Ein Hampelmann mit Eigenleben
von Christoph B. Ströhle
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 09.06.2018
Theater – Das inklusive Ensemble der Tonne zeigt »Diktatoren« und sorgt darin für manche Überraschung
REUTLINGEN. »Wie werde ich Diktator?« Über diese Frage klärt das Programmheft zur neuesten Produktion des Theaters Die Tonne auf. Auch darüber, warum es sich als solcher an der Macht bleibt. Auf der Tonne-Bühne im großen Saal bekommt man Unerwartetes geboten. »Diktatoren« heißt das vom inklusiven Ensemble am Donnerstag uraufgeführte Stück. Das Tonne-Team um Intendant, Regisseur und Ausstatter Enrico Urbanek hat es gemeinsam entwickelt.
Die Bühne wird dominiert von einer beeindruckenden Rednertribüne, auf der man sich Charlie Chaplin in der Rolle des »Großen Diktators« vorstellen kann. Rechts und links davon prangen Fahnen mit einem grimmig dreinblickenden, gefiederten Wappentier mit scharfen Krallen. Rot auf weißem Grund. Noch allerdings bleibt die Tribüne leer.
Es sei jedem unbenommen, frei seine Meinung zu äußern, verkündet eine der Figuren, die sich vor den vorderen Publikumsreihen wie bei einem Turmglockenspiel im Kreis drehen. Es ist en Zitat des früheren ugandischen Diktators Idi Amin, der freilich im gleichen Atemzug Konsequenzen für Leib und Leben androht.
Weitere Äußerungen von Tyrannen und Autokraten folgen, unter ihnen Napoleon Bonaparte und Walter Ulbricht, der für die Ostzone nach 1945 die Devise ausgibt: »Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben«. Auf dem Keyboard begleitet der musikalische Leiter der Produktion, Michael Schneider, den Reigen mit Spieluhrenklängen, die geeignet sind, das Publikum einzulullen.
Der neue starke Mann
Dann treten drei Minister auf, zuständig für Wirtschaft, Forschung und die Armee. Ein Präsident auf Lebenszeit soll eingesetzt werden, so wird verkündet. Das Staatsfernsehen ist live dabei. Nichts wird bei der Inszenierung dem Zufall überlassen. Nur einer könne den Staat lenken, nur einer dem Land zu der starken Stellung in der Welt verhelfen, die ihm zustehe, sagt der Wirtschaftsminister (Gabriele Wermeling) mit Hall unterlegter Stimme zu der versammelten Menschenmenge. Also dem Theaterpublikum. Das wird aufgefordert, die beschwörende Formel »Präsident auf Lebenszeit – Präsident für immer« nachzusprechen und dem Staatslenker zu huldigen. Wer sich weigert, landet ruckzuck auf einer schwarzen Liste. Oder wird direkt in den Folterkeller verbracht.
Dann ist es soweit: Ein Lichtkegel auf der Tür und erwartungsvolle Klänge kündigen Großes an. In strahlend weißer Uniform betritt ein eher kleiner Mann (Bahattin Güngör) mit schwarzem Vollbart, der zusammen mit einer überdimensionierten Militärmütze fast sein ganzes Gesicht verdeckt, den Raum.
Er ist der neue starke Mann, so wird ohne jeden Anflug von Subtilität suggeriert. Er erklimmt, nachdem er die Ehrenformation abgeschritten ist, die Tribüne, breitet Popstar-Pose die Arme aus und spricht. Verstehen kann man – Charlie Chaplin lässt grüßen – nichts. Als Fernsehstimme und Übersetzer versorgt Michael Schneider die Zuschauer mit allem Relevanten. Fazit: Es kann nur einen geben. Und: Wo immer subversive Elemente sich zeigen, sollen diese auf Linie gebracht oder beseitigt werden. Die Staatsapelle umrahmt die Autokraten-Kür mit einer Kakofonie aus Bläserklängen.
Was sich in der Folge zeigt: Der Diktator ist nur ein Hampelmann, eine Marionette, eine Witzfigur, von den Ministern dazu bestimmt, ihrem Diktat, ihrer Politik der harten Hand ein Gesicht zu geben. Eines, das von ihrem skrupellos egoistischen Machenschaften ablenkt und verschleiert, dass sie es sind, die die Zügel führen.
Ein von ihnen inszenierter Anschlag auf den Präsidenten erfüllt zweierlei Funktion Man kann anschließend sagen, dass er bei guter Gesundheit ist, ohne dass man ihn weiter in der Öffentlichkeit zu zeigen braucht. Und man kann Oppositionelle, die man zu Urhebern des Komplotts erklärt, mundtot machen.
Maßgeschneiderte Rollen
Als der Hampelmann dann aber in einem Anflug von Eigenwilligkeit ankündigt, 2000 politische Gefangene freizulassen, gerät die Elite der wahren Machthaber in Zugzwang. Damit hat keiner von ihnen gerechnet. Oder doch?
