Des Sonderlings stumme Schreie

von Christoph B. Ströhle

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 26.10.2024

 

Bühne – In »Die Blechtrommel« am Theater Die Tonne weitet sich ein Bühnenmonolog zum Gesellschaftspanorama

 

REUTLINGEN. Was für ein starkes Bild für den Zustand der Welt! Die Bühne ist eine riesige Trommel. Darüber hängt viel Glas, das nur darauf zu warten scheint, durch Schreien zu Bruch gebracht zu werden. Es ist Oskar Matzeraths Welt, die Welt, die dieser als Schelm, als unzuverlässiger Erzähler in Günter Grass’ Roman »Die Blechtrommel« beschreibt.

 

Wobei der kleinwüchsige Oskar Matzerath derjenige ist, der trommelt und das Glas mit seiner Stimme zum Zerbersten bringen kann. Beides erscheint in der neuen Produktion des Reutlinger Theaters Die Tonne ambivalent. Die Zuschauerinnen und Zuschauer müssen jeweils aufs Neue entscheiden, ob nun gerade bei Oskar das Zerstörerische überwiegt, ob seine Interventionen Akte der Selbstartikulation und Selbstbehauptung oder des politischen Widerstands sind.

 

Im Theater Die Tonne sind es stumme Schreie des Sonderlings Oskar, auf die das Geräusch von zersplitterndem Glas und das laute Schreien aller anderen sonst auf der Bühne folgen.

 

David Liske gibt diesem jahrelang stumm gebliebenen Oskar eine Stimme, fungiert in der Bühnenbearbeitung des Grass’schen Schelmen- und Entwicklungsromans von Oliver Reese als Erzähler, der seinem jüngeren Ich, verkörpert von Elias Rauscher, gegenübertritt. Bisweilen wirkt das wie eine Familienaufstellung. Wobei Oskar in der Mitte (auf einer von Ausstatterin Sibylle Schulze riesenhaft vergrößerten Trommel) gezeigt wird, um die herum sich die übrigen Figuren wie auf einer Spieluhr bewegen.

 

Zwiespältiger Mentor

 

Die Trommel, die seine Mutter (Antje Rapp) ihm kauft, als er drei Jahre alt ist, ist sein Ein und Alles. Sie muss häufig ersetzt werden, weil der junge Oskar sie über die Maßen beansprucht (und weil seine Mutter die Zeit, die er im Spielwarenladen zubringt, für Schäferstündchen nutzt). Mit der Trommel bringt Oskar, als er etwas älter ist, Nazi-Redner zum Stottern und Märsche spielende Kapellen aus dem Takt. Enrico Urbanek gelingt mit dem inklusiven Ensemble der Tonne eine beeindruckend dichte, die Widersprüche der Romanvorlage nicht glättende Inszenierung. Was bei Reese nur Monolog ist, weitet sich hier zum Gesellschaftspanorama mit verteilten Rollen. Unter der neben Oskars Mutter auch seine Väter Alfred Matzerath und Jan Bronski (Seyyah Inal und Daniel Irschik) hervorstechen, Maria (Nina Hoehne), mit der Oskar seine ersten sexuellen Erfahrungen macht, der Arzt (Alfhild Karle), der Spielwarenverkäufer (Santiago Österle) und ganz zu Beginn der Geschichte die Großmutter (Anne-Kathrin Killguss, die auch als Lehrerin einen Auftritt hat).

 

Ein wichtiger Mentor wird für Oskar der kleinwüchsige Bebra, der im Zirkus angestellt ist und ihm den Rat gibt, »immer auf der Tribüne zu sitzen und niemals vor der Tribüne zu stehen«. Roswitha John spielt Bebra mit großer Souveränität und zeigt auch die problematische Seite überzeugend auf: dass er sein Fähnchen nach dem Wind hängt. Er ist es, der Oskar dazu bringt, beim deutschen Fronttheater im besetzten Frankreich mitzumachen.

 

Karikatur eines Nazi-Redners

 

Bahattin Güngör fasziniert mit der Karikatur eines Nazi-Redners, die an Charlie Chaplins »Der große Diktator« erinnert. Stark ist auch eine Szene, in der sich David Liske auf einem Harmoniumin Rage spielt. Berühmte Passagen wie die Brausepulver-Szene bleiben Erzählung. Den Kellersturz, mit dem Oskar für die Erwachsenen eine plausible Erklärung zu liefern trachtet, warum er nicht weiter wächst, stellt der Erzähler mit einem Eimer nach.

