Rebellion der Menschlichkeit

von Bernhard Haage

SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 25.09.2021

 

Inklusives Theater − Die Inszenierung von »Einer flog über das Kuckucksnest« im Reutlinger Theater in der Tonne lokalisiert treffsicher den Wahn.

 

Reutlingen. Gleich zweimal musste die Premiere wegen Corona verschoben werden, am Donnerstagabend endlich war es so weit: Dale Wassermans Bühnenversion von Ken Keseys Roman »Einer flog über das Kuckucksnest« wurde als inklusives Bühnenereignis erstmals in der Reutlinger Tonne aufgeführt. Das Warten hat sich gelohnt.

 

Acht Fenster, blaues Licht dahinter Gestalten, die nach draußen blicken. Ein psychiatrisches Krankenhaus oder eine Irrenanstalt, wie solche Einrichtungen früher oft genannt wurden. Ein Ort des Schreckens − tja, wären da nicht die Bewohner, die trotz oder vielleicht sogar gerade wegen ihrer Eigenarten und Einschränkungen ein ungeheures menschliches Potenzial darstellen.

 

Authentisch bis unter die Haut

Regisseur Enrico Urbanek ist mit einem starken Ensemble ein kleines Meisterwerk gelungen: Menschen mit Handicap spielen Menschen mit Handicap, wodurch das Schauspiel von Anfang an eine Authentizität bekommt, die unter die Haut geht.

 

Ein Indianerhäuptling (Gabi Wermeling), der nicht mehr redet, ein Rollstuhlfahrer (Santiago Österle), den die übermächtige »Liebe« seiner Mutter in eine dauerhafte Krise geworfen hat, der etwas schrullige Präsident des Patientenrates Dale Harding (Thomas B. Hoffmann) und andere auf den ersten Blick eigenartige Gestalten − allesamt wunderbar verkörpert von Cornelus Hoffmann-Kuhnt, Daniel Irschik, Bahattin Güngör und Jochen Rominger, bilden eine unfreiwillige Schicksalsgemeinschaft in einer Station der Anstalt.

 

Dass diese unter der eiskalten Führung von Schwester Ratched zu einem Ort des Schreckens werden kann, liegt auf der Hand. Chrysi Taoussanis spielt die machtbewusste Stationsleiterin so überzeugend, dass es einem kalt den Rücken runterläuft.

 

Und ausgerechnet in dieses Biotop kommt eines Tages per richteriche Anordnung der Draufgänger, Glücksspieler und kleine Ganove Randle Patrick McMurphy, der sofort versucht, die Rolle eines Leitwolfes zu übernehmen.

 

Der Schauspieler David Liske ist kein Jack Nicholson, wie jener, der die Rolle in der berühmten Filmversion spielte, aber er drückt der Rolle überzeugend seinen eigenen Stempel auf. Das Subversive und Aufmüpfige gehört zu McMurphys Lebensentwurf und es verfehlt auch unter den neuen Leidensgenossen seine Wirkung nicht.

 

Der Wahnsinn steckt im System

Eine beeindruckende Idee sind die Szenenüberleitungen mit Gedanken des vermeintlich taubstummen Indianerhäuptlings. Sie werden durch die multimedialen Hintergründe von Sabine Weißinger und Friedrich Förster eindrücklich unterstützt.

 

Dazu kommt ein Pflegepersonal, das ebenfalls sehr speziell ist: Roswitha John, Haydar Baydur, Dr. Spivey (Daniel Tille), Anne-Kathrin Killguss und Dunja Fuchs sind ein nicht unwichtiger Teil des unheimlichen Systems.

 

Als McMurphy eine Stationsparty inklusive Prostituierter (Antje Rapp und Luise Wald) organisiert, bekommt er die volle Grausamkeit einer Psychiatrie zu spüren, die, vor noch gar nicht langer Zeit nicht einmal vor Elektroschocks und Gehirnoperationen zurückschreckte.

 

Drastischer kann man nicht darstellen, dass der eigentliche Wahnsinn oft eher im System als in dessen Patienten steckt. Dass nach der Katastrophe am Ende, mehr von den positiven menschlichen Gefühlen im Gedächtnis bleibt, als von der Grausamkeit, liegt an dem wunderbaren Ensemble und einer einfühlsamen Umsetzung des harten Stoffes, die sich den langen Schlussapplaus auf jeden Fall redlich verdient hat.

 

 

Appell für menschliches Miteinander

von Christoph B. Ströhle

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 25.09.2021

 

Theater − Das inklusive Ensemble der Tonne legt mit »Einer flog über das Kuckucksnest« einmal mehr den Finger in die Wunde

 

Reutlingen. Da ist im Stück dieser Moment kurz vor dem Ende, in dem Randle McMurphy alle Möglichkeiten hat. Er kann aus der psychiatrischen Klinik türmen, in die er sich hat einweisen lassen, um eine Strafe im Gefängnis nicht absitzen zu müssen. Oder er kann auf den Zynismus reagieren, mit dem Oberschwester Ratched auf der von ihr straff geführten Station ihn und seine Mitinsassen peinigt.

