Schrecken der Reutlinger Unterwelt

von Christoph B. Ströhle

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 09.07.2022

 

Sommertheater – In der Tonne-Produktion »Die Frösche« geleiten vier Dionysosse das Publikum in den Hades

 

REUTLINGEN. Vergessen Sie die 3-D-Brillen, die es im Kino manchmal gibt! Beim Reutlinger Sommertheater »Die Frösche. Ein theatraler Spaziergang durch die Reutlinger Unterwelt« von Marion Schneider-Bast sehr frei nach Aristophanes wird die ganze Stadt zur räumlichen, plastisch zu greifenden Unterwelt, in der sich Untote, Höllenhunde und -pferde sowie Monster bewegen. Dass es eigentlich nur ganz normale Passanten, Hunde, Fahrradfahrer und Autos sind, hat man, kaum dass man sich mit Dionysos, dem griechischen Gott des Weins, der Freude, der Fruchtbarkeit, des Wahnsinns und der Ekstase, auf die Reise in den Hades, sprich durch Reutlingen begeben hat, vergessen.

 

Man ist in dieser wunderbar schrägen und originellen Produktion des Theaters Die Tonne (Regie: Marion Schneider-Bast, Dramaturgie: Sandra Omlor), die am Donnerstagabend Premiere feierte und bis zum 31. Juli zu sehen ist, ganz real zu Fuß durch die Altstadt unterwegs, quert die Lederstraße mal ober-, mal unterirdisch und trifft am Echazufer auf seltsam aussehende, menschengroße Wesen, die singen. Es sind die titelgebenden Frösche.

 

Die Schauspielerin Stefanie Klimkait hält in unserer Gruppe den Orientierungsplan in Händen, den ihr auf der Open-Air-Bühne im Spitalhof Herakles (Jonas Breitstadt) mitgegeben hat. Versehen mit der Warnung, dass der Gang durch die Unterwelt ein mit Schrecken gepflasterter ist. Neben Klimkait sind auch ihre Kollegen Thomas B. Hoffmann, David Liske und Jessica Schultheis mit je einer Gruppe als Dionysos unterwegs, wobei das Publikum die Rolle des Begleiters Xanthias zugewiesen bekommen hat und dazu die Aufgabe, zwischendurch zu quengeln und zu nörgeln.

 

Warum aber macht sich (der vierfache) Dionysos auf diese strapaziös-abenteuerliche Reise? Er will aus einer Laune heraus seinen Lieblingsdichter Euripides wieder zum Leben erwecken. Und eben aus dem Totenreich zurückholen.

 

Als Schauspieler, die eine oder mehrere Rollen spielen, haben sich die Akteure eingangs vorgestellt und sind darüber in Streit geraten, wer denn nun auf der Bühne Dionysos mimt. Jessica Schultheis will den Einwand nicht gelten lassen, dass sie ja unmöglich Dionysos und Euripides spielen kann. Genau so etwas, erwidert sie, wollten die Leute sehen: dass sie sich als Figur eben selbst aus dem Totenreich befreit. Ein augenzwinkernder Seitenhieb auf das moderne Regietheater.

 

Versteinerte in den Schaufenstern

 

Zu Pluton, dem Gott der Totenwelt in der Erdtiefe, zu gelangen, ist nun das Ziel, und überall lauern Gefahren. Da ist der Uringestank in der Lederstraßen-Unterführung noch das geringste Übel (aber natürlich ein unheilvolles Zeichen). Bäume, so heißt es, seien nicht nur Bäume, sondern könnten Menschen, die ihnen zu nahe kommen, verschwinden lassen. Die Schaufensterpuppen, die wir in der Altstadt passieren, sind von den Gorgonen versteinerte Menschen, erfahren wir. Das wirkt: Wir sehen die Stadt plötzlich wirklich vollkommen anders.

 

Als Dionysos’ Begleiter Xanthias bekommen wir auch reale Abgründe Reutlingens und die dazugehörigen Orte zu sehen: ein, wie Herakles es im Spitalhof formuliert hat, »wunderschönes Gebäude, das sich als himmlisch tarnt, in dem Höllenengel heiraten; Orte der wildesten und hemmungslosesten Leidenschaft und Lust; Plätze, wo Feuer zerstörerisch gewütet haben; den Hades selbst«. Klimkait wiederholt auch Herakles’ Warnung, sich in Acht zu nehmen vor den »tiefsten und dunkelsten Tunneln, die alles durchziehen«.

 

Auf dem Weg begegnen wir immer wieder einem Straßenmusiker, dargestellt von Michael Schneider, der die immer gleiche Melodie auf verschiedenen Instrumenten variiert. An einer Stelle warnt Klimkait, sich vom Sirenengesang, der aus seiner Richtung kommt, nicht die Sinne vernebeln zu lassen.

 

Als abgehalfterter, volltrunkener König beziehungsweise als Königstochter (ein Wesen, das vage an einen Frosch erinnert) kreuzt Jonas Breitstadt, der vorher noch Herakles war und später den Tragödiendichter Aischylos darstellen wird, unseren Weg und rezitiert ein dadaistisch angehauchtes Gedicht von Friedhelm Kändler über Dornröschen (das »Röschen« gesprochen mit »sch«).

