Konfliktlösung als Reality-Theater

von Kathrin Kipp

REUTLINGER NACHRICHTEN, 27.10.2014

 

Mit Marc von Hennings psychologischer Doku-Fiction »Es gibt nichts Größeres als die kleinen Dinge« zeigt die Tonne ganz konkrete Kunst. Nun feierte die Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Reutlinger Premiere.

 

Kleine Unachtsamkeit - große Wirkung: Der 76-jährige Krebsforscher Gustav hat beim Ausparken den fünfjährigen Nils überfahren. Keiner kann mit den Folgen dieses tödlichen Unfalls umgehen: Nils Eltern, Anders und Ulla, trennen sich, Gustav, dessen Forschung Menschenleben gerettet hat, sitzt im Gefängnis und kann es nicht wahrhaben, seine Frau Freja hat Schuldgefühle, sein Sohn Sören mag keine Emotionen. In Marc von Hennings Dialogstück begegnen sich alle Betroffenen bei der Soziologin Kristina Berg zu einer Mediation. Gustav sagt seine Teilnahme am Täter-Opfer-Gespräch kurzfristig ab, weil er verletzt sei, aber er hat wohl nur Angst, den Eltern zu begegnen. Wie auch immer, vieles im Stück bleibt vage, aber vieles wird auch so nach und nach aufgerollt.

 

Marc von Henning hat das Psycho-Drama als Auftragsarbeit der Tonne für die Ruhrfestspiele Recklinghausen geschrieben, wo es im Mai uraufgeführt wurde (wir berichteten ausführlich). Weil er gerne mit dramaturgischen Mustern herumexperimentiert, zieht er das Katastrophengespräch als Doku-Theater auf, die Sitzung wird per Rahmenhandlung zu einer Art Lehrveranstaltung. Ziel und Publikum werden nicht genauer definiert.

 

In den 70ern hat unter anderem die schwedische Soziologin Kristina Berg das außergerichtliche Verfahren der Mediation entwickelt und praktiziert. Mit ihm soll versucht werden, unter den Konfliktparteien eine Einigung oder gegenseitiges Verständnis zu erzielen. Im Theater lässt ein solches Setting die Betroffenen direkt aufeinanderprallen, wodurch sich durchaus interessante Offenbarungen und Gesprächsverläufe ergeben. Inhaltlich wiederum wird in den »Kleinen Dingen« sofort klar, wie unterschiedlich die Menschen mit einem solchen Schicksalsschlag umgehen oder eben auch nicht umgehen.

 

Die Schauspieler im Stück behaupten, die Unterlagen und Gesprächsprotokolle von Kristina Berg durchforscht und zu dem gezeigten Gespräch zusammengeschnitten zu haben. Auch später steigen sie immer wieder aus dem Stück aus, um die emotional recht intensive Session durch filmisch dokumentierte »Hintergrundinfos« zu ergänzen - dramaturgische Kniffe, um Distanz zum Drama zu gewinnen und um die Zuschauer über den Echtheitsquotient der Geschichte rätseln zu lassen. Aber egal, wie echt oder unecht, Marc von Henning liefert Reality-Theater, das gar nicht erst groß herumsymbolisieren will. Mit nachvollziehbaren Dialogen, die von den exzellenten Schauspielern so realistisch, psychologisch und ungekünstelt wie möglich gespielt werden: konkreter Fall, konkreter Konflikt, konkrete Emotionen, konkrete Kunst.

 

Und so gehen die Figuren in der für sie alle unangenehmen Situation mehr oder weniger gesittet aufeinander los. Man kennt sich zwar kaum, stellt aber einen maßgeblichen Einflussfaktor im Leben der anderen dar - schwierige Situation, zumal der »Hauptangeklagte« abwesend ist, und man auf die Nebenschauplätze des Konflikts ausweichen muss. Irgendwann hat hier jeder jedem etwas vorzuwerfen.

 

Yvonne Lachmann versucht als besonnene Mediatorin den Überblick zu behalten und rettet sich gerne mal in ratgeberhafte Floskeln, aber was soll man angesichts eines dermaßen schrecklichen Dramas schon sagen? Nils Vater Anders (Thomas Klees) ist entsprechend geladen, er hat nicht nur sein Kind, sondern später auch seine Frau verloren, die sich von ihm getrennt hat, was er alles dem Unfallverursacher anlastet. Leider fehlt der richtige Adressat für seine Wut und Rachegelüste. Seine Frau Ulla (Chrysi Taoussanis) trauert ganz anders: sie hat ihr gesamtes Leben umgekrempelt und muss sich nun auch noch vor ihrem Ex-Mann rechtfertigen.

