Und der Haifisch, der zeigt Zähne
von Matthias Reichert
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 22.10.2018
Premiere − Das Reutlinger Tonne-Theater schenkt sich zum 60. Geburtstag eine liebevoll ausgestattete, glänzend gespielte und gesungene Inszenierung von Brechts: »Dreigroschenoper«
»Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral« − solche geflügelten Worte stammen aus Brechts »Dreigroschenoper«. Das Reutlinger Tonne-Theater hat den Klassiker üppig ausgestattet in Szene gesetzt, am Samstag war die gefeierte Premiere im Theaterneubau.
»Ja, mach nur einen Plan«: Das Bühnenbild von Sibylle Schulze besteht aus zwei großen Holzkästen, die wechselweise als Verkaufsbude, Schlafzimmer und Gefängniszelle dienen. Außerdem schieben die Akteure Gitterwände auf der Bühne herum. Bei der Gangsterhochzeit finden sich rustikale Requisiten wie Plüschtiger, Einkaufswagen und eine gigantische Whisky-Pulle.
»Und der Haifisch, der hat Zähne«: Sieben Musiker/innen intonieren auf Instrumenten der Originalpartitur glänzend Kurt Weills klassische Klänge. Von Brechts epischen Theateransatz sind eingeblendete Szenen-Ansagen und die verfremdeten Songs geblieben, die diesem Theaterabend die Glanzlichter aufsetzen.
Wie auch die Schauspieler. Thomas B. Hoffmann brilliert als Gangster Mackie Messer. Der heiratet die Tochter Polly von Bettlerkönig Peachum und wird geschnappt, weil es ihn dauernd zu den Huren zieht. Maria Magdalena Rabl als Polly schmachtet zunächst ihren Mackie im Brautkleid herzzerreißend an. Später zofft sie sich hinreißend mit Lucy (Noemi Fulli). Die wiederum ist die Tochter des mit Mackie befreundeten Polizeichefs (souverän: Sebastian Hammer). David Liske glänzt als Bettlerkönig Peachum, Chrysi Taoussanis überzeugt durch Wandlungsfähigkeit − zunächst als dauer-alkoholisierte Frau Peachums, dann als melancholische Seeräuber-Jenny.
Die Texte sitzen
Die Tonne-Inszenierung von Intendant Enrico Urbanek setzt zugleich auf das komplette inklusive Ensemble. Neun Akteurinnen und Akteure mit Handicap spielen stark mit − wenn auch bei der Premiere im ersten Teil noch ein bisschen mit angezogener Handbremse. Sie setzen die Gangsterbande, mondäne Prostituierte und eine traurige Bettlerdemo wirkungsvoll in Szene. Leicht störend wirken höchstens die vielen Umbauphasen, während das Stück läuft.
Die Texte jedenfalls sitzen. Seyyah Inal spricht den Ganoven Matthias, als hätte er nie etwas anderes getan. Santiago Österle lässt eingangs als Bettler-Novize den Rollstuhl stehen und robbt über die Bühne, ehe er sich von Peachum ausrüsten lässt. Jochen Rominger hält als Pastor Kimball die kürzeste Trauung aller Zeiten − und Bahattin Güngör wünscht dem Gangster auf dem Weg zur Hinrichtung trocken »toi toi toi«.
»Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm«: Der Mond über Soho leuchtet blau und rot über der Bühne, Gangster Mackie packt seinen »Mac«-Computer aus, als er seiner Ehefrau vor der Flucht die Geschäfte übergibt. Und im Gefängnis zahlt er Bestechung, damit ihm die Schergen seinen unvermeidlichen Espresso servieren. Als zuletzt alles auf die Katastrophe hinsteuert und Mackie nach starkem Abschieds-Abgesang seinen Kopf schon durch die Schlinge des Galgens steckt, kommt als Deus Ex Machina ein rettender Bote: Die Königin begnadigt den Gangster, erhebt ihn in den Adelsstand und schenkt ihm eine lebenslange Rente. Damit wenigstens das Stück gut ausgeht. »In diesem Tale, das von Jammer schallt«. So wollte Brecht mit einem alten Bühnenstoff sozialkritisches Bewusstsein schaffen.
Die Themen bleiben aktuell
»Der Mensch lebt nur von Missetat allein«: Brecht und seine Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann haben seinerzeit die Dreigroschenoper nach »The Beggar´s Opera« von John Gay aus dem Jahr 1728 verfasst. Nach der Uraufführung 1928 gab es einen veritablen Plagiats-Skandal, weil Brecht ungeniert eine zeitgenössische Übersetzung von Liedern des französischen Klassikers Franςois Villon zitierte.
»Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.«: Die soziale Spaltung, die Brecht in der Dreigroschenoper gestaltet, ist heute zwar eine andere als vor 90 Jahren. Der Bettlerchor, den Peachum zur Königinnenkrönung schicken will, trägt deshalb nun zeitgemäß politikverdrossene Plakate. Organisierte Bettler sind ein Problem geblieben, Gangster und Prostituierte bevölkern Gesellschaften aller Zeiten. Auch wenn Brechts episches Theater schon lange nicht mehr provozieren kann − seine Themen bleiben aktuell. Und dann kommt das Stück in Reutlingen kurz nach dem »Dreigroschenfilm« in den Kinos heraus − so ist die Tonne wieder mal auf der Höhe der Zeit. Langer, starker Applaus.
Unterm Strich
Die Tonne feiert mit einer liebevoll ausgestatteten, von Intendant Enrico Urbanek routiniert erzählten »Dreigroschenoper« ihren 60. Geburtstag. Das Ensemble spielt stark und schmettert mit Verve die Songs von Kurt Weill. Bei der Premiere spielen sie im ersten Teil vielleicht noch ein bisschen mit angezogener Handbremse, aber der zweite Teil reißt mit.
