Die Dunkelheit spielt mit

von Christoph B. Ströhle

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 23.04.2016

 

Theater - Maurice Maeterlincks »Die Blinden« mit dem integrativen Ensemble der Tonne in der Planie 22

 

REUTLINGEN. Das integrative Ensemble des Theaters Die Tonne mit Menschen mit Behinderung hat in den vergangenen Jahren sehr bildintensive Stücke auf die Bühne gebracht. Man denke nur an »Frida Kahlo« oder »Charlie«. In »Die Blinden«, das am Donnerstag in der Planie 22 Premiere feierte, kommt es eher aufs Hören an.

 

Die Darsteller, die in der Tonne-Kooperation mit der Freizeit- und Kulturinitiative Baff, der Fakultät für Sonderpädagogik der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg und den Werkstätten der Bruderhaus-Diakonie und der LWV-Eingliederungshilfe Rappertshofen ein Schauspiel-Training on the Job durchlaufen, stehen entsprechend vor anderen Herausforderungen. Wie schon das Sommertheaterstück 2015 »Glaube Liebe Hoffnung« von Ödön von Horváth lebt auch Maurice Maeterlincks Gesellschaftsparabel aus dem Jahr 1890 ganz wesentlich von den Dialogen. Das Stück nimmt in gewisser Weise Camus’ Sicht des Absurden und den modernen Menschen im Theater Becketts und Ionescos vorweg. Die Darsteller machen ihre Sache gut. Sie geben den Figuren Charakter, Haltung und Würde. Und auch die langjährigen Profis auf der Bühne, Michael Schneider und Bernd Wegener, greifen erfindungsreich als Klang-Alchemisten ins Geschehen ein.

 

Und darum geht es: Eine Gruppe von Blinden ist auf einer Insel aus dem Heim, in dem sie leben, nach draußen geführt worden, um die Sonne, die Natur, die frische Luft zu genießen. Da stirbt plötzlich der Priester, der sich bisher um sie gekümmert hat.

 

Die Blinden können sich zunächst keinen Reim darauf machen, was passiert ist, warum der Priester so plötzlich verschwunden ist. Ungeduld und Angst kommen auf. Tastend und fragend erkunden die Isolierten ihre Umgebung und lernen einander besser kennen. Sie schöpfen Hoffnung, dass die Leuchtturmwärter oder die Nonnen aus dem Heim sie aus ihrer Situation befreien. Doch diese Hoffnung währt nur kurz. Zunehmend plagt der Hunger sie, macht die hereinbrechende Kälte ihnen zu schaffen. Dabei rücken sie näher zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen.

 

Dunkelheit erfüllt in Enrico Urbaneks Inszenierung über weite Strecken den Raum. Gleichzeitig bestimmt das sporadische Eindringen von Licht (auch von Schwarzlicht) die Dramaturgie, bewirkt, dass auch das Publikum auf den Hörsinn zurückgeworfen ist und bisweilen ins grell wiederkehrende Licht blinzelt.

 

Ein Indoor-Cycler tritt die ganze Zeit in die Pedale, während sich hinter ihm ein riesiger Tunnel-Ventilator dreht, der das spärliche Licht flackern lässt. Als sich nach etwa einer Stunde Spielzeit die Schar in Bewegung setzt, geht eine Blinde mit Baby auf dem Arm, das sehen kann, voran.

 

Fantasievolle Kostüme und teils schrille Brillen tragen die Blinden. Zur dichten Atmosphäre tragen die Klänge bei, die die beiden Musiker mithilfe von längs durch den Raum gespannten Klaviersaiten und vier Tonnen, die als Resonanzkörper dienen, erzeugen. Als Darsteller überzeugen Bahattin Güngör, Cornelius Hoffmann-Kuhnt, Seyyah Inal, Alfhild Karle, Anne-Kathrin Killguss, Dominik Lohmüller, Santiago Österle, Antje Rapp, Jochen Rominger, Franziska Schiller, Katja Trumpold, Gabriele Wermeling und Stephan Wiedwald.

 

 

 

Warten auf den Priester

von Kathrin Kipp

REUTLINGER NACHRICHTEN, 23.04.2016

 

Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin geht's? Das inklusive Tonne-Ensemble führen mit den »Blinden« von Maurice Maeterlink eine Gesellschaft vor, die dem unbekannten Schicksal völlig ausgeliefert ist.

 

Schon bevor's los geht, ist das Licht weg. Die Zuschauer werden in den dunklen Theaterraum geführt, kleine Taschenlampen helfen bei der Orientierung. Die Protagonisten des Stücks sitzen derweil verstreut im Raum, sehen nichts, beten und singen. Ihnen ist »der Priester« abhanden gekommen, und sie wissen es nicht einmal. Er hatte sie aus ihrem sicheren Heim nach draußen geführt, damit sie Natur und Licht spüren, aber jetzt ist er verschwunden.