 

Weil Gustav nicht da ist, geht Anders auf dessen Sohn Sören (Robert Atzlinger) los, der mit dieser emotionalen Konfrontationsgeschichte nicht umgehen kann und auf Gegenangriff schaltet. Es bleibt ein wenig zwielichtig, wen er damit eigentlich schützen will: sich selbst, seine Eltern oder sogar die Opfer. Freja wiederum, eindrucksvoll verkörpert von Verena Buss, kann mit ihrer Mitschuld überhaupt nicht leben und sucht dringend irgendeine Form Beichte und Absolution.

 

 

Mediation als Bühnen-Ereignis

von Monique Cantré

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 27.10.2014

 

REUTLINGEN. Eine momentane Unachtsamkeit, und im Leben ist nichts mehr wie vorher. Ein hoch angesehener Medizinwissenschaftler tötet durch ein missglücktes Ausparkmanöver einen fünfjährigen Jungen. Er wird wegen »grobfahrlässiger Tötung« zu zwei Jahren Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Doch mit der harten Strafe ist nichts gesühnt, geschweige denn verarbeitet oder gar verziehen. Vor allem die Eltern des Jungen haben den Boden unter den Füßen verloren, ihre Ehe ist zerbrochen, und der Vater ist voll von Rachegedanken. Ein Jahr nach dem Unfall findet auf Wunsch der Frau des 76-jährigen Professors eine Mediation statt. Diese Form der Konfliktbewältigung bestimmt Marc von Hennings Schauspiel »Es gibt nichts Größeres als die kleinen Dinge«.

 

Das Stück wurde als Koproduktion von Tonne und Ruhrfestspielen im Mai in Recklinghausen uraufgeführt. Am Freitag feierte es in der Planie 22 seine Reutlinger Premiere und erhielt als packendes Schauspielertheater begeisterten Applaus. Das bedrückende Thema überträgt die Inszenierung Marc von Hennings in eine immer wieder Freiraum zum Durchatmen schaffende Theatersituation: Fünf (hervorragende) Darsteller spielen Schauspieler, welche die nach den Protokollen rekonstruierte Mediation von 1972 nachstellen. Dabei fließen auch Informationen über das Gesprächsverfahren und die schwedische Urmutter der Mediation, Kristina Berg, ein sowie Filmbeiträge über aktuelle Recherchen über die Eltern des getöteten Jungen.

 

Insel Gotland als Tatort

Die Recklinghäuser Zeitung rühmte die Tonne-Produktion im Mai als »Perle zeitgenössischen Reality-Theaters« – indessen: Es ist alles erfunden. Aber so nahe am Leben und an der Wirklichkeit, dass man es sofort glaubt. Dass diese angeblich erste Mediation der Geschichte durch die Stockholmer Soziologin Kristina Berg weit weg, nämlich auf der schwedischen Insel Gotland spielt, die auch Schauplatz des schrecklichen Unfalls war, macht es noch schwieriger zu überprüfen, ob die Story authentisch ist. Nicht unbedingt schlüssig ist freilich, dass die Darsteller durchgängig in der Mode der 70er Jahre auf der Bühne stehen (Kostüme: Frédérique Revuz).

 

Eine besondere Qualität der Aufführung besteht in der Kunst, wie sie die Emotionalität der Sitzungen spüren lässt. Zunächst die fast lähmende Befangenheit, als sich die beiden Parteien zum ersten Mal gegenübersitzen. Der Professor ist nicht dabei, er zieht es vor, im Gefängnis zu bleiben und eine kleine Verletzung vorzuschützen. »Der Sache fühlt er sich nicht gewachsen«, sagt seine Frau Freja, die von der großartigen Schauspielerin Verena Buss als wahrhaft geschlagene, um Haltung ringende Person gezeichnet wird. Sie hat als Beistand ihren Sohn Sören (Robert Atzlinger) mitgebracht, der zunächst aus Unbehagen den coolen Typen hervorkehrt, aber seinen Vater vehement gegen das zu krasse Urteil in Schutz nimmt, ihn, der sich mit seiner Forschung zeitlebens für die Rettung von Menschenleben stark gemacht hat. Von Sören kommt der zentrale Satz: »Hier gibt es keine Täter, nur Opfer«.