In einer der skurrilsten Szenen des Stücks tanzen (im wahrsten Sinne des Wortes (die Ersatzdiktatoren an und müssen in einem Kreistraining ihre Eignung als Präsidentennachfolger unter Beweis stellen. »Es ist wirklich nicht leicht mit dem vorhandenen Menschenmaterial«, klagt der Forschungsminister (Alfhild Karle).
Starke Bilder und zynische Zuspitzungen machen Urbaneks Inszenierung sehenswert. Hinzu kommen starke Schauspielleistungen des Ensembles, zu dem neben den Genannten Dunja Fuchs, Cornelius Hoffman-Kuhnt, Seyyah Inal, Anne-Kathrin Killguss, Dominik Lohmüller, Santiago Österle, Antje Rapp, Jochen Rominger, Franziska Schiller und Stephan Wiedwald zählen. Die einzelnen Rollen scheinen wie maßgeschneidert für sie und ihre jeweilige Begabung, sei dies nun der Umgang mit Sprache, Musik Bewegung oder Komik und Ernst.
Die Weltgeschichte als Karussell
von Kathrin Kipp
REUTLINGER NACHRICHTEN, 09.06.2018
»Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind«, prophezeite einst Erdogan. »Ich könnte mich auf die 5th Avenue stellen und auf jemanden schießen und trotzdem keinen einzigen Wähler verlieren«, prahlt Donald Trump: Das inklusive Ensemble der Tonne zitiert knackige Sprüche aktueller und vergangener Despoten und wandert dabei zu unschuldiger Musik und lieblichem Lichtspiel vielsagend im Kreis herum: Die Weltgeschichte ist ein Karussell, mit dem man immer wieder am gleichen Punkt landet.
Wie Diktaturen funktionieren, das erzählt die Uraufführung des Tonne/BAFF-Ensembles, das sich von Erich Kästners Satire »Die Schule der Diktatoren« hat inspirieren lassen. In lose aneinandergereihten Szenen bebildern die Schauspieler unter der Regie von Enrico Urbanek Wesen, Funktion, Wirken und Ästhetik einer Diktatur. Beeindruckend, mit welchen teils schlichten Zugaben und phantasievollen Bildern komplexe Inhalte zum Ausdruck gebracht werden, und wie wieder alle Darsteller eine tragende Rolle spielen, je nach besonderer Fähigkeit über Text, Gesang, Schauspiel, Kostümierung, Tanz, Blasmusik oder Körpersprache.
Jedes faschistische System braucht ein eingeschüchtertes Volk, das in der Tonne vom Publikum gespielt wird und »mit einer Stimme« dem Diktator huldigen muss. Die Darsteller wiederum sind als Staatsmusiker, Staatsschützer oder intrigante Minister unterwegs. Oder als austauschbare Präsidenten-Marionetten: Tonne-Tanz-Star Bahattin Güngör steht in Militärmontur und mit stattlichem Bart auf seinem Präsidentenbalkon und wird gottgleich inthronisiert. Mit einer Musik- und Fahnen-Zeremonie, die von den eigentlichen Strippenziehern im Staat inszeniert wird. Das Volk wird mit feierlichem Zauber und bombastischem Massentamtam eingelullt. Die Minister für Wirtschaft (Gabriele Wermeling), Forschung (Alfhild Karle) und Krieg (die mit allerlei Rüstungsklimbim behängte Franziska Schiller) haben die staatlichen Institutionen längst gleichgeschaltet und müssen dem Volk nur noch ein Gesicht präsentieren, dem es blind vertrauen und bis in den Tod folgen kann. Kapellmeister Michael Schneider kommentiert die Inszenierung in Form einer Live-Schaltung von der Amtseinführung und fungiert als Simultanübersetzer, wenn Bahattin Güngür in türkischer Phantasiesprache seine Machtansprüche formuliert. Natürlich wird es Widersacher geben, weiß der Präsident, aber die Worte werden »bald in ihrem Halse stecken bleiben. Oder sie haben bald keinen Hals mehr«. Da blitzt wieder der schwarze Humor des Ensembles auf, der sich auch darin manifestiert, dass dieser Militärstaat eben nicht von hochgezüchteten Herrenmenschen gebildet wird, sondern durchweg von originellen Individualisten.
Dann kommt es auch schon zum Attentat. Das Triumvirat muss einen neuen Präsidentenkasper generieren: eine tolle Szene, wie die Kandidaten zu karibischer Smoothie-Musik die erforderlichen Politiker-Gesten einstudieren. Viele Parallelen zu aktuellen Verhältnissen tauchen auf, und auch europäische Macht-Gesichter werden munter auf die Leinwand projiziert: Orban, Merkel oder Macron.
