SCHEITERN OHNE ALLE SELBSTZWEIFEL

von Monique Cantré
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 23.02.2013



Theater - In der Regie von Oleg Myrzak wird Tschechows »Möwe« an der Tonne zu packendem Schauspielertheater

REUTLINGEN . Da sitzen sie am Ende maskiert beisammen und begrüßen mit erhobenen Gläsern ein neues Jahr, diese Künstler und Intelligenzler, an denen die Zeit vorbeirast, während sie sich selbst genug sind. Über die Wand hinter der Silvesterparty flimmert zur russischen Nationalhymne ein Filmzusammenschnitt, der die aktuelle Moskauer Politik illustriert mit ihren nationalistischen Symbolen der Kreml-Machtentfaltung, mit Militär und Sport, Kirche, Folklore und ratternden Gelddruckmaschinen.

Unmittelbar davor hat sich der junge Dichter Konstantin erschossen. Eine deprimierende und verletzende Begegnung mit seiner noch immer geliebten Nina, die ihr Scheitern auf der Bühne und im Privatleben im Alkohol ertränkt, hat ihm den Rest gegeben. Vor dem finalen Schuss schreddert er noch seine Manuskripte. Er ist von seiner Schriftstellerei längst nicht mehr so überzeugt wie zwei Jahre zuvor, am Beginn der Aufführung, als er in der Inszenierung von Oleg Myrzak mit Piratenkopftuch und mit dem spanischen Bürgerkriegs-Schlachtruf »¡No pasarán!« (Sie werden nicht durchkommen!) samt erhobener Faust auf dem T-Shirt avantgardistisches Theater - mit Nina - ausprobierte.

BEZUG ZUM HEUTIGEN RUSSLAND
Anton Tschechows traurige Komödie »Die Möwe« von 1896 kommt nicht zuletzt deshalb so oft auf die Bühne, weil sie sich mit dem Theater selbst befasst, also die Chance zu einer Nabelschau bietet. In den beiden Schriftstellern, die darin vorkommen, spiegeln sich überdies Facetten von Tschechows eigenen Berufserfahrungen. Oleg Myrzak blendet das keineswegs aus, aber seine Inszenierung setzt das Augenmerk mit aller Tiefenschärfe auf die Figuren und ihr saturiertes Dasein. Er definiert sie als Menschen des heutigen Russland angesichts von (gefilmten) niedergeknüppelten Demonstrationen gegen Putin.

Auf der weiten, leeren Spielfläche der Planie 22 entwickelt sich allein aus den Dialogen und dem bezeichnenden Verhalten der Figuren das Drama einer in Stagnation erstarrten bildungsbürgerlichen Gesellschaftsschicht, der es doch eigentlich gegeben wäre, nach neuen Ufern aufzubrechen - wenn sie nicht zu sehr mit ihren Eitelkeiten beschäftigt wäre und sich dadurch seelisch abwirtschaften würde. Lediglich in den Kostümen werden noch von außen die Charaktere veranschaulicht, alles andere ist der Schauspielkunst des Ensembles überantwortet, und das kann in dieser Produktion wahrlich begeistern.

Überzeugend in die Aufführung sind auch die Darsteller der beiden Bediensteten Jakow und Polina integriert: Walter Rebstock und Katja Trumpold von der an der Tonne ausgebildeten Behinderten-Gruppe. Nicht nur, dass ihr Rollenspiel mit einigem Text gut klappt, ihre Ausstrahlung als einfache, offene Menschen gegenüber der gelackten Herrschaft ist schlichtweg entlarvend!

Beherrscht wird die feine Gesellschaft im idyllischen Landhaus am See von der gefeierten Schauspielerin Irina Nikolajewna Arkadina, der Schwester des kränkelnden Hausherrn. Chrysi Taoussanis führt mit dieser exaltierten Diva eine Meisterleistung der darstellenden Kunst vor Augen. Sie spielt so dicht, so genau in jeder kleinsten Regung und in jedem Wort diese grässliche, von Selbstzweifel unbeleckte Egoistin, dass man als Zuschauer unwillkürlich Aggressionen gegen diese furchtbare Schöne entwickelt.

Man erlebt sie, wie sie ihren Sohn Konstantin mit arrogantem Spott über sein Erstlingswerk gewissermaßen im Handstreich niedermacht. Später lässt sie sich zum Bellini-Belcanto »Casta diva« aus dem Lautsprecher die Fußnägel machen sowie Botox spritzen und über ihre stets glänzende Erscheinung schwadronieren, und auch als Furie kommt sie an ihr Ziel: Als ihr Geliebter Trigorin sie verlassen will, bespringt sie ihn wie ein Teufel, jagt ihn durch den Saal, drückt ihn auf den Billardtisch und schreit immer wieder: »Du Prächtiger, du gehörst mir«, bis er kapituliert: »Ich habe keinen eigenen Willen mehr.«

Die übrigen sechs Mitwirkenden sind Gäste aus Berlin, die Oleg Myrzak für »Die Möwe« nach Reutlingen gebracht hat und die teilweise schon an der Tonne gespielt haben. Eine exquisite Charakterstudie gibt Folke Paulsen als Arzt ab, der sich einen eigenen Blick auf die Dinge erlaubt, ohne Skrupel Drogen verkauft und ebenso zynisch wie menschlich wirkt.

BERÜHRENDE DARSTELLUNGEN
Gero Mertens spielt den smarten Belletristen Trigorin, der einen klaren Blick auf sein Milieu hat, sich aber doch sentimentale Illusionen erlaubt. Eckart Schönbeck stellt den gehandicapten Ex-Staatsrat Sorin dar, Recardo Koppe den unglücklichen Konstantin. Als Mascha, die aufgrund von Myrzaks kürzender Bearbeitung des Stücks unverheiratet ist, gibt Margot Binder eine berührende Vorstellung; und in der Rolle der verheizten Jungschauspielerin Nina, die zu Beginn in ihrem Lebenshunger so anrührend naiv war, ist Cornelia Werner zu sehen.

Nach der etwa zweieinhalbstündigen Premiere am Donnerstag gab es lang anhaltenden Applaus. Wer gutes und spannendes Schauspiel liebt, der muss diese »Möwe« besuchen.

 

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