 

Einzeln treten die verwaisten Eltern Ulla und Anders hinzu. Ulla hat nach dem Verlust des Kindes ihren Mann verlassen und ist weggezogen, erst jetzt erklärt sie ihm warum: »Wenn ich dich angeschaut habe, habe ich Nils gesehen. Das habe ich nicht ausgehalten.«

 

Souveräne Gesprächsleitung

Dass sie bleiben, obwohl der erwartete Unfallverursacher sich verweigert hat, ist der klugen, sachlichen und unaufgeregten Art der Mediatorin Kristina Berg zu verdanken, der Yvonne Lachmann souverän die schmale Figur und die leise Stimme leiht. Als Eltern des toten Kindes liefern Chrysi Taoussanis und Thomas Klees bezwingend genaue Charakterstudien von zwei verzweifelten Menschen, denen mit dem geliebten Kind der Lebenssinn entrissen wurde.

 

Dem »Alten«, dem »Mörder« werfen sie vor, dass er nicht für seine Tat geradestehe, weil er ihnen nie erklärt habe, wie es wirklich zu dem Unfall gekommen sei, sondern nur wirre Andeutungen von technischem Defekt und andere fadenscheinige Ausflüchte von sich gegeben habe. Die Frau des Professors hält dagegen, dass ihr Mann nach dem Unfall in der Panik irres Zeug geredet habe. Und der Sohn räumt ein, dass er es war, der ihm geraten habe, zum Unfallhergang keine Aussage zu machen.

 

Mehr und mehr baut sich eine fast unerträgliche Spannung auf. Mehr und mehr kommt auch zutage, dass schon vorher Konflikte in den Familien geschwelt haben. Freja muss schließlich zugeben, dass sie die Mediation angestrebt hat, um die Verlegung ihres Mannes aus dem Gefängnis auf Gotland in ihren Heimatort zu erreichen, um nicht jede Woche tausend Kilometer zu ihm zurücklegen zu müssen. Mit der Zustimmung von Ulla und Anders würde ihr Gesuch eher bewilligt werden. Am Ende finden die beiden die Kraft, zu unterschreiben. Das ist ein Ergebnis der Mediation, die die Chance bot, einander überhaupt erst kennenzulernen – und auch mit sich selber klarzukommen. Als Theateraufführung ein Ereignis!

 

 

Wahrhaft gut erfunden

von Matthias Reichert

SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 27.10.2014

 

REUTLINGEN. Hier tun sich Abgründe auf: »Es gibt nichts Größeres als die kleinen Dinge«, heißt das Stück, das der Hamburger Marc von Henning für die Tonne geschrieben und inzeniert hat. Nach der gefeierten Uraufführung auf den Ruhrfestspielen Recklinghausen war jetzt am Freitag die - nicht ganz ausverkaufte - Reutlinger Premiere in der Planie 22.

 

Der Titel ist ein Euphemismus, dramaturgisch lässt das Stück nichts zu wünschen übrig. Ein renommierter Krebsforscher überfährt ein Kind, das stirbt. Seine Frau kommt damit nicht zurecht. Während der Mann im Gefängnis sitzt, bemüht sie sich um eine Mediation mit den Eltern des Opfers.

 

Ein Spiel mit Tragik und Banalität, mit Wahrheit und Fiktion. Von Henning behandelt die Geschichte als Reality-Show. Die Darsteller unterbrechen die Vorführung und erklären, was eine Mediation ist und dass die gezeigte in den 1970-ern eine der ersten überhaupt gewesen sei. Das Bühnenbild besteht aus fünf Stühlen und einer Leinwand, die gelegentlich für Einblendungen enthüllt wird. Angebliche Interviews mit Nachkommen und ein Besuch beim Vater des verunglückten Kindes im schwedischen Gotland sollen den Seelenstrip auflockern und geraten doch nur zum läppischen Füllsel.