 

Zurück im Spitalhof, dessen Bühne (Ausstattung: Iskra Jovanovic´-Glavaš) nun heller, freundlicher wirkt, begrüßt ein Projektchor (den man vorher schon in der Rolle der Frösche an der Echaz gehört hat) die Reisenden mit Mozarts »Triumph … Kommt, tretet in den Tempel ein!«

 

Ist der Pluton auf der Bühne etwa identisch mit dem Straßenmusiker, fragt man sich? Und sieht in einem Wettstreit darüber, wer den Hades verlassen darf, Euripides und Aischylos wortreich gegeneinander antreten. Schließlich trägt einer den anderen immer wieder wie ein zu entfernendes Denkmal weg. Und nun zeigt sich, wen das Publikum ausersehen hat, ins Reich der Lebenden zurückzukehren. Die Zuschauer haben, ohne zu ahnen, worum es geht, vor Beginn des Theaterabends einen Zettel ausgefüllt, auf dem jeder einen Bühnendichter nennen sollte, der besonders vermisst wird. Was für ein Coup! So wird die Rolle des Deus ex machina dem Publikum, ja einer Schwarmintelligenz zugewiesen.

 

Musikalisch (verantwortlich: Michael Schneider und Ulrike Härter) klingt der Abend aus – mit der Erkenntnis, dass der Tod uns alle ereilt. Früher oder später. Als atmosphärisch und witzig, albern und erkenntnisfördernd bleibt der Theaterabend in Erinnerung. Doch Vorsicht: Man wird danach nicht mehr so unbefangen wie vorher durch Reutlingen gehen!

 

 

Höllisches Quaken aus der Reutlinger Unterwelt

von Anja Weiß

REUTLINGER NACHRICHTEN, 12.07.2022

 

Reutlingen – Unterwegs im Hades, umgeben von Untoten, Fabelwesen und Fröschen: Die Tornne begibt sich mit ihrem Sommertheater auf neue Wege

 

»Vorsicht! Bitte achten Sie auf die Gullydeckel. Erst gestern habe ich einen Mitreisenden hier verloren.« Schauspieler David Liske wedelt wild mit dem Arm, die Theaterbesucher machen einen großen Schritt, um über diese gefährliche Falle wohlbehalten hinwegzukommen.

 

Eine antike Komödie hat sich das Reutlinger Stadttheater Tonne in diesem Jahr fürs Sommerprogramm ausgewählt: »Die Frösche« von Aristophanes. Allerdings ist dieser Klassiker in der Reutlinger Adaption von Marion Schneider-Bast sehr frei interpretiert: Im Grunde belässt sie es beim Grundgerüst der Geschichte, in der sich der Gott Dionysos mit seinem Sklaven Xanthias auf Abenteuerreise begibt, um den größten Dichter aller Zeiten aus dem Hades zu befreien und zurück in die Welt der Lebenden zu holen. Dionysos, das sind in diesem Fall neben Liske die Tonne-Schauspieler Thomas B. Hoffmann, Stefanie Klimkait und Jessica Schultheis. Xanthias – das sind die Theaterbesucher, aufgeteilt in vier Gruppen, die jeweils hinter einem Gott herlaufen dürfen.

 

Die Stadt wird zur Bühne

 

Los geht’s im Spitalhof (nach einer kurzen, einführenden Szene in die Geschichte) zu einem theatralen Spaziergang, der seinesgleichen sucht. Es ist eine Odyssee durch die Lokalgeschichte der Stadt. Dabei startet Dionysos recht albern, mit den besagten Gullydeckeln als Einstieg ins Reich der Toten, er warnt vor Greifen und anderen Ungeheuern, die über der Stadt kreisen oder die auf vier Rädern über die Straßen rasen. Nachtschwärmer werden zu Untoten, die Innenstadt wird zur Kulisse des Stücks, ihre Bewohner zu Statisten.

 

Geschickt werden reale Gegenstände genutzt, Straßenschilder, Brunnen (von denen es wahrlich genug gibt), Brücken mutieren zum Teil der Geschichte, an der Echaz und am Zunftbrunnen warten Überraschungen auf die Gäste, es wird gesungen und musiziert, und natürlich erklingt auch ein lautes Quaken aus der Unterwelt. Der Name ist Programm. So erfährt man, was Dornröschen mit Fröschen zu tun hat und wie es um die Literaten in der Stadt bestellt ist.

 

Auch spontanes Improtheater müssen die vier göttlichen Stadtführer drauf haben, denn oft kommt es zu Interaktionen: Die zahlenden Zuschauer treten in den Dialog mit den Schauspielern, aber oft sind es auch zufällige Passanten, die ins Geschehen eingreifen. Sie bleiben stehen, geben Kommentare ab, werden unfreiwillig zum Teil des Spektakels.

 

Doch es sind nicht nur Komödie und Albernheiten, die die Zuschauer bei diesem Spaziergang erwarten, sondern die Stimmung wechselt immer wieder. Es werden Orte aufgesucht, an denen Schlimmes passierte, Dinge, die einem zeigen, dass die Hölle nicht nur in der Unterwelt, im Hades, ist, sondern so manches Mal auch auf Erden. Reutlingen ist eben  nicht nur die malerische Achalmstadt am Rand der Schwäbischen Alb, sondern auch ein Ort, an dem sich Böses und Tragödien zugetragen haben.

 

Sei es der große Stadtbrand am 23. September 1726, der sich bis heute ins kollektive Gedächtnis der Stadtbewohner eingebrannt hat, Judenverfolgung, Hexenverbrennung, Engel, die direkt aus der Hölle entstiegen sind – alles ist vertreten. Es soll hier nicht zu viel verraten werden, um die Spannung nicht zu verderben, aber eines ist klar: Nach dem Theaterabend sieht man Reutlingen mit anderen Augen.

 

Das furiose Finale steigt dann wieder im Spitalhof, inklusive Zuschauerbeteiligung und dem obligatorischen Deus ex machina. Die Chöre singen, ein Dionysos schlüpft in weitere Rollen, und die Frage bleibt: Gelingt es, den größten Dichter aller Zeiten wieder ins Diesseits zu holen? Allerdings müsste man dafür erst entscheiden, wer überhaupt der größte Dichter aller Zeiten war.

 

 

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