Jedes System hat aber auch seine Widerständler. Die Revoluzzer werden von Santiago Österle repräsentiert, der mit roter Fahne und rebellischem Gesang demonstriert und am Ende sogar die Macht übernimmt – aber dann selbst zum Diktator wird: alles schon gehabt. Dass man im Digitalzeitalter noch viel einfacher zu überwachen ist, das macht Seyyah Inal deutlich, indem er als Datensammler versucht, »unsere« Einstellungen zu erfassen. »Wer Freiheit für Sicherheit aufgibt, verliert am Ende beides«, lautet die Botschaft. Das Theater tut ja gut daran, den rechtspopulistischen Anfängen zu wehren, spätestens seit die AfD auch das Theatergeschehen in ihrem Sinne beeinflussen will.
Das Publikum huldigt dem Diktator
von Bernhard Haage
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 09.06.2018
Uraufführung – Alleinherrscher scheinen wieder im Trend zu liegen – sogar das Reutlinger Tonne-Theater nimmt sich ihrer an.
Wer macht eigentlich Diktatoren? Das Volk? Die Eliten? Verschwörerische Kreise? Oder machen sich Diktatoren einfach selbst? Das Tonne-Theaterstück »Diktatoren« hat sich mit einer integrativen Schauspieltruppe diesen spannenden Fragen gewidmet Am Donnerstag wurde deshalb in Reutlingen agitiert, unterdrückt und im Gleichschritt marschiert.
»Jeder hat die Freiheit, seine Meinung frei zu äußern« spöttelte Idi Amin als Opener des munteren Diktatorenreigens. Freilich könne er nicht dafür garantieren, was nach dieser Meinungsäußerung mit der Person geschehe. In der Tonne kam aus gegebenem Anlass nicht nur der ehemalige Diktator von Uganda zu Wort, sondern auch Donald Trump, Josef Stalin, Wladimir Putin, Ajatollah Khomeini, Walter Ulbricht, Kim Jong Un, Franco, Napoleon und der türkische Präsident Recep Erdogan. Letzterer greift, nach eigenem Bekunden, solange gerne auf die Demokratie zurück, bis er sich selbst am Ziel sieht.
Zuerst rezitieren die Schauspieler, dann tritt endlich – herrlich verkörpert von Bahattin Güngör, moderiert und simultan übersetzt von Michael Schneider (der im Stück auch für die Musik verantwortlich zeichnet) der »echte« Diktator auf. Und jetzt wird es interessant: Ungeachtet von zugespieltem Fake-Applaus und ätzend den Diktator glorifizierenden Texten, lässt sich das Publikum überrumpeln, Treuformeln nachzusprechen und huldigende Texte zu verlesen.
Ist ja nur ein Spiel, mögen sich die Leute gedacht haben, und die ulkige Figur mit aufgeklebtem Bart und Generalsmütze auf der Bühne kann schließlich auch nichts dafür. Übersehen haben sie dabei freilich, dass Diktatoren eigentlich fast immer ulkige Figuren sind. Was sie anrichten, ist allerdings alles andere als ulkig.
Das bekommt auf der Tonne-Bühne beispielsweise ein junger Mann im Rollstuhl (Santiago Österle) zu spüren, der ein Revoluzzer-Lied zum Besten gibt: »Was wollen wir in dieser Welt, wo sich jeder Einzelne für den Größten hält?« Die Staatsmacht fühlt sich angesprochen und reagiert prompt mit Einsperren und Folter. Der richtige Moment, um mittels einer Quizshow die Einstellung des Publikums abzufragen und zu speichern. Seyyah Inal als hinterhältiger Quizmaster macht das ganz entspannt. Den seriösen Außenanstrich bekommt die Regierung allerdings vor allem durch ihren Wirtschaftsminister, überzeugend in Szene gesetzt von Gabriele Wermeling. Er weiß mit Halbwahrheiten und seinen wirtschaftsfreundlichen Standpunkten zu jonglieren.
Nach einem fingierten Attentat, das der Diktator »wie durch ein Wunder« überlebt, ist der Führer am Zenit seiner Macht – und macht einen Fehler: Er befiehlt, 2000 politische Gefangene frei zu lassen. Und plötzlich offenbart sich, dass er eigentlich auch nur eine Marionette ist und hinter ihm ganz andere Gestalten ihre Ziele verfolgen. Plötzlich wagt es das Volk gegen die Unterdrückung aufzustehen, aber der Anführer der Revolte wird irgendwann einfach selbst zum Diktator. Naheliegend, dass dann plötzlich alle die kubanische Salsa tanzen.
Unterm Strich
»Diktatoren« ist phasenweise eher eine turbulente Show als ein Theaterstück. Aber auch Diktatoren müssen Showtalente sein. Und was die 13 Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderungen zusammen mit Regisseur Enrico Urbanek zum Thema treffend herausgearbeitet haben, lässt einem letztlich das Lachen erstarren.