 

Doch ansonsten sind Stück und Aufführung dank blendend aufgelegter Akteurinnen und Akteure höchst gelungen. Chrysi Taoussanis spielt zwischen Verzweiflung und Zornausbrüchen die Mutter des verunglückten Kindes, die sich von ihrem Mann getrennt hat und mittlerweile von einem anderen wieder schwanger ist.

 

Thomas Klees mimt den Vater, einen Bootsbauern, der nicht über den Tod des Sohnes hinwegkommt und zugleich vergeblich versucht, seine Frau zurückzugewinnen. Er gibt ihn als heimatliebenden Gotländer, der wie seine Landsleute den Professor abgrundtief hasst.

 

Unter diesem Hass leidet die Frau des Krebsforschers, die ihn einmal die Woche im Gefängnis besucht. Verena Buss zeichnet sie nachdenklich und mit Zwischentönen. Sie erzählt in der Mediation erstmals, wie der Unfall tatsächlich ablief - das Ehepaar hat sich auf der Fahrt gestritten.

 

Am Ende wird sie sich von ihrem Mann abwenden. Die Hauptfigur fehlt bei der Mediation. Dieser dramaturgische Kniff verstärkt die Spannungen zwischen den Akteuren. Der Krebsforscher ist am Vorabend gestürzt - er fühle sich nicht wohl, sagt seine Frau entschuldigend. Sohn Sören vertritt ihn. Robert Atzlinger spielt ihn als unsensiblen Spießer, der dem Vater davon abriet, sich bei den Eltern des Kindes zu entschuldigen.

 

Die berühmte schwedische Mediatorin Christina Berg mimt Yvonne Lachmann - mit altklugen Allgemeinplätzen aus dem Lexikon des Gutmenschen und der Mottenkiste der Psychoanalyse - aber das gehört eben dazu. Sie fungiert zugleich als Prellbock für die Emotionen, die hier aufeinandertreffen. Ein anderthalbstündiger Parforce-Ritt, glänzend gespielt, klug geschrieben.

 

Unterm Strich

Ein starkes Stück, ein mit Begeisterung und begeisternd gespielter Parforce-Ritt durch seelische Abgründe. Bloß die läppischen Reality-Einblendungen vom schwedischen Seestrand samt pseudorealistischem Interview und Großaufnahmen vom angeblichen Lieblingsgebäck der Mediatorin hätte sich die Crew sparen können.

 

 

Kulturszene: »Großartig«: Tonne an der Ruhr

von Otto Paul Burkhardt

ALB BOTE, 30.05.2014

 

Ja, das Reutlinger Tonne-Theater war von 17. bis 19. Mai zu Gast bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen. Schon das allein ist eine ehrenvolle Einladung (wir berichteten). Der Melchinger Lindenhof und das Zimmertheater Tübingen können bereits auf diverse Auftritte bei diesem renommierten Treffen zurückblicken. Für »das dynamische Theater aus Reutlingen« aber, wie die Tonne im Festspielprogramm angekündigt wurde, war es die erste Einladung dorthin. Die Tonne befand sich da in illustrer Gesellschaft - unter weiteren Gästen wie dem Deutschen Theater Berlin, dem Residenztheater München und dem Nationaltheater Weimar.

 

Mittlerweile liegen die ersten Besprechungen vor. Geradezu hymnisch fiel zum Beispiel die Kritik aus, die Pitt Herrmann in den »Sonntagsnachrichten« schrieb: »Das großartige Ensemble«, so heißt es da, habe sich »in die Herzen der sogleich empathischen und am Ende restlos begeisterten Zuschauer« gespielt, »welche das Darsteller-Quintett gar nicht von der Bühne lassen wollten«.

 

Auch die »Recklinghäuser Zeitung« rühmt ein »bewundernswertes intensiv spielendes Ensemble« und spricht von einer »packenden Uraufführung«: »Nicht eines der großen renommierten Häuser, sondern eine kleine Bühne aus Süddeutschland, die Reutlinger Tonne, bereichert die Ruhrfestspiele mit einer Perle zeitgenössischen Reality-Theaters.«

 

