Wir alle sind Güllener

von Matthias Reichert

SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 12.10.2019

 

Premiere − Die Tonne feiert mit Dürrenmatts »Der Besuch der alten Dame« einen geglückten Saisonauftakt

 

Wieviel Geld ist ein Menschenleben wert? Wie korrumpierbar ist ein Gemeinwesen? Diese Fragen stellt »Der Besuch der alten Dame«. Die 1956 uraufgeführte Tragikomödie des 1990 verstorbenen Schweizer Dramatikers Friedrich Dürrenmatt ist beklemmend aktuell. Das macht die gelungene Inszenierung von Marion Schneider-Bast deutlich, die am Donnerstag an der Reutlinger Tonne Premiere hatte.

 

Die Milliardärin Clarie Zachanassian kommt nach 45 Jahren in ihre Heimatstadt Güllen zurück. Ihr früherer Liebhaber Alfred Ill hat sie einst geschwängert und zwei Kumpane zu der Falschaussage bestochen, sie hätten beide mit ihr geschlafen. So hat er Clarie zur Prostituierten gemacht. Nun will sie Rache nehmen.

 

Mondän und dämonisch

Die Güllener sind wir alle. Das macht die von Schneider-Bast neu interpretierte Einstiegsszene noch deutlicher: Ein buntes Völkchen wartet da am Bahnhof auf den Zug mit der Milliardärin, der natürlich Verspätung hat. Die völlig verarmte Stadt hofft auf eine Millionenspritze. Das Publikum wird ins Warten einbezogen und darf das Begrüßungsständchen mitsingen: »Schön ist die Jugend.«

 

Plötzlich öffnet sich das hintere Bühnentor, Kunstnebel wabert, und im grellen Gegenlicht steht die Milliardärin da. Im Original hat sie ihre Entourage mit Gatten und Dienern dabei − hier ist sie allein. Das verstärkt den dämonischen Eindruck, Kathrin Becker spielt sie eindrücklich als mondäne, eiskalte, aber zugleich tief verletzte Frau.

 

Zachanassian bietet eine Milliarde, wenn die Güllener ihren früheren Geliebten töten. Zunächst weist der Bürgermeister (glänzend: Seyyah Inal) das Ansinnen entrüstet zurück, »Im Namen der Menschlichkeit«. Die Güllener applaudieren tosend. Doch die reiche Frau kann warten.

 

Gespenstische Bilder

Und siehe da: Auf einmal leisten sich alle neue Kleider, teure Spirituosen und andere Luxusgüter. Güllen plant eine neue Stadthalle − wie in Reutlingen mit variabler Außenbeleuchtung. Der gehandicappte Bürgermeister sitzt in einem neuen Rollstuhl. Der Polizist (David Liske) weigert sich die Milliardärin zu verhaften. Mit der zynischen Begründung, sie müsse doch verrückt sein, da eine Milliarde viel zu viel Geld für einen Mord sei.

 

Ill kann nicht entkommen. Thomas B. Hoffmann spielt den heruntergekommenen Ex-Liebhaber, der sich schließlich in sein Schicksal fügt und seine Schuld anerkennt, überzeugend. Sein Tod ist bald beschlossene Sache. Schneider-Bast findet beklemmende Bilder dafür. So stimmen die Kleinstädter einen Trauergesang an, der unter die Haut geht und gespenstisch Paul Gerhardts altes Kirchenlied »Befiehl du deine Wege« verfremdet.

 

Das Bühnenbild von Sibylle Schulze besteht aus einem roten Teppich, vielen Koffern, die krachend herumgeschoben werden und später als Sitzmöbel dienen, und einem Sarg, den die Milliardärin für ihren Alfred mitgebracht hat. Zunächst thront sie aber selbst darin und sucht ihre Prothesen für diverse abhanden gekommene Gliedmaßen zusammen. Der Wald, in dem das einstige Paar aufeinandertrifft, besteht aus bunten Bändern, die von oben herabgelassen werden. Dei übrigen Akteure imitieren Vögel und ein Reh, so ähnlich steht das auch im Original.

 

Schneider-Bast hat die Vorlage aufs Skelett reduziert − aber das ist eher eine Stärke  der Inszenierung. Denn sie arbeitet präzise den Konflikt heraus. Am Ende sprechen die Güllener Ill schuldig. Ausgerechnet der Rektor (mit Verve: Chrysi Taoussanis), der sich sonst gern auf Platon beruft, hält ein flammendes Plädoyer für »Gerechtigkeit«. Die besteht freilich darin, das Geld anzunehmen und Ill zu töten.

 

Fürs Seelenheil

Das inklusive Tonne-Ensembe fügt sich prächtig ins Schauspiel ein. Etwa Daniel Irschik, der als Pfarrer den Gehetzten zunächst zur Flucht drängt, dann aber ebenfalls für dessen Tod stimmt: »Fürs Seelenheil«. Das zutiefst pessimistische Stück wirkt, als sei es mit Blick auf großmundige Populisten von heute wie den Milliardär Trump verfasst worden. Und auf die Mehrheiten, die sie bekommen.

 

Unterm Strich

Starke Ensemble-Leistung in einer gelungenen Klassiker-Inszenierung, Regisseurin Marion Schneder-Bast reduziert Dürrenmatts Stück auf die zentralen Momente und arbeitet gerade so die höchst aktuelle Botschaft heraus.