 

Einer von ihnen hat sich gerade das Leben genommen. Ratched macht McMurphy dafür verantwortlich. Diesem platzt in dieser Situation der Kragen. Er würgt die Oberschwester. Wenig später − Ratched hat die Aktion unbeschadet überstanden − wird er, wie einer der Mitinsassen das nennt, einer »Art Gehirnkastration« (Lobotomie) unterzogen und, weil ein anderer das nicht mit ansehen kann, mit einem Kissen erstickt worden sein.

 

Etwas anders als in Miloš Formans mehrfach oscarprämiertem Film »Einer flog über das Kuckucksnest« (1975) bringt das inklusive Ensemble des Theaters Die Tonne die Geschehnisse in der Klinik auf die Bühne. Nach der Premiere am Donnerstagabend wollte der jubelnde Beifall für die Beteiligten auf und hinter der Bühne − einige von ihnen mit Psychiatrieerfahrung − kein Ende nehmen.

 

Die verwendete Bühnenfassung stammt von Dale Wasserman, der zugrunde liegende Roman gleichen Titels von Ken Kesey. Mehr als im Film kommt das Innenleben eines an paranoider Schizophrenie leidenden Patienten, Häuptling Bromdens, zum Tragen. Gabriele Wermeling gibt dessen Ängsten und Visionen, dessen erwachender Loyalität zu McMurphys Widerstandsgeist fesselnd Ausdruck. Bromden ist es am Ende, der McMurphy tötet.

 

Diesen Spieler und Freigeist verkörpert David Liske mit anfänglicher Lässigkeit, die allerdings in Panik kippt, als er erfährt, dass Schwester Ratched die Macht hat, ihn für immer auf ihrer Station zu halten. Ihn, der doch eigentlich nur simuliert, um nicht im Gefängnis zu sitzen. Doch der Spieler in ihm kommt wieder durch. Er wettet mit seinen Mitinsassen, dass er Ratcheds Regime brechen kann. Bevor er seine Freiheit zurückerlangt, will er die Drangsalierten befreien und mit ihnen Party machen. Dass Ratched, nachdem sie ihn durch die neurochirurgische Operation hat ruhigstellen lassen, »So ist es gut« sagt, bekommt er nicht mehr mit.

 

Ängste und Zufluchten

Chrysi Taoussanis spielt die Oberschwester nie vordergründig diabolisch, Dale Harding (Thomas B. Hoffmann), der Intellektuelle unter den Insassen, bezeichnet sie anfangs als zwar sehr streng, aber auch als »wie eine Mutter« handelnd. Man könne in ihr einen barmherzigen Engel sehen. Sie selbst verkauft auch die abwegigste Sanktion noch als therapeutisch und säuselt lieber, als dass sie schreit. Regisseur Enrico Urbanek hat mit dem Ensemble durchaus auch lustige Szenen erarbeitet. Es ist beeindruckend zu sehen, wie die Darstellerinnen und Darsteller − im Einzelnen sind dies außerdem Haydar Baydur, Dunja Fuchs, Bahattin Güngör, Cornelius Hoffmann-Kuhnt, Daniel Irschik, Roswitha John, Anne-Kathrin Killguss, Santiago Österle, Antje Rapp, Jochen Rominger, Daniel Tille und Luise Wald − in ihren Rollen aufgehen und neben individuellem Verhalten immer auch eine Gruppendynamik spüren lassen.

 

Noch bevor das erste Wort gesprochen ist, imponiert das Bühnenbild (Ausstattung: Sibylle Schulze), das Anleihen bei der Antike wie bei der Moderne nimmt und gleichzeitig etwas Steriles, Beschützendes und Einengendes hat. Vor allem aber eignet es sich wunderbar für die Multimedia-Projektionen, mit denen Sabine Weißinger und Friedrich Förster von der Tübinger Digital-Schmiede Casa Magica die weißen Flächen bespielen. Darin drücken sich all die Ängste, Traumata und seelischen Zufluchten aus, die Gabriele Wermeling als Häuptling Bromden im Inneren durchlebt und aufsucht.

 

Am Ende ist die zweistündige Aufführung vor allem eines: ein theatral zugespitzter, aber nie unterkomplexer Appell gegen Entmündigung und für menschlichen Umgang miteinander. Dass der Einzelne zum bequem handhabbaren Rädchen im Anstaltsgetriebe gemacht wird, will man als Zuschauer so nicht stehen lassen.

 

 

Hühner-Haufen auf einer Hackparty

von Jürgen Spieß

REUTLINGER NACHRICHTEN, 25.09.2021

 

Reutlingen − Das bekannte Bühnenstück »Einer flog über das Kuckucksnest« feierte im Theater Die Tonne Premiere − und wartete mit einem überzeugenden Hauptdarsteller auf.