Dabei berührt das Stück, das die Tonne in der Recklinghäuser Zechen-»Halle König Ludwig 1/2« zeigte, ein schwieriges Thema - es geht um einen tödlichen Unfall und seine Auswirkungen. »Es gibt nichts Größeres als die kleinen Dinge« heißt das Auftragswerk, mit dem das Reutlinger Theater bei den Ruhrfestspielen so gut ankam. Neben den bekannten Tonne-Gesichtern Chrysi Taoussanis, Robert Atzlinger (»König von Deutschland«) und Yvonne Lachmann (»Ausflug an die Front«) wirken dabei mit: die frühere Stuttgarter Staatstheater-Actrice Verena Buss und der Hamburger Schauspieler Thomas Klees. Autor und Regisseur dieser Produktion ist der aus London stammende, überregional gefragte Theatermann Marc von Henning, der auch in Reutlingen bekannt sein dürfte, wo er im Januar 2014 mit dem »Houdini-Gen« das Tonne-Monologfestival gewann.

 

Die Inszenierung, die dann am 24. Oktober in Reutlingen anlaufen wird, beschäftigt sich mit einem Fall der 2011 verstorbenen schwedischen Psychologin Kristina Berg - um einen Autounfall, bei dem ein pensionierter Krebsforscher anno 1972 einen fünfjährigen Jungen tödlich verletzt hatte. Genauer gesagt, es geht um eine Mediation, um ein vermittelndes Gespräch, das Berg mit den Beteiligten führte.

 

Marc von Hennings 80-minütiges Dokutheater greift das 70er-Jahre-Milieu mit orangefarbenen Plastik-Schalenstühlen auf. Zudem reichert von Henning die Inszenierung mit Verfremdungseffekten, Video-Einspielungen und angeblich »realen« Personen an. Damit gelinge es, schreibt der Kritiker Pitt Herrmann, »die Gefahr einer rasch ausufernden Mitleids-Dramaturgie abzuwenden«. So wirke diese »Laborsituation« einerseits »kühl«, andrerseits auch »sehr komisch«.

 

Wie auch immer: Die erste Einladung des Reutlinger Tonne-Theaters zu den Ruhrfestspielen - sie ist ein Erfolg geworden. »Großartiges Ensemble«, »packende Uraufführung« - solches Lob an der Ruhr zeigt, dass die Arbeit der Tonne unter Enrico Urbanek auch zunehmend überregional beachtet wird.

 

 

Packende Uraufführung: Der bohrende Schmerz der Erinnerung

von Bernd Aulich

RECKLINGHÄUSER ZEITUNG, 19.05.2014

 

RECKLINGHAUSEN. Ein paar Sekunden mangelnder Konzentration am Steuer reichen. Ein winziger fataler Augenblick treibt das nach außen so wohlgeordnete Leben mehrerer Menschen an den Rand des Abgrunds.

 

Alles, was Marc von Hennings Stück »Es gibt nichts Größeres als die kleinen Dinge« bei seiner Uraufführung in der gewöhnungsbedürftigen Akustik der Zechenhalle König Ludwig ausbreitet, hat sich tatsächlich ereignet. Nicht eines der großen renommierten Häuser sondern eine kleine Bühne aus Süddeutschland, die Reutlinger Tonne, bereichert die Ruhrfestspiele mit einer Perle zeitgenössischen Reality-Theaters.

 

Das Stück fußt auf einem der ersten Versuche außergerichtlicher Konfliktbewältigung. Kein Psychologe, nicht mal ein Jurist, vielmehr eine Soziologin, Kristina Berg aus Stockholm, erprobte 1972 in einer Mediation eine klärende Aussprache zwischen den verwaisten Eltern eines getöteten Fünfjährigen und der Frau und dem Sohn eines 76-jährigen Unfallfahrers. Wer argwöhnte, dass dieser Prozess auf der Bühne staubtrocken wirken würde, sah sich überrascht. Die komprimierte 14-stündige Aussprache an zwei Tagen gewinnt binnen anderthalb Stunden bohrende Intensität.

 

Doppelte Ohrfeige für die Justiz

Was Marc von Henning als sein eigener Regisseur und ein bewundernswertes intensiv spielendes Ensemble aus dem Nachlass der Soziologin zutage gefördert haben, läuft nicht auf vordergründig ausgleichende Gerechtigkeit hinaus. Es ist der Versuch, Schuld zu bewältigen, auch wenn man ihr indirekt ausgesetzt ist, und Schmerz zu verarbeiten. Es ist auch eine doppelte Ohrfeige für die schwedische Justiz. Sie verurteilte einen unbescholtenen 76-jährigen Unglücksfahrer mit einem drakonischen Urteil wegen »grobfahrlässiger Tötung« zu zwei Jahren Haft ohne Bewährung. Die genaue Klärung der Umstände, eigentlich Aufgabe jedes Gerichtes, fällt erst der Mediatorin zu, die Yvonne Lachmann mit aller Zurückhaltung verkörpert.