 

 

Gruppenbild mit alter Dame

von Kathrin Kipp

REUTLINGER NACHRICHTEN, 12.10.2019

 

Reutlingen − Spielzeitauftakt mit dem Inklusiv-Ensemble: Wie man ein Diskursstück mit prallem Leben füllt, das zeigt Marion Schneider-Bast derzeit an der Tonne. Sie inszeniert Dürrenmatts »Besuch der alten Dame«

 

Friedrich Dürrenmatts Güllener Dorfgesellschaft versammelt sich auf der Tonne-Bühne. Aufgeregt erwartet man den »Besuch der alten Dame«, die einst das Dorf verlassen hat, um nun mit viel Geld den heruntergewirtschafteten Flecken zu sanieren. So zumindest die Hoffnung. Um die ersehnte Retterin gebührend zu empfangen, wird alle Kunst aufgefahren: Die Turngruppe verspricht eine Menschenpyramide, der »gemischte Chor« aus Dorf und Publikum übt sich in der Sangeskunst. Alles steht auf den Beinen, beziehungsweise sitzt im Rollstuhl, denn beim Spielzeiteröffnungsstück ist das gesamte Inklusiv-Ensemble auf der Bühne.

 

Wer ist sie wirklich?

Und kann unter der Regie von Marion Schneider-Bast in großartigen Massenszenen nicht nur als Dorfmob massiv Druck aufbauen, sondern auch als bunter Herbstwald zwischen Stoffstreifen-Bäumchen (Ausstattung: Sibylle Schulze) unschuldigste Idylle verbreiten, wenn die alte Dame mit ihrem früheren Lover Alfred die alte Romanze wieder heraufbeschwört. Der Kuckuck schreit, die Vögelchen zwitschern und das Reh hüpft durchs Unterholz, wenn die äußerst charmante Dame verliebte Miene zum bösen Spiel macht: Kathrin Becker spielt die teuflische Grande Dame mit exquisiter Doppelbödigkeit. Sie ist schon mit viel Tamtam und Nebel im Dorf gelandet oder liegt als gruseliger Racheengel lässig im vorbereiteten Sarg: ein Doppelwesen aus böser Fee und literarischem Mysterium.

 

Wer ist sie wirklich? Denn sie will das Dorf nur mit Geld segnen, wenn es den alten Schwerenöter Alfred um die Ecke bringt, der sie einst verleugnet und mit seinem Kind hat sitzen lassen, weshalb sie sich prostituieren musste. Bei den Güllenern braucht es jedenfalls nicht lange, bis sie sie umgedreht hat, von tugendhaft entrüstet bis scheinheilig geldgierig. Schon gar nicht in der knackigen Tonne-Fassung, die nicht mehr jede kleinste Entwicklung und jede argumentative Wende nachvollzieht. Aber das braucht´s auch nicht. Hier sprechen die starken Bilder und choreografierten Szenen eine einfache, aber eindrucksvolle, aber deshalb noch lange nicht banale Sprache. Nicht nur wenn alle mit einem Volksfest ihren Untergang feiern: »Oh, du lieber Augustin, alles ist hin«. Oder wenn Alfred fliehen will und seine Rollkoffer auf der Bühne Rollballett tanzen. Und wenn die gesamte Truppe »Befiehl du deine Wege« singt, wird einem ganz schaurig ums Herz. Aber es ist ja auch gruselig, wie schnell die Stimmung in einer von Populisten zugetexteten Gesellschaft kippen kann.

 

Das Volk wiederum agiert als heterogene Hauptfigur, bestehend aus der zunächst diplomatischen, später umso temperamentvollen Lehrerin und Chorleiterin (Chrysi Taoussanis), dem coolen Pfarrer (Daniel Irschik), dem vorteilsbewussten Bürgermeister (Seyyah Inal), der Ärztin (Anne-Kathrin Killguss) und dem musizierenden Polizisten (David Liske), der genauso korrupt ist wie alle anderen. Und so braucht das Dorf nicht lange, um sich die entsprechenden Argumente zurechtzulegen: Schließlich »geht es hier nicht ums Geld, sondern um Gerechtigkeit!«, wie am Ende pathetisch scheinheilig postuliert wird, unter großer Erheiterung des Publikums.

 

Alfred (Thomas B. Hoffmann) inszeniert sich zunächst galant als Opfer der Umstände und glaubt an einen bösen Scherz, wird aber zunehmend panischer, als er überall abblitzt. Ein sympathisches Arschloch, aber auch ein armes Würstchen, das eiskalt fallen gelassen wird, sobald sich der Wind dreht. Die Güllener nutzen seine Not schamlos aus, und kaufen sich für das noch ausstehende Mords-Geld unter anderem »eine Stadthalle mit farblich variierbarer Beleuchtung«. Bald sind alle auf »Raubtierjagd«, fuchteln mit Gewehren und Pistolen herum. Die Schlinge zieht sich zu, der schwarze Panther schleicht unsichtbar umher. Und so entsteht aus dem schulliterarischen Werk eine lebendige, unterhaltsame und absurde Zwickmühlen-Tragikomödie. Die am Ende in eine grauslig-lustige Volksabstimmung mündet nicht unbedingt eine Werbung für die direkte Demokratie als alle mit Schwung beschließen, dass Alfred sich auch noch selbst beseitigen muss.

 

 

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