Und plötzlich ist alles ganz neu

von Armin Knauer
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 04.04.2016
 

 

REUTLINGEN. Er versucht mit seinen Stücken, das Theater neu zu erfinden, dieser Marc von Henning. Und er hat dazu seine Tricks. Trick eins: Montiere mehrere unabhängige Teile, die aber doch irgendwie zusammenhängen. Trick zwei: Konfrontiere das Medium Theater mit Formen von wo ganz anders her.

 

In seinem neuesten Coup, der am Samstagabend in der Tonne-Spielstätte im Spitalhofkeller aufgeführt wurde, sind es drei Einzelteile, die aufeinandertreffen. Drei total verschiedene Szenarien – die aber alle mit einer Neufindung der Identität zu tun haben. Was dann auch ausführlich im Titel des Stücks steht, der vollständig lautet: »Einmal jemand ganz anderes sein, der ganz woanders etwas ganz anderes macht«.

 

Die eigentlich theaterfernen Formen, die von Henning dabei einschleust, sind: Clownerie (erste Szene), Bildbetrachtung (zweite Szene) und stumme Robinsonade (dritte Szene). Man könnte vermuten, der Stückemacher, der hier auch Regisseur ist, ziele damit auf Verfremdung und Irritation, um das Medium Theater zu hinterfragen. Doch von Henning greift in die Trickkiste, um ein poetisches Ganzes zu schaffen.

 

Und ja, ein Ganzes von einer selten gesehenen heiteren Magie ist es, was da entsteht. Erste Szene: Robert Atzlinger liegt als Dichter in der Schaffenskrise auf einem Bettgestell über Bücherstapeln. Der Boden ist ein Meer von zerknüllten Manuskriptblättern (Ausstattung: ebenfalls Marc von Henning). Melancholische Klänge vom Band (Musik: Valerio Pizzorno) machen den Kellerraum zum Seelenverlies eines Depressiven.

 

Thomas Klees ist gewissermaßen der Berichterstatter aus dem trüben Inneren dieser verlorenen Seele. Da hat sich einer in sein Schneckenhaus verkrochen. Doch das Wunder geschieht: Es pocht an der Türe. Da ist jemand, der den Einsiedlerkrebs aus dem Bau herauslockt. Bevor er jedoch zur Tür tritt, verwandelt Atzlinger sich in einen Harlekin – als Narr, als Clown fühlt sich der Dichter vor der Welt. Doch wer tritt ihm zu seiner Verblüffung entgegen? Eine Clownfrau (Chrysi Taoussanis)! Und plötzlich ist mit bunten Lämpchen wieder eine zirkushafte Farbe in der Welt. Wie die beiden das spielen, ist so komisch wie anrührend. Große Klasse!

 

Per Floß auf Selbstsuche
Dritte Szene: Nun ist das Meer aus Papierfetzen blau und ein Floß schwankt darauf und auf dem Floß Thomas Klees als Phil auf der Suche nach seiner Bestimmung. Die Lichter an der Gewölbedecke blinken nicht bunt, sondern weiß wie Sternlein, und Phil fischt nach Essbarem im Papierozean. Keinen Fisch erwischt er, sondern einen Damenschuh. Und dann schwimmt da noch ein Damenkoffer … Plötzlich ist der Hunger vergessen, es locken Dinge ganz anderer Art. Man kriegt bald mit, es ist wohl der innere Ozean der Identitätssuche, den Phil auf seinem Wackelfloß bereist. Auch das hat komische wie rührende Züge – selbst wenn es etwas zu ungeniert auf die Schlusspointe zusteuert.

 

Dazwischen ist man ins Theatercafé umgezogen, wo per Fachvortrag das Wesentliche geklärt wird. Warum nämlich für die Identitätsfindung Geschichten so zentral sind – Geschichten wie die von dem Harlekin-Dichter oder von Phil auf seinem Floß. Erst referiert Chrysi Taoussanis auf Griechisch und Robert Atzlinger übersetzt – was an sich schon eine Komik hat. Sie ist die taffe Rationalistin, bei ihr sind »Geschichten« Machtmittel, sind menschliche Konstruktionen wie Firmen, Geld oder Nationen, ersonnen, um die Welt zu beherrschen.

 

Doch plötzlich wechseln die Rollen und Atzlinger referiert anhand eines Bildes, auf dem Rembrandt seine Geliebte Hendrickje Stoffels im Bett porträtiert hat. Plötzlich sind Geschichten etwas ganz anderes: rettende Inseln, um der Vergänglichkeit ein Schnippchen zu schlagen und den magischen Moment zu bewahren. Wie Taoussanis und Atzlinger diese erst hyperrationale Sichtweise ins Emotionale und Poetische umschlagen lassen, ist toll gespielt. Und die Vorstellung insgesamt entlässt den Besucher mit dem Nachklang eines verzauberten Theaterabends.

 

 

Traum jemand anderes zu sein

von Jürgen Spiess
REUTLINGER NACHRICHTEN, 04.04.2016

 

Drei unverbundene Szenen, die sich dem Thema, jemand anderes zu sein, annähern: Die Uraufführung mit dem langen Titel sorgt für poetische Momente und befreiende Verwandlungen in der »Tonne«.