 

Das alte Ehepaar hat sich heftig gestritten, als der pensionierte, in der Krebsforschung Leben rettende Medizinprofessor beim Ausparken in Visby auf Gotland vorwärts prescht statt zurückzusetzen und ein Ball spielendes Kind gegen die Kaimauer drückt. Dessen Eltern haben sich getrennt wie 80 Prozent aller Paare nach dem Tod eines Kindes. Verena Buss zeigt die Professorengattin Freja Wallin von Gram gebeugt. Robert Atzlinger als ihr Sohn Sören lässt flapsig provozierend wie Thomas Klees als erregter Anders Hedlund die Emotionen hochkochen. Kraft zur Versöhnung zeigt Chrysi Taoussanis als Ulla Danielsson, die Hedlund nach dem Tod des Kindes verlassen hat, weil sie es auf der Unfallinsel nicht mehr aushielt.

 

Einer fehlt in dieser Runde in zeittypischen Kostümen und der kargen Kulisse orangefarbener Kunststoff-Stühle der Siebziger: Der inhaftierte Professor fühlt sich der Aussprache nicht gewachsen. In einer Geste des Entgegenkommens sind beide Eltern des toten Kindes bereit, seiner Haftverlegung zuzustimmen, um Ehefrau Freja die 1200 Kilometer weite Anreise nach Gotland zu ersparen. Die überraschende Schlusspointe fand sich in Kristina Bergs Erinnerungen: Freja zieht ihren Antrag auf Verlegung ihres Mannes zurück: »Ich will ihn nicht mehr wiedersehen.« Die Chance, zur Ruhe zu kommen, die sie mit der Unglücksfahrt nach Gotland verwirklichen wollte, ist für sie nach dieser Aussprache endgültig vertan.

 

 

Ruhrfestspiele: Mit dem Tod des anderen Leben

von Pitt Herrmann

SONNTAGSNACHRICHTEN HERNE, 19.05.2014

 

Von Mascha Kaleko stammt der kluge Satz: »Bedenkt: Den eignen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod der anderen muss man leben.« Dieser Weisheit geht Marc von Hennings Dokudrama »Es gibt nichts Größeres als die kleinen Dinge« nach, das jetzt bei den Ruhrfestspielen uraufgeführt worden ist.

 

In seinem in der Halle König Ludwig ½ in Recklinghausen-Süd von ihm selbst urinszenierten und ausgestatteten Auftragswerk der Ruhrfestspiele zum heurigen »Inselreiche«-Motto greift der 1960 in London geborene Marc von Henning einen der ersten Fälle der 2011 verstorbenen schwedischen Mediatorin Kristina Berg auf. Die Mediation genannte, um Ausgleich bemühte Gesprächsrunde hatte im Frühjahr 1972 über vierzehn Stunden an zwei Tagen gedauert.

 

Siebziger Jahre auf dem kahlen Bühnenpodium der Halle König Ludwig. Fünf orangefarbene Plastik-Schalenstühle, ein Tisch mit Obst und Getränken. Der kahlköpfige Robert Atzlinger, er spielt Sören, den Sohn des im Gefängnis erkrankten 73-jährigen Unglücksfahrers, führt kurz ins Thema ein und lässt keinen Zweifel daran, dass er die ganze Veranstaltung für überflüssig hält. Und das Urteil, zwei Jahre Haft ohne Bewährung, für völlig überzogen hält - für einen bis dahin nicht nur unbescholtenen, sondern hochdekorierten Universitätsprofessor, dessen Forschungen zu bahnbrechenden Erfolgen in der Krebsbekämpfung geführt haben: »Hier gibt es keinen Täter, nur Opfer.«

 

Freya (Verena Buss) hat ihren Sohn, der kaum noch Kontakt zu seinen Eltern hat und sich früh eine eigene Existenz mit einem Fitness-Studio aufbaute, gebeten, sie an Stelle des »Todesfahrers« Gustav zu begleiten. Sören ist für den Gotländischen Bootsbauer Anders (Thomas Klees) und die inzwischen im fernen Hamburg lebende Lehrerin Ulla (Chrysi Taoussanis) naturgemäß kein Ersatz: die inzwischen getrennt lebenden Eltern des fünfjährigen Unfallopfers Nils sind unter der Prämisse gekommen, mit dem Alten abrechnen zu können, der weder am Unfalltag selbst noch in der Gerichtsverhandlung Reue gezeigt oder sich gar bei ihnen entschuldigt hat.

