Verhärtungen und offene Wunden

von Christoph B. Ströhle

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 18.07.2020

 

Sommertheater − Stephanie Rolser inszeniert Friedrich Schillers »Die Räuber« als packendes Seelendrama

 

REUTLINGEN. In der ganzen Geschichte des Menschen, schreibt Friedrich Schiller, sei »kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verwirrungen«. Diese Verwirrungen zeigt der gebürtige Marbacher in seinem frühen Drama »Die Räuber«, uraufgeführt 1782.

 

Er hätte auch zur biblischen Geschichte von Kain und Abel greifen können und ähnliche Abgründe vorgefunden. So aber blickt man in die sich verfinsternde Seele von Franz. Der jüngere Sohn des Grafen von Moor fühlt sich von seinem Vater und von Amalia, der Freundin seines Bruders Karl, bei Weitem nicht so geliebt wie eben dieser Karl. Trotzig und mit zunehmendem Nihilismus, der sein mangelndes Selbstbewusstsein ersetzen soll, räumt er alles aus dem Weg, was ihn einschränkt. »Herr muss ich sein, dass ich das mit Gewalt ertrotze, wozu mir die Liebenswürdigkeit gebricht.« Dafür geht Franz über Leichen.

 

Vom Idealisten zum Verbrecher

Daniel Tille spielt diese Figur, der nichts heilig ist, allenfalls das Recht des Stärkeren, beim Reutlinger Sommertheater der Tonne mit einer Mischung aus Abgebrühtheit und Verletzlichkeit, an der dieser Franz Moor zerbricht. Bei der Premiere am Donnerstagabend erhielt er, erhielten die übrigen Schauspieler und das Team hinter der Bühne verdient satten Applaus. Die Aufführung war wie die Premiere im Vorjahr wegen schlechten Wetters in den großen Tonne-Saal verlegt worden. Normalerweise findet das Sommertheater − in diesem Jahr bis zum 9. August − unter freiem Himmel im Spitalhof statt.

 

David Liske verkörpert Franz´Bruder Karl, einen idealistischen Rebellen. Man nimmt ihm seine charismatische Erscheinung und das, so Schiller, »enthusiastische Träumen von Größe und Wirksamkeit« ab.

 

Karl ist anfangs eine ehrliche Haut, eine Art Robin Hood. Zum schändlichen Verbrecher und Mordbrenner wird er erst, als er sich von seinem Vater zu Unrecht verstoßen glaubt. Irgendwann steht sein Schwur der Räuberbande gegenüber, die ihn zum Hauptmann ernannt hat, zwischen ihm und Amalia. Jessica Schultheis, die in einigen Szenen auch den Räuber Roller gibt, kommt als Amalia dem Idealbild der absoluten, hingebungsvollen, reinen Liebe, wie Schiller sie zeichnet, sehr nah. Den Moment einer kurzen Wiederannäherung mit Karl verlegt Regisseurin Stephanie Rolser in ein Schattenspiel. Das wirkt in Zeiten von Abstandsregeln coronagerecht und macht gleichzeitig augenfällig, dass ihr Wiederzusammenkommen eine Vision, ja ein Trugbild ist.

 

Mitleidloses Credo

Chrysi Taoussanis ist in der Rolle als intriganter Gegenspieler Karl Moors, Moritz Spiegelberg, so gewissenlos, wie sie als Dienerin unbestechlich ist. Marcus Krone, der das Schauspielensemble komplettiert, weiß als Schweizer, als Hermann und als Pater zu überzeugen.

 

Rolsers Textfassung ist sehr komprimiert und lässt die Stärken des Stücks gut zur Geltung kommen, ohne sich in Nebenhandlungen oder langen Wortgefechten zu verlieren. Grundiert wird das Ganze von Christian Dähns teils atmosphärisch-sinnlicher, teils vorwärtstreibender oder rockiger Musik. Und die Brüder Moor singen auch im Stück, jeder für sich. Karl, indem er sein Glück mit Amalia herbeiträumt, Franz, indem er (»Schwimme, wer schwimmen kann, und wer zu plump ist, geh unter!«) sein mitleidloses Credo wiedergibt.

 

Insgesamt wirkt die Inszenierung trotz der bilderreichen (von den Schauspielern wertgeschätzten) Sprache Schillers sehr heutig. Die Verletzungen und Konflikte, die Charakterbildung und Handlung im Stück vorantreiben, sind es allemal. Ausstatterin Dorota Wünsch schickt die Darsteller in heutiger Alltagskleidung auf die Bühne, die in zwei, den Brüdern zugeordnete Bereiche eingeteilt ist. Aufklapp- und überbrückbare, teils übermannshohe quaderartige Bühnenelemente prägen den Spielort. Franz verschanzt sich vor seinem Freitod in einem Turm, der er aus diesen Elementen baut. Für Amalia ist eine dieser Boxen Andachts- und Ruheort. Während Karl singt, sieht man ihren Schattenumriss hinter einer transparenten Quaderwand tanzen.

 

Dem Tonne-Theater kann man zur packend und intensiv geratenen neuen Produktion nur gratulieren. Sie ist, so düster sie als Familien- und Gesellschaftsbefund auch daherkommt, in Schillers Sinne großartiger Unterricht für Herz und Geist.

 

 

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