 

Bevor Oskar in der Wirtschaftswunderzeit mit seinem Trommelspiel reüssiert, sieht man ihn mitschuldig am Tod Alfred Matzeraths werden, der das ihm von Oskar gereichte NSDAP-Abzeichen mit geöffneter Nadel verschluckt, um es zu verstecken, und daraufhin, weil er zuckt, von russischen Soldaten erschossen wird. (GEA)

 

 

Im Takt der dunklen Jahre

von Matthias Reichert

SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 29.10.2024

 

Premiere – Am Reutlinger Tonne-Theater wurde »Die Blechtrommel« nach dem Jahrhundertroman von Günter Grass als opulenter Monolog aufgeführt und vom Publikum gefeiert.

 

Die Figur von Oskar Matzerath, der als Kind mit drei Jahren das Wachstum einstellt, ist längst ikonisch geworden. Der 1959 erschienene Roman von Literaturnobelpreisträger Günter Grass kämpft sich sprachmächtig durch die Weimarer Zeit, die dunklen Jahre der NS-Diktatur und die Wirtschaftswunder-Ära. Es ist ein nicht geringes Kunststück, all das auf die Bühne zu bringen. Und die Tonne schafft das mit Erfolg. Intendant und Regisseur Enrico Urbanek hat hierfür die Bühnenbearbeitung von Oliver Reese gewählt, die 2015 am Berliner Ensemble Premiere hatte. Dieser Text fasst das multidimensionale Romangeschehen in einem Monolog zusammen – und erhält dabei gekonnt die Sprachbilder von Grass sowie dessen launig-treffende Formulierungen.

 

Schreiend, schnaufend

 

David Liske verkörpert in der Reutlinger Inszenierung den Oskar Matzerath intensiv und sehr souverän. Angetan mit Alltagskluft und Baskenmütze, wie vor hundert Jahren, beschreibt er dessen komplexe Familienverhältnisse, den Tod der Eltern, kämpft sich durch die NS-Diktatur, geht als Komödiant zum Fronttheater und reüssiert schließlich in der Nachkriegszeit als Trommler. Dass er im Roman in der Nervenheilanstalt landet, bleibt hier außen vor. Zuletzt beschließt Oskar mit 21 Jahren, wieder zu wachsen – und fragt zum Schluss wie staunend ins Publikum: »Was soll ich noch sagen?« Durchgängiges Requisit: die Blechtrommel, mit der Oskar den Takt der Zeitläufte schlägt.

 

Das Bühnenbild von Sibylle Schulze besteht aus einer Riesentrommel, die schräg in den Boden gerammt scheint und zum Schauplatz des Wahnsinns von Biografie und Zeitgeschichte wie auch der Kämpfe im Krieg wird. Einige Treppenstufen führen in den Untergrund. Links stehen drei Holzkreuze, rechts ein Harmonium. Die Kreuze gedenken Oskars Eltern, die letztlich alle unter seiner Mitwirkung das Zeitliche segnen. Und auf dem Harmonium stimmt Liske als einen Höhepunkt der Inszenierung einen furiosen Abgesang auf die Menschlichkeit in der Nazidiktatur an – schreiend, schnaufend, schwitzend, brüllend.

 

Furiose Rede

 

Ringsum die große Trommel agiert das inklusive Ensemble in bunten Fantasiekostümen. So geglückt wie Liskes Monolog sind die weiteren Besetzungen. Oskar als Kind und Jugendlichen spielt mit Elias Rauscher eine Neuentdeckung. Es ist eine stumme Rolle, die Rauscher gekonnt ausfüllt, weißgeschminkt und mit stoischer Gelassenheit. Sämtliche Ensemble-Mitglieder verkörpern die vielen weiteren Figuren des Romans – zumeist mit wenig Text, aber sehenswert ausstaffiert. Anne-Kathrin Killguss etwa lässt als Großmutter Anna eingangs deren vier Röcke über die Riesentrommel herab wallen.

 

Santiago Österle tritt als jüdischer Spielzeughändler Sigismund Markus auf, der nach der Pogromnacht der Nazis Suizid begeht. Seyyah Inal und Daniel Irschik spielen mal polternd, mal leise Oskars Doppel-Väter, die beide mit dessen Mutter Agnes (Antje Rapp) zusammenleben. Und Bahattin Güngör hält als Obernazi eine furiose Rede, fast so wie Charlie Chaplin in »Der große Diktator«.

