NICHTS ALS STUHL IM HIRN GEHABT

von Matthias Reichert
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 20.04.2013



Sprachmächtiges Fäkaliendrama: Die Reutlinger Tonne reüssiert mit Werner Schwabs »Präsidentinnen«

REUTLINGEN. »Die Präsidentinnen« bedeuteten für den Grazer Autor Werner Schwab, der 1994 an einer Alkoholvergiftung mit nur 35 Jahren verstarb, den Durchbruch. Bis heute wird das Stück landauf, landab auf den Bühnen gefeiert. Jetzt auch in Reutlingen. Tonne-Intendant Enrico Urbanek hat es mit drei glänzend aufgelegten Diven trefflich inszeniert, am Donnerstag war die Premiere im Spitalhofkeller.(...)

UNTERM STRICH
Nichts für Menschen mit schlechter Verdauung und hehrer Moral. Aber die Freunde des schwarzen Humors kommen voll auf ihre Kosten. Eine rasante Inszenierung mit Pfiff und drei glänzenden Akteurinnen - eine Sternstunde an der Tonne.

 

 

DAS LEBEN AUSHALTEN, SO WIE ES IST

von Carina Stefak
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 20.04.2013



REUTLINGEN. »Man muss die Wörter sprechen, wie sie heraus wollen und die Feste feiern, wie sie herunterfallen«, findet Grete und sagt es mit Nachdruck. Damit spricht sie ihrem Erschaffer, dem 1994 gestorbenen Dramatiker Werner Schwab, sicherlich aus der Seele. Bekannt für seinen derben Sprachstil und diverse Kraftausdrücke, greift er auch – oder gerade – in seinem Fäkaliendrama »Die Präsidentinnen« eifrig auf sie zurück. Tonne-Intendant Enrico Urbanek hat sich der Sache angenommen und das Stück auf die Spitalhof-Bühne gebracht, unter der Mithilfe von Nicoletta Backhaus (Regieassistenz).

Die Geschichte beginnt mit der jüngsten Papstwahl, die sich Mariedl (Bärbel Röhl), Grete (Kathrin Becker) und Erna (Petra Afonin) im »Fernsehen« ansehen. Sie sehen das Publikum und dieses sieht eine Projektion der Ereignisse auf die Fotowand hinter den Damen (Ausstattung: Ilona Lenk). Ein wunderbarer Aufhänger, finden diese, um über Religion zu reden, über die Menschen und über das Leben an sich. Nebenher bemalen sie Gartenzwerge, Mariedl und Erna jedenfalls, Grete bemalt ihre Fingernägel.

Alle drei könnten unterschiedlicher nicht sein, gemein ist ihnen höchstens eines: ihre gekrachte Existenz. Grete, die gealterte Lebefrau, in Glitzertop und Tigerleggins, bunt vor Schminke und Nagellack, ist geschieden und verwitwet und hat außer Hündin Lydi niemanden, weil Tochter Hannelore nach Australien abgehauen ist. Erna, die Sparsamkeitsmaus in Kittelschürze, freut sich über ihren gebrauchten Fernseher und lebt ansonsten nur für die Religion. Sie leidet unter ihrem bindungsscheuen Sohn Herrmann, der ihr ihr ganzes Leben schon querschießt.

Und die verschüchterte Mariedl, die auf Strickjacke und Hörnchenfrisur setzt, ist immer noch auf der Suche nach sich selbst und findet es in verschiedenen Kloschüsseln, die sie von Verstopfungen befreit – voller Hingabe und ohne Handschuhe, denn »die Mariedl macht’s auch ohne Gummi«. Während sie eifrig in den Abort-Tiefen wühlt, fühlt sie sich erst so richtig gebraucht.

DAS TRIO PASST PERFEKT
Becker (Grete) überzeugt als jung gebliebene Träumerin, die weder ihren gealterten Körper noch ihre Bedürfnisse verstecken will, Afonin als zeternde Spießer-Hausfrau, die sich jedwede Gefühlsregung verbietet und meckernd Pessimismus in die Welt treibt, und Röhl als goldig-süßes Hascherl, das sich in seiner Unsicherheit nach ein bisschen Aufmerksamkeit sehnt. Als Zuschauer mag man sie jedoch alle: Das Trio der Darstellerinnen passt perfekt zusammen.

Lange reden die drei über das, was ist und über das, was im Leben schief läuft. Um Herrmanns nicht vorhandenen »Verkehr« geht es dabei, um seinen »Stuhlgang« in allen Facetten, um einen Finger in Gretes »Hintern«, um eine »Nazi«, eine »Hur« oder »tranchierte Sau« und um diverse »Scheißhaufen« des Lebens. Doch sie zanken auch untereinander: Grete ist Erna zu spaßversessen, Erna ist Grete zu krittelig. So gibt es mitunter ein rechtes Gezeter und es kommt zu Handgreiflichkeiten. Wäre da nicht die harmoniesüchtige Mariedl, die schnell schaltet und butterweich sagt: »Jetzt müsst ihr euch wieder vertragen, es muss sofort eine Nächstenliebe aufgebaut werden!«

Doch es geht auch um das, wie es sein soll, und so träumen sich die drei davon, stricken an einer Geschichte voller Sehnsüchte – jede für sich und im Wettstreit mit den anderen. Um Liebe geht es und um Anerkennung. Um Männer und Heiraten und das ewige Glück. Doch letztlich landen alle drei unsanft auf dem harten Boden der Tatsachen. Die Träume zerplatzen wie so mancher Schädel. Es kommt so, wie es Schwab haben wollte, denn er war davon überzeugt: Man hat kein Recht auf Glück, sondern ein unverschämtes Recht auf das, wie es ist. Man muss die Welt aushalten können, so wie sie ist.

