Alf André, Intendant 1958 – 1972

Nach den Worten seiner Frau Marianne, stürmte Alf André kurz vor Weihnachten 1957 in die Küche, wo sie gerade beim Plätzchen backen war, und rief: »Kannsch gleich mit dem Backe’ aufhöre’, ich eröffne ein Theater!« Und mit diesem Schwung setzte sich André, von seinen Freunden Jimmy genannt, für die Verwirklichung seines Theaters ein. Es sollte eine Bühne werden, in deren Repertoire moderne Stücke aufgeführt werden, Stücke, die man auf den Spielplänen großer Häuser vergeblich suchte. Zeitgenössische Autoren wie Beckett, Ionesco, Tardieu und Hildesheimer reizten André besonders.

 

André hatte eine Schauspielausbildung an der Staatlichen Hochschule für Musik und Theater in Stuttgart abgeschlossen und den Lebensunterhalt verdiente er mit Taxi fahren. Mit diesem Startkapital – also mit gar nichts – verwandelte er das Kellergewölbe im Hause Geiselhart in ein Theater. Das Tonnengewölbe war dann auch richtungsweisend bei der Namensgebung des Musentempels, der anfangs noch »Theater in der Tonne« hieß.

 

Am 31. Oktober 1958 war es dann so weit: Das Theater in der Tonne wurde mit DAS RENDEZVOUS von Arthur Adamov eröffnet. Nach der Vorstellung überreichte der Bühnenbildner Ekkehard Kröhn, der sich auch um Licht und Requisiten kümmern musste, Blumensträuße an die Schauspielerinnen, darunter ein großer Strauß Chrysanthemen. Die erste Vorstellung war gut gelaufen, der Premierentaumel legte sich allmählich, langsam kam man wieder zu sich und so bemerkte man eine junge Frau, die noch unschlüssig im Flur stand. Auf die Frage, ob man ihr helfen könne antwortete sie: »Ich hätte nur gerne die Chrysanthemen wieder, die auf der Bühne überreicht wurden.« Wie gesagt, es war der 31. Oktober, ein Tag vor Allerheiligen. Der Strauß war für das Grab der Eltern bestimmt. Totenblumen zur Eröffnung – ein Omen? Dies dürfte nach fünfzig Jahren Tonne widerlegt sein.

 

Die Reaktion der Presse auf die Theatereröffnung war gemischt. Der Reutlinger Generalanzeiger äußerte sich skeptisch zum Konzept eines Experimentiertheaters überhaupt und wusste folglich auch mit dem gezeigten Stück wenig anzufangen. Allerdings konstatierte das Blatt: »Die Darstellung: Wir müssen Alf André bescheinigen, dass er darin über das Experiment hinaus ist. Das junge Ensemble spielte mit sichtlicher Begeisterung und, was uns in der Kunst eben noch wichtiger erscheint, mit Können. Der Regisseur hat dem Stück mehr Handlung gegeben als drin ist, und den Adamovschen Figuren, Schemen und Schatten das notwendige Blut verliehen. Es wurden Menschen daraus.«

 

Bald nach dieser Premiere stellte sich das Ehepaar André bei Oberbürgermeister Kalbfell vor. Er war über die erschienenen Kritiken informiert und hörte die Ausführungen über die Etablierung eines privaten Kellertheaters an. Doch die Idee schien ihn nicht zu überzeugen, denn schließlich sagte er: »Machen Sie Ihr Theater so schnell wie möglich wieder zu. Sie werden eine Pleite machen, an der Sie bis zu Ihrem Lebensende zu zahlen haben werden.« Als gebürtigen Bayern machten André solche Worte natürlich bockig, und nun musste er erst recht beweisen, dass sein Theater in der Tonne eine Chance hatte. Die Hilfe einiger Reutlinger Geschäftsleute war dabei nicht zu unterschätzen. So gab es z.B. Hug Rummel, der nicht nur in seinem »Werkhaus« den Kartenvorverkauf für das Theater in der Tonne betrieb, sondern André auch mit vielen wichtigen Leuten zusammenbrachte, die dann wiederum das Theater unterstützten. Wie z.B. der Architekt Wizgall, der den jungen Theatermachern die Stühle aus der Kantine von Emil Wolff auslieh. (Sonntag Nacht, nach den Vorstellungen wurden die Stühle von den Schauspielern zurückgetragen, denn am nächsten Tag wurden sie ja wieder gebraucht.)

 

In den folgenden Monaten sah der Theaterbetrieb so aus: Gespielt wurde nur Freitag, Samstag und Sonntag. Es bestand kein festes Ensemble, die Schauspieler wurden von Produktion zu Produktion neu zusammengesucht. Gagen gab es nicht, alle Mitwirkenden verdienten ihr Geld anderweitig. Im Funk, wie Christoph Eichler oder, wie Johannes Finger, als Bühnentechniker im Staatstheater Stuttgart. Der Herr Intendant fuhr immer noch Taxi. Marianne André, die nach eigener Aussage ja eigentlich gar nichts mit dem Theater zu tun hatte, wurde zum unentbehrlichen Mädchen für alles: Vor der Vorstellung saß sie an der Kasse, während der Vorstellung bediente sie die Technik (deren damaliger Standard höhere Ansprüche an den Bedienenden stellte, als das heute der Fall ist), sie klebte Plakate und half bei der Stückauswahl. Somit war Marianne André also nicht nur Intendantengattin, sondern gewissermaßen auch die erste Dramaturgin der Tonne.