 

Unruhe und Unsicherheit machen sich breit, hilflos sind sie der fremden und feindlichen Umgebung ausgesetzt. Starr vor Angst müssen sie reden reden reden, um sich zu vergewissern, dass sie überhaupt existieren. Ohne ihren Führer und Betreuer sind sie ihren Defiziten völlig ausgeliefert. Es wird kalt, sie bekommen Hunger, können aber in ihrer absoluten Unselbständigkeit nicht für sich selbst sorgen.

 

Sie sehen keine Lösung, verfallen ins Jammern und beschreiben ausgiebig ihren hoffnungslosen Zustand. Sie wissen nicht, wo sie sind, wer sie sind und was die Zukunft bringt. Das symbolistische Drama »Die Blinden« (Uraufführung 1891) des belgischen Nobelpreisträgers Maurice Maeterlink (1862 bis 1949) ist ein abstraktes, statisches und pessimistisches Stück über die generelle menschliche Hoffnungslosigkeit. Nur eines ist im Leben sicher: der Tod. Eine bloße Zustandsbeschreibung ohne Handlung, die man auf mehreren Ebenen lesen und verstehen oder eben auch nicht verstehen kann.

 

Es ist zweifellos mutig von der inklusiven Tonne-Truppe, sich solch ein textlastiges, steriles, absurdes und bewegungsloses »Warten auf Godot«-Projekt vorzunehmen. Ob das nicht gerade ansehnliche Stück behindertengerecht ist oder nicht, darüber lässt sich streiten, zumal nicht alle Schauspieler(innen) aktiv am Textgeschehen teilhaben können. Andererseits: Warum auch nicht mal etwas ganz Abstraktes? Regisseur Enrico Urbanek wiederum lässt die Schauspieler einfach mal alle nur da sein. So, wie der Mensch eben ist. Ansonsten setzt er das düstere, manchmal kaum auszuhaltende Kunst-Stück ziemlich konsequent in Szene. Es passiert rein gar nichts, außer stilisierter Text und Geräusch. Ein Hörspiel quasi.

 

Und dabei kommen die Nöte der Protagonisten recht authentisch zur Geltung. Mal ist es komplett dunkel, mal herrscht Halblicht, und man sieht, dass die skurril kostümierten und absurd bebrillten Leute sich nicht regen, aus Angst, dadurch könnte etwas passieren.

 

Handelt es sich um eine orientierungslose Gesellschaft, deren - ganz nietzscheanisch - Gott abhanden gekommen ist? Dieser Gesellschaft scheint letztlich alles abhanden gekommen sein: Die Hoffnung, das Aktivsein, die Bewegung, die Sicht, die freie Entscheidung, die Selbstverantwortung.

 

Die Geräuschkulisse von Michael Schneider und Bernd Wegener unterstreicht die aussichtslose Atmosphäre: Blechfassgetrommel, Saitenspiel, experimentelles Gesumme, Getöne und Geklopfe von allen Seiten nehmen den Blinden jegliche räumliche, zeitliche und harmonische Orientierung. Immer wieder hören die Blinden Schritte.

 

Ist es die ersehnte Hilfe? Oder ist es schon der Tod? Quer durch den Raum sind Saiten gespannt, sie führen in Richtung Propeller, der hin und wieder etwas Wind macht. Die eindrucksvolle Optik kontrastiert das betont ausdruckslose Spiel. Die Schauspieler sitzen weit voneinander weg einfach da (einer fährt Fahrrad) und sind rein auf Textsprechen reduziert. Da ist nichts Körperliches, keine Interaktion, kein Charakter. Nur Text, abwechselnd gesprochen. Sehr gut gesprochen im Übrigen, während sonst nichts passiert. Sterile Starre.

 

Die Blinden schmecken, hören, riechen, fühlen. Ziehen aus Kleinigkeiten ein wenig Hoffnung, um anschließend umso mehr enttäuscht zu werden. Sie sind nicht in der Lage, sich selbst zu helfen. Ein ominöses Kind kann zwar sehen, aber nicht sprechen. Die Figuren sind so auf ihre Defizite fokussiert, dass keiner seiner Rolle entkommt. Beten hilft nicht. Erinnern hilft nicht. Sie warten auf Rettung, aber das Einzige, was näher kommt, ist das Meer. Und der Winter. Als sie kapieren, dass der Priester tot ist, gibt es Schuldzuweisungen. Aber auch das bringt nichts. Bis sie sich zusammentun, sich aufmachen und in Richtung Licht krabbeln. Was immer das bedeuten mag.

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