Kultiviert bis zum Exzess

von Christoph B. Ströhle

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 19.02.2022

 

Theater – Yasmina Rezas Gesellschaftssatire »Der Gott des Gemetzels« in einer kraftvollen Inszenierung an der Tonne

 

REUTLINGEN. »Uns schon für moralisiert zu halten, daran fehlt noch viel«, wusste schon Immanuel Kant. Wobei er in der Zivilisation ein formvollendetes Beisammensein sah, in dem jeder nur den Anschein sittlichen Verhaltens erwecken möchte. Mit Arthur Schopenhauer gesprochen: »Ist doch unsere zivilisierte Welt nur eine große Maskerade.«

 

Solche Gedanken gibt einem das Theater Die Tonne bei seiner jüngsten Produktion »Der Gott des Gemetzels« im Programmheft mit. Die französische Autorin Yasmina Reza, die das Kammerspiel geschrieben hat, ist bei weitem nicht die Erste, die aus diesem Befund komödiantisches Potenzial ableitet. Ihr Theaterstück gehört zu den erfolgreichsten der letzten Jahrzehnte. So amüsant und scharfsinnig, wie es ist, muss man sagen: zu Recht.

 

Die Stimmung kippt

 

Regisseurin Karin Eppler und das Ensemble wissen die großen und kleinen Spannungsbögen der Echtzeit-Komödie brillant zu nutzen, wie bei der Premiere am Donnerstagabend zu erleben war. Stefanie Klimkait und David Liske als die Eheleute Véronique und Michel Houillé auf der einen Seite und Claudia Carus und Robert Atzlinger als Ehepaar Annette und Alain Reille auf der anderen Seite sind Idealbesetzungen für die Rollen. Die pointierten Dialoge und ihr anfangs höflich-korrektes, später enthemmtes Spiel machen den Theaterabend zum Ereignis. Gerade weil die Dinge so lebensnah daherkommen und doch am Ende anspielungsreich überspitzt sind.

 

Das bildungsbürgerliche Zuhause von Véronique und Michel ist Schauplatz einer Aussprache mit Alain und Annette. Dass der elfjährige Sohn der Gäste den gleichaltrigen Sohn der Gastgeber mit einem Stock traktiert hat, soll pädagogisch wertvoll aufgearbeitet werden. Doch die anfangs herzliche und tolerante Stimmung kippt. Gräben tun sich auf, auch zwischen den Ehepartnern, die, nicht zuletzt unter dem Einfluss von Alkohol, länger schwelende Beziehungsprobleme nicht mehr unter Verschluss halten können.

 

Véronique hat ein Händchen dafür, andere ihre moralische Überlegenheit spüren zu lassen. Ein Umstand, der ihrem Mann, dem sie vorwirft, in der Mittelmäßigkeit zu verharren, statt – auch idealistisch – nach Höherem zu streben, zuwider ist. David Liske sieht sich als Michel auf der Anklagebank, weil er aus einer Laune heraus den Hamster seiner Tochter ausgesetzt hat und damit wohl für dessen Tod verantwortlich ist. Dass er damit seiner Frau mit ihren Gewaltlosigkeits- und Integritätsansprüchen in die Parade fährt, scheint ihm schnuppe.

 

Alain, ein eher widerwillig zu der Aussprache erschienener Anwalt, treibt seine Frau Annette zur Weißglut mit seiner ewigen Telefoniererei. Nicht nur sein Handy muss ab einer bestimmten Stufe der Eskalation trockengeföhnt werden. Auch einer von Véroniques Kunstkatalogen muss auf diese Weise – und mit einer opulenten Parfümbehandlung – gerettet werden, nachdem sich Annette darauf übergeben hat.

