange auf sich warten. Und auch Cyranos Gefühle für Roxane sind längst nicht verflogen, was sich in immer neuen Briefen niederschlägt, die scheinbar von Christian stammen.
Regisseurin Stephanie Rolser und dem Tonne-Team ist ein wunderbarer Theaterabend gelungen, der Edmond Rostands 1897 in Paris uraufgeführtem Versdrama vollauf gerecht wird, obwohl es ein paar Änderungen gibt. Das Figurenpersonal ist auf fünf Charaktere verdichtet. auch beginnt in der von Rolser und Tonne-Dramaturgin Karen Schultze erstellten Textfassung das Stück mit der Szene, in der Cyrano tödlich verwundet seine Gefühle für Roxane nicht mehr verbergen kann. Das bisherige Geschehen entfaltet sich daraufhin in Rückblenden, die Roxane erzählend miteinander verbindet. Nina-Mercedés Rühl füllt diese Rolle mit liebenderWehmut und großer Leidenschaft aus. An den von Heiner Kock (Christian de Neuvillette) virtuos choreografierten Fechtszenen ist auch sie beteiligt − nach der Pause ist sie als Roxane in einer Hosenrolle zu sehen.
Die Übersetzung von Ludwig Fulda findet Verwendung. Sie beinhaltet heute nur noch selten zu hörende Begriffe wie »Laffe« oder »Geck«. Dass das Ganze poetisch, romantisch und so überaus lebendig und frisch wirkt, ist der Regisseurin, den Schauspielern und der von Andrej Mouline live auf der Bühne gespielten Musik zu verdanken. Seine Akkordeonklänge spitzen das Geschehen auf der von Stephanie Rolser luftig gestalteten Bühne zu, lassen Momente aufblühen oder katapultieren die Zuschauer regelrecht in Welten, in denen die Uhren gefühlt für einen Moment stillstehen. Die stärkste Szene in dieser Hinsicht ist eine Art Fechtballett, das den verstorbenen Christian de Neuvillette, um den alle trauern, noch einmal zurückbringt. Das melancholische, gleichzeitig Trost spendende Lied zu Beginn haben Sebastian Hammer und Regieassistent Tristan Linder einstudiert beziehungsweise arrangiert. Es verstärkt die dem Stück innewohnende Poesie.
Robert Atzlinger gibt einen gleichermaßen selbstkritischen wie wortfechtend-gewitzten und verzweifelten Cyrano. Heiner Kock darf als Christian durch und durch Mann sein, mit allen Widersprüchen. Wolfgang Grindemann stellt als Le Bret dem innerlich blockierten Cyrano die richtigen Fragen, und Sebastian Hammer hat als Graf de Guiche wirklich starke Auftritte. Das Stück ist noch bis 5. August open air im Spitalhof zu sehen.
Dichtest du noch oder lebst du schon?
von Kathrin Kipp
REUTLINGER NACHRICHTEN, 14.07.2018
Im Krieg und in der Liebe sind bekanntlich alle Mittel erlaubt. Deshalb lässt sich der schöne, rhetorisch aber leicht eingeschränkte Christian seine Liebesbriefe von Ghostwriter Cyrano schreiben. Seine angebetete Roxane lässt sich von den vollendeten Mailings schwer beeindrucken. Der poetisch hochbegabte, aber mit einer großen Nase belastete Cyrano wiederum lässt sich vor lauter Komplexen in ein eher passives Liebesleben drängen. Und der böse Graf lässt seinen Nebenbuhler kurzerhand an die Kriegsfront versetzen.