 

Christina Berg (Yvonne Lachmann) lässt allen »Parteien« ihren Freiraum, glättet die Wogen besonders der beiden hitzköpfigen Männer, stellt ganz persönliche Fragen, die dazu dienen, dass alle Beteiligten mehr voneinander wissen. Und setzt geschickt längere Gesprächs-Pausen ein, in denen sich Mann und Frau, Mutter und Sohn untereinander austauschen – und wieder näher kommen können.

 

Dabei werden Wahrheiten ans Licht gefördert, die unterschwellig sicherlich im Raum standen, offenbar aber nie so direkt und vor fremden Menschen schon gar nicht ausgesprochen worden sind. Etwa von den Schwierigkeiten der vom Festland stammenden Ulla, auf Gotland heimisch zu werden, als Gattin eines Ur-Insulaners akzeptiert und in der Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Sie hat auch nach der Geburt von Nils wegziehen wollen, »nach Schweden«, wie die Gotländer sagen würden, oder ganz ins Ausland.

 

Oder Freyas Wunsch, sich nach einem ganz der Wissenschaft verhafteten Nomadenleben mit Gustav auf Gotland endlich zur Ruhe zu kommen und hier ein Haus zu kaufen. Dem hektischen Wendemanöver im Auto war ein bereits zuvor auf der Anreise ausgebrochener heftiger Streit des Ehepaares vorausgegangen, nachdem er die konkreten Umzugspläne einmal mehr verworfen hatte. So entsteht, um Sörens Kindheitserinnerungen ergänzt, ein ganz uns gar ungeschöntes Bild eines potentiellen Nobelpreis-Kandidaten, der sein Ego immer über die Interessen seiner Familie gestellt hat.

 

Kristina Berg unterbricht für eine Nacht und startet den zweiten Tag mit der Verlesung eines sehr persönlichen Briefes des Fahrzeuglenkers Gustav an die Eltern des Kindes...

 

»Es gibt nichts Größeres als die kleinen Dinge« ist auf den ersten Blick eine nüchterne Laborsituation, eine nachgestellte Mediation, achtzigminütiges Dokutheater, bei dem Marc von Henning seine fünf Schauspieler immer wieder fiktionsbrechend aus ihren Rollen fallen und die eines Erzählers übernehmen lässt. Hinzu kommt noch eine zweite Ebene, deren Fiktionsgehalt absichtsvoll in der Schwebe gehalten wird: Zwei Schauspieler unternehmen den Versuch, mit »realen« Figuren ihres Stücks in Kontakt zu treten.

 

Während Chrysi Taoussanis in Hamburg mit dem in Deutschland geborenen zweiten Sohn der inzwischen verstorbenen Ulla, der so überhaupt erst von der Existenz eines verunglückten Halbbruders erfährt, spricht, macht sich Thomas Klees, vom Rest des Teams herzlich am Flughafen verabschiedet, auf den Weg nach Gotland, um Anders zu treffen – verpasst ihn aber aufgrund eines der Sprache geschuldeten Missverständnisses.

 

Lassen wir es bei der ungeklärten Frage bewenden, ob es sich bei den Video-Einspielungen um ein Fake handelt: Dieser geradezu klassische Verfremdungs-Effekt ist notwendig, um die Gefahr einer rasch ausufernden Mitleids-Dramaturgie abzuwenden. Denn das großartige Ensemble um den Stuttgarter »Star« Verena Buss spielt sich auch in dieser auf der einen Seite kühlen, auf der anderen Seite, was den schrillen Siebziger-Jahre-Look der Kostüme betrifft, auch sehr komischen Laborsituation in die Herzen der sogleich empathischen und am Ende restlos begeisterten Zuschauer, welche das Darsteller-Quintett gar nicht von der Bühne lassen wollen.

 

 

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