 

Dass am Ende auch die Tulpen dranglauben müssen, mit denen die Gastgeber in Erwartung ihrer Gäste die Wohnung aufgehübscht haben, ist nur eine Frage der Zeit. Die von Iskra Jovanović-Glavaš sparsam eingerichtete Bühne eröffnet dem Ensemble viel Freiraum. Eine Kücheninsel, an der anfangs noch Backrezepte ausgetauscht werden, sich stapelnde Kunstkataloge und besagte Tulpen dominieren.

 

Hehre Ansprüche

 

Auch die Außenwelt spielt herein. Alain vertritt als Anwalt ein Hunderte Millionen Euro schweres Pharma-Unternehmen, das in einen Skandal verwickelt ist. Michels wiederholt anrufende Mutter, so stellt sich heraus, nimmt regelmäßig das Medikament, dessen schwerwiegende Nebenwirkungen Alain über sein Handy zu vertuschen versucht.

 

Wer interessiere sich schon für anderes als sich selbst, fragt Robert Atzlinger in der Rolle des Anwalts. Hat er anfangs noch versucht, den Gewaltausbruch seines Sohnes und die Folgen herunterzuspielen, macht er nun deutlich, dass er immer an den Gott des Gemetzels geglaubt habe. Die wohl größte Wandlung macht Claudia Carus als Annette durch. Anfangs freundlich und zurückhaltend, haut sie richtiggehend auf den Putz. Stefanie Klirnkait beharrt als Véronique darauf, früh die »Falschheit« Annettes erkannt zu haben. Grandios ihre Fassungslosigkeit, als sie erfährt, warum ihr Sohn vom gleichaltrigen Sohn der Reilles malträtiert wurde. Ihr, Véroniques, Sohn soll sich geweigert haben, den Jungen in seine Bande aufzunehmen.

 

Ihr Sohn und eine Bande? Für Véronique ist das unvorstellbar. Vehement weist sie Annettes Behauptung zurück, dass eben beide Jungs nicht unschuldig seien. Man dürfe Opfer und Henker nicht verwechseln, tönt die Gastgeberin mit den hehren Ansprüchen da pathetisch.

 

Das Stück ist vor allem da stark, wo es menschliche Makel und moralische Schwächen aufspießt. Wo es hinter Fassaden blickt und grundlose Überheblichkeiten entlarvt. Ein schwungvoll inszenierter und kraftvoller 90-Minüter! Die Tonne zeigt das Stück noch bis zum 19. März. (GEA)

 

 

Rosenkriege als Tulpenmassaker

von Matthias Reichert

SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 19.02.2022

 

Premiere – Das Reutlinger Tonne-Theater langt mit »Der Gott des Gemetzels« von Yasmina Reza sehenswert und tief hinein in die Abgründe moderner Paarbeziehungen.

 

Ein Gemetzel, wie es der martialische Titel ankündigt, gibt es auf der Bühne lediglich unter unschuldigen Sträußen roter Blumen. Zuvor tun sich anderthalb Stunden lang mitreißend die seelischen Abgründe zweier Paare auf. Rosenkriege als Tulpenmassaker – nach der international erfolgreichen Vorlage der französischen Dramatikerin Yasmina Reza läuft das Tonne-Ensemble unter Regie von Karin Eppler zu großer Form auf. Am Donnerstag war die gefeierte, wenngleich pandemiebedingt nicht annähernd voll besetzte Premiere im Theaterneubau.

 

Zwei Paare treffen sich bei Tee und französischem Kuchen, um sich gepflegt über eine Schulhof-Schlägerei ihrer elfjährigen Söhne auszusprechen. Gesittet geht es los – doch nach und nach zeigen alle vier ihre wahren Gesichter. Da ist zunächst Véronique (Stefanie Klimkait), eine kunsthistorisch interessierte Schriftstellerin, die sich mit den Krisen Afrikas beschäftigt und an die Kraft von Zivilisation, Kultur und klärenden Gesprächen glaubt. Doch die führen in den Orkus bei dieser Komödie, in der das Lachen im Hals gefriert. Véroniques Mann Michel (David Liske) handelt mit Haushaltswaren, hat immer einen lockeren Spruch auf den Lippen – und entpuppt sich letztlich als desillusionierter Spießer.