 

 

MENSCHLICHE SEELENGÜLLE

von Kathrin Kipp
REUTLINGER NACHRICHTEN, 20.04.2013



An der Tonne tagt seit Donnerstag Werner Schwabs groteskes Höllentrio: Petra Afonin, Kathrin Becker und Bärbel Röhl verbreiten menschliche Seelengülle - phantastische, schwarzweiße Kittelschurzvisionen.

Vor einer Riesen-Collage mit lauter (historischen) Reutlinger Fotografien sitzen die drei unscheinbaren und scheinbar heiligen Anal-Furien. Sie schauen sich die erste Rede des neuen Papstes an und tun recht ergriffen: Bärbel Röhl als dauerbeseelte Mariedl, Petra Afonin als moralverstopfte Erna und Kathrin Becker als männer- und hundfixierte Grete können offenbar kein Wässerchen trüben und rühren mit ihren verdrehten Moralphrasen doch am Grund der menschlichen Urjauche herum.

Sie philosophieren über Stuhlgangvorgänge, übers Geschlechtliche, übers Menschliche und übers Männliche und halten sich selbst für unanfechtbar: Selbstgerechte Megären mit Riesendefiziten im Gefühligen und Tatsächlichen.

Regisseur Enrico Urbanek setzt seine drei mit allen Wassern schon gewaschenen Schauspielerinnen an drei Tischchen und lässt sie phallische Gipsgartenzwergchen modellieren, anmalen und verpacken, als wäre man in einem unschuldigen VHS-Töpferkurs. Das Trio spielt Werner Schwabs Fäkalporno-Stück wohltuend dezent runter, zeigt sich dabei wahnsinnskopfgesteuert, wirft eben nicht mit Blut und Scheiße, sondern agiert allein mit der Kraft des Wortes.

Man vertraut eben ganz auf die Wirkung des schwerverdaulichen und vertrackten Textes, der von sich aus ja schon saftig und doppelbödig genug ist. Allerdings - man weiß nicht so recht: agieren hier überhaupt noch lebendige Wesen oder sind das schon reine Kunstfiguren? Zumindest interagieren sie kaum miteinander, jede schleudert das Textliche in Richtung Publikum, und auch später, als sie sich sehnsüchtig in ihre Liebes-Visionen hineinphantasieren, sitzen sie in drei getrennten Türen zum vermeintlichen Glück. Die Fotowand (von Ilona Lenk) wirft den ganzen sprachlichen Dreck und seelischen Müll konkret zurück in Richtung Publikum. Was man da im Parodie-Spiegel sieht, ist nicht besonders schön. Es geht um die trübe Brühe mit unverdauten Festkörpern, die sich ganz unten im Enddarm der Volksseele festgesetzt hat und eine generalisierte Verstopfung verursacht. Es geht um die abartigen Formen der menschlichen Liebe und Triebe, es geht ums Nazi-, Spießer- und Gartenzwergtum, das in uns allen steckt, und darum, dass der Mensch trotz aller Zivilisationsversuche nicht viel weitergekommen ist als bis zum (sexuellen) Kannibalismus.

Der Mensch sieht sich gerne als Opfer der Vorsehung, ist aber vielmehr der vorsehende Täter. Und das Stück ist auch eine wahre Fund- und Jauchegrube für alle Freudianer, Traumdeuter und andere Symbolisten. Was hat uns wohl der ewige Leberkäs zu sagen? Was die ganzen Verstopfungen, die »Zeichenverwicklungen«, die »schlechten Einbildungen«? Ist das alles ganz konkret, oder doch nur »sinnbildlich«? Jedenfalls steckt jede Menge Sinn, Unsinn und garstiger Spaß im Text, weshalb er auch landauf und landab gespielt wird. Und die drei Schauspielerinnen erweisen sich dann doch nicht nur als Textflächen, sondern werden ein wenig Mensch aus Fleisch und Blut und mit Charakter. Denn die Schwabsche Satire ist auch eine Abrechnung mit dem Katholizismus, der Wasser predigt und Wein säuft und sexuellen Missbrauch und andere menschliche Gräueltaten gerne mal unter den Teppich kehrt.

Petra Afonin hat als Erna diesen Geist flaschenweise aufgesogen: Sie verkörpert als vertrocknete Heilige den Traum von der fleischlosen Liebe - ausgerechnet mit dem Fleischer Karl Wottila, dem die Maria schon persönlich erschienen ist.

Erna hat die ganze Sünde in ihrem Leben schon ausgeschieden, wenn auch unter Schmerzen, und so wohnt die Sünde jetzt ihrem Sohn Herrmann inne: ein versoffener »Verkehrsverweigerer«, der ihr alles Glück im Leben raubt. Aber Erna erspart sich sowieso am liebsten das ganze Leben. Petra Afonin gibt sich mit der legendären Pelzmütze auf dem Kopf geizig, verkniffen, verbohrt, kratzbürstig, kurzum: sehr verstopft. Ganz anders Kathrin Becker: Mit ihrer schiefen Perücke und den lackierten Fingernägeln sieht sie in Sachen Fleischeslust, Nazitum und Missbrauch von Minderjährigen alles nicht ganz so eng, träumt sich lieber in die dicke Hose von Freddy hinein, der mit ihr eklig unanständige Sachen macht.

Bärbel Röhl als unscheinbare Mariedl berauscht sich dauerlächelnd an ihrer Hilfsneurose mit kleinen Zwischenexplosionen. Als Erlöserin will sie für Gotteslohn und ohne Gummihandschuhe die Menschheit von ihren Verstopfungen befreien, um zur reinen Wahrheit vorzudringen. Ein waschechter Märtyrertod ist da nur die logische Folge.

 

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