 

Noch nie war Randle Patrick McMurphy so rockig und cool: Die von Enrico Urbanek inszenierte Eigenproduktion »Einer flog über das Kuckucksnest« feierte am Donnerstag im großen Tonne-Saal Premiere. Die in Kooperation mit BAFF, der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, den Bruderhaus-Diakonie-Werkstätten und der Habila GmbH Rappertshofen inklusiv besetzte Inszenierung lässt tief in Fantasien und innere Prozesse der Figuren blicken und überzeugt durch starke Charaktere.

 

Was haben wir ihn geliebt, diesen proletarischen und großmäuligen Kleinkriminellen, der die unterwürfigen Insassen der psychiatrischen Klinik gegen die autoritäre Schwester Ratched aufstachelt und anstatt Unterordnung Aufruhr und Ungehorsam predigt. Jack Nicholsons Randle McMurphy war vor mehr als 45 Jahren in Milos Formans oscarprämiertem Kinofilm »Einer flog über das Kuckucksnest« gleichzeitig Rebell und Vorbild.

 

Psychiatrie statt Knast

In Enrico Urbaneks Inszenierung ist Randle Patrick McMurphy, gespielt vom fulminanten David Liske, ebenfalls ein selbstbewusster, mit Rockerjacke und Westernstiefeln auftretender Rebell, der sich lieber in eine psychiatrische Klinik einweisen lässt, um seiner Strafe im Gefängnis zu entgehen. Außerdem verspricht er sich hier einen angenehmeren Aufenthalt als im Knast. Ein fataler Irrtum, wie sich später herausstellt, denn während er im Gefängnis lediglich seiner physischen Freiheit beraubt wird, versucht man in der Psychiatrie seine Persönlichkeit zu brechen.

 

Von Beginn an macht McMurphy deutlich, dass er sich den Regeln und Therapiemaßnahmen der Oberschwester Ratched (Chrysi Taoussanis) nicht unterwerfen will und macht sich über die anderen Insassen lustig: »Was für ein trauriger Haufen«, frotzelt er zur Begrüßung. Später kanzelt er sie in der anschließenden Gruppentherapie als »einen Haufen Hühner auf einer Hackparty« ab.

 

Seine Versuche, die Mitinsassen zum Widerstand gegen die fragwürdigen Mechanismen von Überwachung und Strafe anzustacheln, treffen nicht nur bei dem offensichtlich taubstummen Häuptling Bromden (Gabi Wermeling), sondern auch bei dem stotternden Billy Bibbit (Santiago Österle), dem cholerischen Scanlon (Cornelius Hoffmann-Kuhnt), dem peniblen Cheswick (Daniel Irschik), dem »Oberirren« Harding (Thomas B. Hoffmann) und den ständig Karten spielenden Martini (Bahattin Güngör) und Ruckly (Jochen Rominger) auf taube Ohren. Mehr oder weniger fassungslos nimmt er wahr, dass die von ihm als »brave Bekloppte« bezeichneten Mitbewohner alle freiwillig in der Anstalt sind und keiner von ihnen den Weg in die vermeintliche Freiheit sucht.

 

Auf dem Weg zur Autonomie

Doch nach und nach beginnen sie doch, mehr aus sich herauszugehen, eigene Wünsche und Sehnsüchte zu formulieren und sich sogar an den von McMurphy organisierten Glücksspielen und Parties zu beteiligen. Eine der eindrücklichsten Szenen ist, wenn die Insassen selbst ein Baseballfinale inszenieren, nachdem ihnen die TV-Aufzeichnung von Schwester Ratched verwehrt wurde. Eine Party, bei der McMurphy die Prostituierte Candy Starr (Antje Rapp) einschleust, um Muttersöhnchen Billy ein Schäferstündchen zu ermöglichen, lässt schließlich den Aufstand eskalieren: Billy wird von Schwester Ratched in den Selbstmord getrieben und McMurphy einer Gehirnoperation unterzogen, die aus ihm ein willenloses Wesen macht.

 

Enrico Urbanek hat mit »Einer flog über das Kuckucksnest« eine bitterkomische und tragische Satire über eine Psychiatrische Klinik aus den 60er-Jahren inszeniert, mit einem Hauptdarsteller, der nicht nur sprachlich, sondern auch körpersprachlich überzeugt. Aber auch McMurphys Mitpatienten sind liebevoll gezeichnet und Chrysi Taoussanis als Schwester Ratched erweist sich als eiskalte und ebenbürtige Gegenspielerin zu McMurphy. Die karge Bühnenausstattung (Sibylle Schulze) und die Multimedia-Einlagen mit eingespielten Sprech- und Videosequenzen von Casa Magica geben dem Stück eine zusätzliche beklemmende Wirkung.

 

Gleichzeitig hinterlässt die Inszenierung auch ein Gefühl von Hoffnung. Denn Häuptling Bromden wagt am Ende den Schritt in die Freiheit doch noch und erhält seine Größe zurück.

 

 

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