 

»Geld ist die überzeugendste Geschichte, die die Menschen je erfunden haben, weil es die einzige Geschichte ist, die alle glauben.« Das unterscheidet uns von den Schimpansen und anderen Lebewesen. Denn während Tiere ihre Sprache nur gebrauchen, um die Realität abzubilden, erfinden Menschen Realitäten immer wieder neu. Robert Atzlinger und Chrysi Taoussianis sitzen sich unter einem Torbogen im Café des Theaters gegenüber. Sie trägt etwas über Menschen und Schimpansen vor 70 000 Jahren auf Griechisch vor, er übersetzt ihren Vortrag ins Deutsche.

 

Zusehends wird aus dem Vortrag eine Geschichte, die sich mit der Frage auseinander setzt, wie wir zu dem geworden sind, was wir sind. Warum wir uns von den Tieren eigentlich nur auf narrativer, nicht auf individueller Ebene unterscheiden. Dann plötzlich ein Schnitt: Die beiden Schauspieler tauschen die Rollen, nun ist es Robert Atzlinger, der auf Französisch einen Vortrag hält, und Taoussianis, die übersetzt.

 

Anhand der Rembrandt-Reproduktion »Junge Frau im Bett« erzählt er die Geschichte, die hinter dem Gemälde steht. Über das Leben von Rembrandts Lebensliebe Hendrickje Stoffels, die auf einem Bett liegend just in dem Moment ihren Geliebten erblickt. Auch hier entsteht aus der Interaktion der beiden Schauspieler eine Geschichte, hinter der viel mehr steckt als die Banalität des Alltags. Sie stellt Fragen nach außergewöhnlichen Erlebnissen, nach ungewöhnlichen Wendungen und tiefgreifenden Veränderungen, die Menschen erfahren haben. Wie im zweiten Teil des Abends, behandelt auch die erste Szene im Gewölbekeller den Versuch des Menschen, aus seiner angestammten Rolle herauszutreten und jemand ganz anderes zu sein.

 

Ein schlafender Mann (Robert Atzlinger) liegt auf einem auf einem Bett, das auf Bücherstapeln balanciert. Der Mann ist offensichtlich Schriftsteller, der nicht mehr schreibt, sondern nur noch liest und träumt. Der sich dabei wünscht, keinen Körper mehr zu haben, denn »zum Lesen genügen mir die Augen«. Dabei ist er es, der das Körperliche repräsentiert, denn seine Träume und Gedanken werden von einem anderen vorgetragen. Thomas Klees erzählt die Geschichte des Schlafenden, referiert über dessen Ängste, das Haus zu verlassen oder sich so profanen Gefühlen wie Liebe und Zuneigung hinzugeben.

 

Doch dann klopft es. Der Schriftsteller springt aus dem Bett. Er schminkt sich, setzt sich eine Perücke auf, verwandelt sich in einen Clown. Der Grund seiner Verwandlung? Vor der Tür steht eine Clownin, gespielt von Chrysi Taoussianis, die ihn aus der Lethargie und Einsamkeit des Schriftstellers herausreisen will. Während sie gerne mit ihm ausgehen möchte, will er ein Spiel spielen, bei dem einer eine Frage stellt und der andere sie beantworten muss.

 

Das Ganze endet mit einem Kuss und einem Zaubertrick, der das Publikum verschwinden lässt, denn das hat den Clown sowieso schon immer gestört. »Soll sich das letzte Buch doch selbst schreiben«, meint der zum Clown gewordene Schriftsteller schließlich, dann entschwinden sie gemeinsam an den See.

 

Der dritte Teil geht wie der erste wieder im Gewölbekeller über die Bühne. »Auf zu neuen Ufern« ist diese Szene überschrieben, und sie erzählt ganz ohne Worte die Geschichte eines Schiffbrüchigen, der auf einem schwankenden Floß zu überleben versucht. Die Szenerie erfährt eine Wandlung, als der Mann einen Koffer aus dem Wasser fischt, in dem Frauenkleider und ein Mon Cheri verborgen sind. Langsam entledigt er sich seiner Kleider und verwandelt sich in eine Frau, grell geschminkt mit rotem Kleid und pink-glitzernden Highheels. Im Hintergrund erzählt eine Schrift über das Leben des Mannes, über seine Schwächen und Vorlieben. Und erst, nachdem er sich in eine Frau verwandelt hat, scheint er dort angekommen zu sein, nach dem er immer gesucht hat.

 

Drei Schauspieler, drei Episoden, ein spannender, eindringlicher Abend: Am Ende bleiben die drei Geschichten, die auf Jorge Luis Borges, John Berger und Marc von Henning zurückgehen, unverknüpft nebeneinander stehen. Drei theatralische Annäherungen an die Frage, warum Menschen ihre Identität aufgeben und in eine neue schlüpfen. Weshalb es so faszinierend ist, jemand ganz anderes zu sein, der ganz woanders etwas ganz anderes macht. Drei facettenreiche Fingerübungen in Sachen Wahrnehmung, Intention und Manipulation.

 

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