Und ewig siegt das Kapital
von Kathrin Kipp
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 22.10.2018
Theater − Musical und Gesellschaftskritik in einem: Die Tonne bringt zu ihrem 60. »Die Dreigroschenoper« auf die Bühne
REUTLINGEN. Ist das Kunst oder einfach nur nett? Die Dreigroschenoper an der Tonne ist beides: eine folkloristische Kostüm- und Musikshow aus dem Jammertal des Kapitalismus, aber auch eine inklusive Widerspruchsorgie von den guten alten Verwirrern Brecht und Weill.
Passend zum Stück ging ja erst vor einigen Tagen der Cum-Ex-Skandal durch die Medien: Aktienjongleure haben die europäischen Steuerzahler um vermutlich mehr als 50 Milliarden geprellt. Und wieder regt sich kaum Widerstand.
Bertolt Brecht hat das Dilemma des Menschen in den Fängen des Kapitalismus, das Drama um Gier, Betrug, Bigotterie, Korruption, Erpressung und Verrat 1928 in seine berühmte »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral«-Oper gesteckt: »Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?«
Aber weil der Mensch trotz seiner ganzen Ausbeutungsfinessen auch noch so schön singen und pfeffrig texten kann, und weil er sich seine Dumm- und Boshaftigkeit auch gerne mal vor Augen führt, wurde das Stück selbst sofort Opfer von Kommerz und Getto-Folklorisierung. Und bewegt sich bis heute nicht nur zwischen nettem Musical und aufklärerischer Kunst, sondern auch zwischen Anklage und Rechtfertigung.
Prächtige Bilder
In diesem widersprüchlichen Spannungsfeld bewegt sich auch die aufwendige Tonne-Inszenierung von Enrico Urbanek, der einerseits eine gefällige Ausstattungsorgie mit prächtigen Bildern arrangiert hat, andererseits auch die (Song-)Texte nicht unter den Tisch fallen lassen will: Selten hört man ein so verständliches Musical.
Bei der Premiere kommt es zunächst vielleicht sogar ein wenig zu brav daher − um den Preis der Schmissigkeit. (Gesang und Musik: Ulrike Härter und Maciej Szyrner). Vielleicht auch, weil die Band noch mit angezogener Handbremse musiziert und ziemlich im Abseits sitzt, hinter zwei wuchtigen, multifunktionalen Holzcontainern (Ausstattung: Sibylle Schulze), die in Kombination mit diversen Baugittern mal als Puff, mal als Bettlerfabrik, mal als Mackies Knastkäfig herhalten.
Trotzdem kommt nach und nach Stimmung in die Bude, unterlegt von den feinen, vielseitigen Sounds der Kapelle, zu denen das Gossenpersonal die legendären Balladen schön hinreißend und traurig und rustikal und frech und trashig singt.
Mit Verfremdungseffekten oder aktuellen Anspielungen hält man sich eher zurück. Allein, dass das inklusive Tonne-Ensemble tragend mitspielt und (mit Rollstühlen) zwischen Peachums Bettelmafia und Mackies Hochzeit hin- und herwuselt, verleiht dieser Dreigroschensause eine weitere doppelbödige und eigenwillige Note: Hier performt eine echte Randgruppe und lässt die Oper der Ausgegrenzten munter auf der Grenze zwischen Theater und Wirklichkeit tanzen. Und bevölkert die Szenerie als Mackies burleske Bande, als Rapper, Hinterhof-Kleriker (Jochen Rominger), als korrupte Polizistin (Anne-Kathrin Killguss), als Huren, Bettler, Kleinkriminelle.
Die wiederum von Mackie und Peachum hemmungslos ausgebeutet und drangsaliert werden: Bahatin Güngör wird von Mackie derbe in den Hintern getreten. Santiago Österle rutscht ohne seinen Rollstuhl auf dem Boden herum und spielt den auf Krüppel getunten Bettler Filch: sagenhaft.
Besonders mächtig kommen die Chorszenen daher, wenn alle zusammen zur »Demonstration des Elends« aufmarschieren. Bis es so weit ist, muss auch Thomas B. Hoffmann als Mackie Messer einiges einstecken, weil er nicht nur der smarte Gentleman mit guten Beziehungen nach ganz oben ist, sondern auch ein garstiger, unsympathischer Mackie Macker.
Saftiger Gesang
Maria Magdalena Rabl betört das Publikum mit ihrem entzückend frechen und saftigen Gesang. Hat aber als naiv verliebte Polly im durchökonomisierten Männerdschungel so wenig zu melden wie alle andern Soho-Täubchen. Mit Lucy (Noemi Fulli) liefert sie sich ein schön schräges Zickenduett. Und muss sich sonst mit ihrer bieder-hysterischen Mutter (Chrysi Taoussanis) herumschlagen, die mit ihrer Frisur aussieht wie eine aus dem Dohlengässle, und ihr operettenhaftes Gezwitscher mit echt dirty Stimmexzessen garniert.
Ihr verschlagener Gatte Peachum (David Liske) wiederum weiß die Verhältnisse prima zu nutzen, kann es aber nicht verputzen, dass sein schärfster Konkurrent seine Tochter entführt. Am Ende wird Mackie wie immer vom »reitenden Boten« gerettet: eine lustige Opern-Parodie von Sebastian Hammer, der sonst als Polizeichef wegen seiner vielen Verbindlichkeiten enormen Stress hat und deshalb alles zwischen herzhaft schleimig und gruselig cholerisch abfeiert: kanonig!
Und die Moral von der Geschichte? »Es geht auch anders, aber so geht es auch.«