Briefgeheimniskomödie
Die Tonne bringt dieses Jahr die neoromantische Briefgeheimniskomödie „Cyrano de Bergerac“ nach Edmond Rostand von 1897 auf die Sommertheater-Bühne im Spitalhof. Eine perfekte Umgebung für ein Stück, in dem die Briefe und Gefühle nur so flattern und in dem sich der streitbare und freigeistige Musketier Cyrano vor der Fachwerkkulisse mit jedem Dahergelaufenen ein Degenduell liefert. Als Ersatz für die genretypischen Mäntel flattern hier überall sommerlich weiße Vorhänge im Wind (Regie und Ausstattung: Stephanie Rolser), während ein Musiker (Andrej Mouline im Wechsel mit Igor Omelschuk) mit seinem Akkordeon jede Menge Action, Drama und französische Wehmut produziert. Unglaublich, wie viel Stimmung und Atmosphäre er aus seinem Instrument herausholt, wie er Gefechte und Spannung anheizt. Und wie er die Dramatik zuspitzt, wenn am Ende Roxane und die drei Kavaliere aufeinandertreffen, um ihre komplizierten Liebes- und Machtverhältnisse zu verhandeln, während der Feind schon im Anmarsch ist: großes Kino. Einfache Mittel – starke Wirkung.
Erzählt wird die Geschichte aus dem Nachhinein: Cyrano ist gerade am Sterben, hat aber immer noch die Energie für ein paar wohlformulierte Reime. Roxane erkennt in ihm endlich den Verfasser der Liebesbriefe von damals. Und weiß dann erst recht nicht mehr, wen oder was sie vor 15 Jahren eigentlich geliebt hat. Die schönen Reime von Cyrano oder deren schöne Hülle in Form von Christian? Oder keinen von beiden oder beide im Doppelpack? Und wieder einmal erscheint die Liebe als bloßes Produkt unserer romantischer Fantasien und süß formulierter Lügen. Vor lauter Rhetorik wird hier kaum wirklich miteinander geredet. Cyrano wiederum erachtet sich wegen seines Makels als der Liebe nicht würdig und verzichtet großmütig, damit er ja nicht auf die Nase fällt. Christian wiederum findet, dass man dem Geliebtwerden ruhig etwas künstlich nachhelfen kann und die kesse Roxane quält die Männer mit ihren hohen Ansprüchen: Sie will immer alles und zwar sofort und das soll dann auch noch gut aussehen. Der schlimme Graf wiederum versucht, sie mit Intrige und dem Ausspielen seiner Macht an sich zu binden, wird aber hinters Licht geführt. Und so werden hier alle möglichen Spielarten der Balz durchgespielt, angereichert mit klassischen Männersachen wie Ehre, Tapferkeit, Rache, Stolz, Eifersucht, Ritterlichkeit und nicht eingestandenen Gefühlen – alles eben, was das Leben noch komplizierter macht.
Ensemble in Lederhosen
Das Ensemble in Lederhosen und luftig weißen Musketier-Hemden bringt all diese tiefen Gefühle, aber auch die Situationskomik, die betörende Rhetorik, die Fechtchoreos und die legendäre Balkonszene hervorragend auf die Bühne: Allen voran der stolze Cyrano, der keines Herren Diener sein will, und der nicht nur eine große Nase hat, sondern auch eine große Schnauze: Robert Atzlinger reimt, was das Zeug hält, gibt seinen Degenhelden so draufgängerisch wie verletzlich, macht auf mutig und hat dann doch so viel Angst vor der Liebe, konzentriert sich deshalb ganz aufs Kämpfen und Dichten. Heiner Kock als Playback-Romeo soll möglichst wenig eigenen Text sagen, kann dafür aber wunderbar schön dreinblicken und im Gefecht seine Gelenkigkeit unter Beweis stellen.
Nina-Mercedés Rühl wiederum spielt ihre Roxane so großartig forsch, dass die Männer schnell mal überfordert sind. Dafür wird sie als Projektionsfläche derer geistigen Ergüsse missbraucht. Auch sie selbst ist ganz groß im Verdrängen der Wirklichkeit. Wolfgang Grindemann schlüpft derweil in die Rollen der Nebenfiguren und denkt sich seinen Teil, während Sebastian Hammer als fieser Graf den ganzen Hass des Publikums auf die Machthaber unserer Welt auf sich ziehen muss.