 

Ihre Antipoden sind Annette (Claudia Carus) und Alain (Robert Atzlinger). Annette ist Vermögensberaterin und steht völlig unter der Fuchtel ihres Mannes, der sie passenderweise »Wauwau« nennt. Er ist Wirtschaftsanwalt. Pausenlos klingelt sein Handy, an diesem Tag geht es um ein Medikament, das gefährliche Nebenwirkungen hat. Zynisch erteilt Alain Anweisungen, wie die Pharmafirma den Skandal um den angeblichen Blutdrucksenker bewältigen soll – ohne jede Rücksicht auf die Gesundheit der Patienten.

 

Das wiederum findet seine Frau im Wortsinn zum Kotzen, sie übergibt sich über den Anzug ihres Mannes und die ringsum aufgetürmten Kunstbände. Veronique und Michel sorgen sich nur um die kostbaren Kataloge, wie es Annette geht, ist ihnen herzlich egal. Dabei haben sie in ausgesuchter Spießigkeit für den Disput unzählige Tulpen vom Großmarkt besorgt. Ansonsten besteht das Bühnenbild von Iskra Jovanović-Glavaš lediglich aus einem langen Tisch, einer Durchreiche und einigen Stühlen und Sesseln – so richtet Regisseurin Eppler den Fokus ganz auf die Darstellenden.

 

Was voll und ganz aufgeht. Zunächst erörtern die Paare haarscharf und mit ausgesuchter Höflichkeit Haarspaltereien. Mit einem Stock hat der Filius von Alain und Annette dem anderen Elfjährigen zwei Zähne ausgeschlagen. Die Paare einigen sich formaljuristisch formbewusst darauf, dass der Übeltäter mit dem Stock nicht etwa »bewaffnet«, sondern lediglich »ausgestattet« gewesen sei.

 

Im jeweils unpassendsten Moment ruft immer wieder Michels Mutter an, die besagten Blutdrucksenker selbst genommen hat. Abgründe tun sich auf, erst spaltweise, dann höllentief. Alain baggert Véronique an. Und deren Mann Michel landet selbst auf der Anklagebank, weil er am Vorabend den Hamster der kleinen Tochter ausgesetzt und dem sicheren Tod im Rinnstein preisgegeben hat. Wie sich herausstellt, hat Michel eine Phobie gegen Haus- und Nagetiere. Und eigene Minderwertigkeitskomplexe kompensiert er mit Sottisen.

 

Das Unheil beginnt spätestens, als Michel die Rumflasche auspackt und sich das Quartett mehr und mehr und schließlich hemmungslos besäuft. Die Männer outen sich als John-Wayne-Fans, schwelgen in Machosprüchen und Erinnerungen an Prügeleien der eigenen Kindheiten. Vorübergehend verbünden sich die Frauen gegen so viel Männlichkeitsgehabe – nur um sich bald wieder aufs Ätzendste zu beschimpfen, ebenso die abwesenden Kinder der jeweils anderen.

 

Alkohol enthemmt. Michel erklärt, Kinder seien nichts als Katastrophen. Und die Ehe »die schlimmste Prüfung, die uns Gott auferlegt hat«. Alain wiederum schwadroniert vom Recht des Stärkeren: »Ich glaube an den Gott des Gemetzels.« Jeder und jede bekriegt schließlich jede und jeden. Die von ihrem Mann unterdrückte Annette ertränkt dessen Handy effektvoll im Blumenkübel. Und dann, als dramatischer Höhepunkt, müssen die unschuldigen Tulpen dran glauben. Betretenes Schweigen vor langem Applaus.

 

Unterm Strich

 

Kunstblut fließt keines in dieser Komödie. Aber Grusel und Schockeffekte bietet das göttliche, stark gespielte und inszenierte Verbalgemetzel dennoch mehr als genug.

 

 

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