Befreiungsschlag der kleinen Krabbler

von Christoph B. Ströhle

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 02.11.2020

 

Theater − Mit der Krimi-Persiflage »Die Wanze« hat die Tonne ein höchst unterhaltsames neues Stück im Programm

 

Ob mit »Peterchens Mondfahrt« oder »Biene Maja«: Es hat noch nie geschadet, als Kind oder jung gebliebener Erwachsener die Welt aus der Krabbler- und Fluginsekten-Perspektive zu erleben. Einfach auch, weil sich dirch die veränderte Betrachtungsweise manch typisch Menschliches erschließt. Mit »Die Wanze«, einem Insektenkrimi nach Paul Shipton in einer Fassung von Karin Eppler und Gerd Ritter, lädt das Theater Die Tonne - wenn nicht gerade Wellenbrecher-Lockdown ist - ein zu alles andere für eine gute Stunde vergessen machenden Abenteuern mit Käfer, Ameise, Wespe und Co.

 

Die Premiere des Stücks mit einer Schauspielerin und einem Schauspieler haben Jung und Alt am Freitag mit begeistertem Applaus aufgenommen; weitere Aufführungen sind am 5., 29. und 30. Dezember geplant - sofern das Theater dann wieder spielen darf.

 

Karin Epplers Inszenierung gewinnt dem Stoff herrliche Momente ab. Im Zusammenwirken von Vesna Hiltmanns gleichermaßen klarem wie fantasieförderndem Bühnenbild, David Liske als erzählendem Käfer Muldoon und Chrysi Taoussanis in allen weiteren Rollen ist das geradezu grandios umgesetzt.

 

Von Muldoons Stammlokal aus unter den Rhabarberblättern findet man als Zuschauer rasch Vergnügen daran, dem Privatdetektiv in so manche Bredouille zu folgen, aber auch zu sehen, wie er in den »härtesten drei Tagen«, die er je erlebt hat, immer wieder abgebrüht und lauter seinem inneren Kompass folgt.

 

Einer Verschwörung auf der Spur

Chrysi Taoussanis gibt ihm als fahrige Stubenfliege Jake - er ist gerade mal wieder auf Zuckerentzug - nicht nur nützliche Hinweise, er ist auch in Momenten größter Gefahr helfend zur Stelle. Und Gefahr droht im Garten nicht nur einzelnen Tieren - was Muldoon aber erst nach und nach erkennt. Er hat den Auftrag erhalten, eine Gruppe separatistischer Ameisen, die den ganzen Staat in Aufruhr versetzt, ausfindig zu machen. Doch das eigentliche Problem scheint in geheimen Verbindungen zwischen Ameisen und Wespen zu liegen. Soll Muldoon zum Schweigen gebracht werden, weil er, ohne es zunächst zu ahnen, einer Verschwörung auf der Spur ist? Das Stück »für alle ab acht Jahren« baut langsam Spannung auf, ist Einladung sowohl zum Mitfiebern als auch zum Mitlachen, denn »Die Wanze« ist Krimi und Persiflage zugleich. Eine handfeste Keilerei kann da schon auch mal in ein witziges Zeitlupen-Spektakel ausarten.

 

Toll, wie Chrysi Taoussanis mit raschen Kostüm- und Haltungswechseln vom Ameisensoldaten zur Königin, vom Mistkäfer zur Stubenfliege oder zur Wespe wird. Kann sie gerade mal nicht da sein, hört man ihre Stimme eingespielt aus dem Off.

 

Die Spinne, die immer wieder für unheimliche Momente sorgt, ist lediglich mit Musik, Licht und Schatten angedeutet. Und wenn im Stück die Rede davon ist, dass das Blatt sich wendet, so ist das durchaus wörtlich zu nehmen. Im halb wilden, halb gepflegten Garten gibt es schließlich jede Menge davon. Alles eine Frage der Perspektive. Der Mensch, dem das alles gehört, erscheint als das Überdimensionierte und Fremde. Doch auch ihm kommt beim Befreiungsschlag der unerschrockenen Krabbler eine gewisse Rolle zu. Wenn er nur davon wüsste!