Die Nase ist ein Grund zu töten
von Bernhard Haage
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 14.07.2018
Sommertheater − Stephanie Rolser hat Edmond Rostands »Cyrano de Bergerac« für das Tonne-Theater im Reutlinger Spitalhof ansprechend in Szene gesetzt
Ein romantisches Spiel um Liebe und Schönheit, Kampf und Makel beschert das Reutlinger Tonne-Theater mit ihrem Sommertheater im Spitalhof. Am Donnerstag hat die Premiere gut 150 Zuschauerinnen und Zuschauer begeistert.
Beinahe ist sie bereits in Vergessenheit geraten, die ungeheure Magie gut formulierter Worte. Edmond Rostand hat der Kunst des Briefeschreibens in seinem romantisch-komödiantischen Versdrama »Cyrano de Bergerac« ein Denkmal gesetzt. Eine hübsche Entscheidung des Theaters Tonne, das Stück aus dem Jahr 1897 für das Sommertheater auszuwählen. Denn es handelt außerdem vom zeitlos aktuellen Thema »Schönheit« beziehungsweise von den durchaus üblichen menschlichen Komplexen wegen eines, vielleicht auch nur eingebildeten, äußerlichen Makels.
Mit Robert Atzlinger als Cyrano de Bergerac hat Regisseurin Stephanie Rolser den richtigen Riecher bewiesen: Der Schauspieler gibt den unermüdlich dichtenden Haudegen in einem Regiment Gascogner Kadetten mit einer Ernsthaftigkeit, die der tragisch-komischen Rolle würdig ist. Nein, eigentlich hat er keine große Nase, aber seine eigene Vorstellungskraft macht ein Monster aus ihr. Völlig ausgeschlossen also, dass der so subjektiv Verunstaltete seiner angebeteten Roxane jemals seine Liebe wird gestehen können.
Nina-Mercedés Rühl spielt die Cousine Roxane mit einer ungekünstelten Leichtigkeit, die von Anfang an überzeugt. Natürlich ist sie jung und verliebt − und natürlich auch in den Falschen. Geblendet von Äußerlichkeiten fliegt ihr Herz Christian de Neuvillette (Heiner Kock) zu. Der ist wahrhaftig ein strammer hübscher Kadett − wenn er nur den Mund geschlossen hält und nicht versucht, etwas Geistreiches zu sagen.
In Cyrano findet er schließlich einen Verbündeten für eine unheilige Allianz: Cyrano liefert ihm die Worte, um Roxane von sich zu überzeugen, dafür ist Christians Optik der Türöffner für Cyranos romantische Liebesbekundungen. Aber noch ein Verehrer ist in das hormonelle Durcheinander verstrickt: Auch Graf de Guiche (Sebastian Hammer) wandelt in Sachen Roxane auf Freiersfüßen, aber liefert mit diesem Ansinnen vor allem willkommene Anlässe für actionreiche Degenkampf-Choreografien auf der schlichten weißen Bühnenkonstruktion mit drei Ebenen.
Ein wichtiges Element der Bühnenerzählung ist die Musik: Absolut anrührend das französische Lied, das alle Akteure zu Beginn des Stückes im Chor tonsicher intonieren. Danach jedoch liefert das tolle Akkordeonspiel von Andrej Mouline und das Klirren der Degen die alleinige Klangkulisse zu dem, was kommen muss: Als Christian de Neuvillette im Kampfe fällt, fliegt der ganze Schwindel endlich auf. Aber für eine liebestechnische Kehrtwende für Roxane ist es dann leider doch zu spät, denn auch der Dichter hat eine auf die Rübe bekommen.
Unterm Strich
Tolle Fecht-Choreographien, starke Darsteller und pikant-romantische Texte voll von feinsinniger Ironie machen das diesjährige Sommertheater des Reutlinger Theater Tonne zur anregenden Unterhaltung an einem lauen Sommerabend. Lediglich von dem wunderschönen Chorgesang hätte man sich durchaus noch etwas mehr gewünscht.