Moral über Bord
von Kathrin Kipp
REUTLINGER NACHRICHTEN, 04.06.2016
Reutlingen. Es geht um eine Gesellschaft im Angstwahn: Das »tonnejugendforum« spielt Georg Kaisers »Floß der Medusa« im Spitalhof. Jetzt war Premiere.
Auf der Bühne Gewimmer, Gewinsel, Gewusel: Das Schiff, das einige Kinder aus dem Kriegsgebiet holen sollte, wird bombardiert, die Kinder können gerade noch auf ein Rettungsboot flüchten. Treiben auf dem Meer herum. Wissen nicht, wo sie sind. Auf der Tonne-Bühne im Spitalhofkeller ist Georg Kaisers »Floß der Medusa« ein fischgrätiges Schiffswrack im Nebel, durch einen Gitterzaun getrennt von der wirklichen Welt, die vielleicht Rettung verspricht.
Wenn man denn gerettet werden will. Denn am Ende wollen nicht alle zurück in eine Welt, die von Egoismus, Borniertheit, wahnsinnigen Ideologien und Skrupellosigkeit regiert wird. Tonne-Dramaturgin Sandra Omlor und Regieassistentin Jana Riedel vom »tonnejugendforum« haben sich dieses Jahr mit dem »Floß der Medusa« eine Gesellschaftsparabel vorgenommen - mit sehr jungen NachwuchsschauspielerInnen, passend für ein Stück, in dem nur Kinder agieren.
Das Stück ist ein Sinnbild für eine Gesellschaft mit handlungsunfähigen, naiven und leicht manövrierbaren Individuen, die zwar unschuldig in ein grausames Schicksal geraten, dabei aber lieber ein paar kranken Ideen folgen, als selbst nachzudenken. Passend zum allgegenwärtigen Flüchtlingsthema stecken sie in grell-orangenen Schwimmwesten.
Aber die dabei vorgeführte Gruppendynamik entspricht eher weniger der Situation auf einem vollen Flüchtlingsboot - als vielmehr der einer Gesellschaft, die im kollektiven Angstwahn auf genau diese Flüchtlingsboote reagiert.
Auf dem Floß übernehmen Allan (Elias Mörgenthaler) und Ann (Ayca Sengül und Ruth Aim in wechselnder Besetzung) als Älteste die Führung. Allan ist relativ vernunftbegabt, schaut nach Vorräten und motiviert die Kids zum Rudern, auch wenn sie keine Ahnung haben, in welche Richtung. Vielleicht purer Aktionismus, aber auch nicht schlechter, als den Kopf in den Sand zu stecken. Beziehungsweise ins Wasser - am Rand der Szenerie steht ein Aquarium, in dem es ganz authentisch plätschert.
Beim Suchen nach Proviant stoßen die verzweifelten Teenies auf ein kleines, völlig traumatisiertes Kind, das sich in einer Kiste versteckt hat: »Füchslein« (Melek Sengül). Alles, was zu finden war, wird anfangs noch schwesterlich geteilt, in einer biblischen Abendmahlszene, bei der das Brot sogar ins Publikum gebracht wird und alle aus einem Kelch trinken. Bis Ann, die sehr viel impulsiver agiert als der besonnene Allan, bemerkt, dass sie ja 13 Schiffbrüchige sind. Was automatisch Unglück bedeute, seit Judas als dreizehnter Jünger Jesus verraten habe und dergleichen mehr.
Schnell werden allerlei Beispiele gefunden und Zeichen gedeutet, die diese Theorie untermauern. Zunächst wird noch darum gelost, wer freiwillig aufgibt. Und als das nicht funktioniert, hetzt Ann gegen das ihrer Meinung nach nutzloseste und überflüssigste Mitglied der geschlossenen Gesellschaft. Ohne, dass sie dabei aktiv werden muss, wird das Problemkind von den andern Mädchen und Jungen (Lilly, Luise und Merle Keller, Jakob Klingler und Robin Straub) kurzerhand entsorgt.
Und schon wieder hat sich eine kranke Idee gegen alle Vernunft durchgesetzt. Schon wieder wird ein Leben gegen zwölf weitere ausgespielt. Alles Ablenkung vom eigentlichen Drama, dass sie ja völlig hilflos auf einem Floß durchs Meer schippern. Allan versucht noch, humanistisch zu argumentieren, aber ihm fehlen offenbar die »Beweise« gegen die absurde 13er-Ideologie.
Das »tonnejugendforum« gestaltet den aktuellen Diskurs mit archaischen Ritualen, dramatischen Bildern und choreographierten Trommel- sowie Rudereinlagen - und einer goldigen Kitschszene mit Singsang und Konfetti, in der sich Ann und Allen »verloben«, obwohl sie ideologisch null auf einer Wellenlänge schwimmen. Am Ende taucht Tonnetechniker Lukas Armbruster aus dem Nebel auf, rettet die Kids und lobt sie, weil sie sich dem Leben gewidmet haben, statt in Angststarre zu verfallen. Der Mord am »Füchslein« wird erfolgreich vertuscht. In eine Welt, in der so etwas möglich ist und in der sich schon Kinder wie Erwachsene benehmen, will Allan aber nicht zurück.