 

So pointiert wie das Stück in dieser wunderbar lebendigen Fassung auf die Bühne kommt, hat es zweifellos das Zeug, sich an der Tonne zum Dauerbrenner zu entwickeln.

 

 

Aufstand im Ameisenstaat

von Bernhard Haage

SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 02.11.2020

 

Familientheater − In der Tonne war nach der Premiere der Neuinszenierung von Paul Shiptons »Die Wanze« noch eine Vorstellung. Danach wurde bis auf weiteres alles abgesagt

 

Muldoon, die Wanze, ist eigentlich ein Käfer. Aber das ist eine andere Geschichte, so wie es viele andere Geschichten gibt im riesigen Insektenreich eines Gartens. Der amerikanische Autor Paul Shipton, der eigentlich ein Engländer ist, hat aus der Wanze (die eigentlich ein Käfer ist) einen genialen Detektiv gemacht und die Theaterautorin Karin Eppler, die eigentlich Regisseurin ist, ein Theaterstück, das in Tübingen bereits bewiesen hat, dass es zum Dauerbrenner taugt.

 

In ihrer Reutlinger Inszenierung, die am Freitag im Theater Tonne Premiere hatte, übernehmen Chrysi Taoussanis und David Liske alle Rollen auf der Bühne. Das heißt: eigentlich ist die Bühne eine Insektenbar unter einer Rhabarberstaude in der Privatdetektiv Muldoon - die Wanze (Liske) regelmäßig seinen Rosentau mit einem kleinen Blatt Ligusterkraut schlürft. Auf das Ligusterkraut könnte er allerdings liebend gerne verzichten, aber das kapiert die schnoddrige Barkeeperin Dixy (Taoussanis) einfach nicht. Tja, und von hier aus gerät der nicht unsympathische, aber ein bisschen großspurige Detektiv in eine Geschichte um Machtintrigen und Individualismus im Ameisenstaat.

 

DIe Ameisenkönigin persönlich engagiert ihn nämlich, um einen »Club der Unverwechselbaren« auszuheben. Dahinter verbergen sich einige egozentrische Ameisen, die nicht mehr nur eine Nummer im Ameisenhaufen sein wollen. Sie treffen sich heimlich, machen Kunststücke oder Ausdruckstanz oder singen gar betörend schön »Moonriver«, wie Clarissa, die Ameise mit dem weißen Fleck auf dem Kopf.

 

Die Stubenfliege Zucker-Jake

Die Ameisenkönigin weiß freilich nicht, dass es eine viel größere Gefahr für sie und den Frieden im Garten gibt als die Individualisten. Ihr Sicherheitsbeauftragter Kommandant Krack plant nämlich einen Staatsstreich, den letztlich Muldoon - die Wanze, zusammen mit seinem Freund, der Stubenfliege Zucker-Jake, verhindert.

 

Egal ob sie gerade eine Wespe spielt, oder eine Ameisenkönigin, oder eine Stubenfliege Taoussanis zeigt ihre Klasse als Charakterdarstellerin. Es macht Spaß zuzusehen, wie sie sich binnen Sekunden souverän in ganz unterschiedliche Typen verwandelt. Das etwas Überzeichnete liegt ihr dabei besonders. Und Liske, der sich weniger verwandeln muss, schaukelt zwischen Slapstick und sympathischem Erzähler. Natürlich haut er sich im Ameisenhaufen immer am selben Balken den Kopf an und sein launiges Geplauder hat das menschliche Verlierer-Potenzial eines Philip Marlowe.

 

Dass die Handlung mehrmals unterbrochen wird, mit Bildeinblendungen und einer Stimme aus dem Off, die Wissenswertes aus der Biologie der Insekten erklärt, ist eine witzige Idee, die eines unterstreicht: Nichts ist, wie es scheint. Dieses Regiekonzept lässt die Handlung problemlos auch auf Gesellschaftsstrukturen der Menschen übertragen. Das gilt sicher auch für ältere Kinder.

 

Für diese ist »Die Wanze« auf jeden Fall geeignet und spannend genug, um bei der Sache zu bleiben. Ein reines Kinderstück ist dieser Krimi nicht. Das bewies auch das Premierenpublikum, das zu drei Vierteln aus Erwachsenen bestand und sich hörbar prächtig amüsierte.

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