 

Einigen Text stemmt die 70-jährige Roswitha Johna als zwergenhafter Clown Bebra. Ausstaffiert mit Frack und Zylinder, liest Bebra der Zeit die Leviten, dämonisch und abgründig. Weitere ikonische Motive der Romanhandlung werden rückblickend erzählt: die vielen Aale, die aus einem Pferdekopf-Gerippe am Ostseestrand herausquellen, das frivole Spiel mit Brausepulver von Oskar und seiner Geliebten Maria. Über dem Trommel-Torso hängen wie ein Kronleuchter viele leere Glaskörper–Flaschen, Einmachgläser, Trinkgläser. Oskar kann bekanntlich allein durch sein Schreien alles Glas in der Umgebung zerspringen lassen. In Urbaneks Inszenierung brüllt das Ensemble auf einen Wink Liskes wie am Spieß los, und die zerspringenden Gläser krachen und klirren als eingespielter Sound – Klangeffekte eines wirkungsvollen Schauspiels.

 

 

Tonne-»Blechtrommel« – Gewagt und gewonnen

von Martin Bernklau

CUL-TU-RE.DE, 25.10.2024

 

Die Reutlinger Tonne brachte mitsamt ihrem inklusiven Ensemble »Die Blechtrommel« von Günter Grass auf die Bühne.

 

REUTLINGEN. Ein kühner Plan: »Die Blechtrommel« auf die Bühne bringen. Weltliteratur und aufsehenerregendes Debüt des späteren Nobelpreisträgers Günter Grass, dazu der oscarprämierte Schlöndorff-Film von Ende der Siebziger. Die Tonne hat’s gewagt. Und hat – gleich vorweg – gewonnen. Am Donnerstagabend war Premiere im Großen Saal, der ganz gut, aber nicht voll besetzt war.

 

Klar, dass so etwas kein normales Theaterstück werden kann, erst recht nicht wenn die Tonne ihrem Anspruch, einem »Alleinstellungsmerkmal«, treu bleibt, ihr inklusives Ensemble einzubringen. Schon die Bearbeitung von Regisseur Enrico Urbanek und seinem Dramaturgen Michel op den Platz war gelungen: Da musste der Stoff, da musste diese überwältigende Sprache gestrafft, gestrichen, ergänzt, verbunden werden zu einem stimmigen Plot, der am Ende nicht einmal volle zwei Stunden dauerte.

 

Das Bühnenbild von Sibylle Schulze war so einfach wie überzeugend: eine angeschrägte rot-weiß gezackte Blechtrommel, aus der mittig eine Treppe herausragte und hinabführte in jenen Keller, in den sich der Dreijährige stürzte, um fortan nicht mehr zu wachsen und Glas zersingend als Gnom durch düstere Zeiten zu wandeln. Links drei Grabkreuze für die wichtigsten Toten der Geschichte: Oskars Mama Agnes und seine beiden Väter, der Pole Jan Bronski und der rheinische Kolonialwarenhändler Alfred Matzerath, den es in das Danzig der Nazizeit verschlagen hatte, wo in der Polnischen Post und an der Westerplatte dann der Zweite Weltkrieg begann. Rechts ein Harmonium, auf dem auch die Leitmelodie des Stücks erklingt, Händels »Largo«.

 

Das spielt David Liske, der als »unzuverlässiger Erzähler« Oskar ein ganz großartiges Solo abliefert und die ganze Inszenierung trägt, auch wenn das kein eigentliches Schauspiel ist, keine klassisch-szenische, sondern vor allem eine szenisch-gestisch erweiterte Rezitation – aber wie! Fantastisch, lebendig, spannend, große Sprachkunst, Vortragskunst. Höhepunkt ist seine am Harmonium in wütendem Crescendo begleitete Litanei: »Es war einmal…«

 

Unter den vielen Rollen des inklusiven Ensembles ragten Roswitha John als Meister Bebra vom Liliputaner-Fronttheater, Santiago Österle als jüdischer Spielwearenhändler Sigismund Markus und Bahattin Güngör als Nazi-Redner Löbsack heraus und ließen sich am Ende gemeinsam mit gewiss zwanzig Beteiligten vom Publikum feiern.

 

 

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