Vom Loslassen und Wiederfinden
von Christoph B. Ströhle
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 11.3.2023
Theater – Das Trauerbewältigungsstück »Gift. Eine Ehegeschichte« von Lot Vekemans am Theater Die Tonne
REUTLINGEN. Das Theater Die Tonne setzt seine Reihe mit Stücken über spannungsreiche Paarungen und Paarkonstellationen fort: Nach dem Hermann-Hesse-Abend »Und dieses Ei heißt Welt« um Figuren wie Narziß und Goldmund und »Love Letters« über einen lebenslangen Briefwechsel ist seit Donnerstag »Gift. Eine Ehegeschichte« der niederländischen Dramatikerin Lot Vekemans zu sehen. Magdalena Flade und David Liske machen die Produktion zu einem traurig-tröstlichen Fest der Schauspielkunst.
Karin Eppler hat das Stück so inszeniert, dass nichts vom Realismus der Situation und der Psychologie der Figuren ablenkt. Die von der Regisseurin selbst ausnehmend nüchtern gestaltete Bühne – einziger Schauplatz ist der Trauerraum eines Friedhofs – erinnert an Räume, die man schon gesehen hat. Betonwände mit schmalen Lichtschlitzen prägen das Bild, davor eine Reihe von Stühlen, in der Raummitte weiße Kerzen, dezent am Rand platziert weißer Blumenschmuck.
Einander verloren
Bitterkeit, Schmerz und gegenseitige Vorwürfe prägen das Bild, das »sie« und »er« in diesem Setting abgeben. Der Anlass für ihre erste Begegnung nach fast einem Jahrzehnt ist ein seltsamer: Ein Schreiben der Friedhofsverwaltung hat das frühere Paar darüber informiert, dass aufgrund eines Giftfundes auf dem Friedhof einige Gräber verlegt und die Verstorbenen umgebettet werden sollen – auch ihr Sohn.
Befremdlich ist, dass sich trotz des vereinbarten Termins von der Friedhofsverwaltung niemand blicken lässt. So hat das zwischen Unbehagen und Interesse am anderen wechselnde frühere Paar reichlich Zeit, sich über Trauer und Verlust, Erinnerung, Liebe und die Suche nach dem persönlichen Glück auszutauschen. Ein Pappbecher mit Automatenkaffee und Schokolade sind ihnen Nervennahrung.
Bezeichnend ist gleich zu Beginn der Moment, als beide sich zum ersten Mal hinsetzen – zwei Stühle zwischen ihnen bleiben frei. Sie brauchen den Abstand, kennen es nicht mehr anders. Momente der offenen Konfrontation und des einander Tröstens folgen im Stückverlauf dem anfänglichen Fremdeln.
Zu verhandeln ist etwa, was ihn in einer Silvesternacht plötzlich bewog, die Koffer zu packen und aus ihrem gemeinsamen Leben zu verschwinden. Da war ihr gemeinsamer Sohn bereits tot, ihre unterschiedlichen Arten, mit der Trauer umzugehen, schienen unvereinbar.
Sie blieb damals stumm, machte keine Anstalten, ihn zurückzuhalten. Was er wiederum nie verstanden hat. Er charakterisiert sie beide als zwei Menschen, die erst ein Kind, dann sich selbst und dann einander verloren haben.
Stich ins Herz
»Jeden Schritt, den ich tue, tue ich mit ihm im Kopf«, sagt die Mutter über ihren verstorbenen Sohn. Auch, dass sie das nicht mehr wolle. Kann er, der Vater des verunglückten Kindes, ihr helfen, den Blick wieder nach vorn zu richten?
Dass er, der inzwischen in Frankreich lebt, eine neue Frau hat, die ein Kind erwartet, versetzt ihr einen Stich ins Herz. Sie hat es gerade erst erfahren. Als er sie dann nach bitterem Wortwechsel erneut zurücklässt, scheint die Annäherung der beiden endgültig gescheitert. Ist sie aber nicht – denn er kehrt zurück, durchschaut nun plötzlich ein Verwirrspiel, in das sie ihn verwickelt hat.
Magdalena Flade und David Liske führen durch ihr sensibles Spiel komplexe Welten vor Augen, die hinter den Worten stecken. Sie zeigen auch, dass Worte oftmals nur leidlich geeignet sind, die eigene Befindlichkeit auszudrücken. Aus ihnen können Trug oder auch eine Kühle und Nüchternheit sprechen, wie sie der Ort dieser Wiederbegegnung mit seinen Betonwänden ausstrahlt.
Und so kommt im Stück – neben der Kraft spendenden Umarmung – auch die Musik ins Spiel als Trostmittel gegen Hoffnungslosigkeit. Sie und er machen sich und einander am Ende nicht nur Vorhaltungen. Sie erinnern einander auch an das, was ihr Leben vor dem großen Verlust und der Trauer glücklich und lebenswert gemacht hat.
Lot Vekemans Bühnentext ist vor allem einer vom Loslassen und vom Wiederfinden. Beim Premierenpublikum hinterließ Karin Epplers schnörkellos-dichte Inszenierung sichtlich großen Eindruck. (GEA)
Trauma-Therapie für ein Ex-Paar
von Matthias Reichert
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 11.3.2023
Premiere – Das Reutlinger Tonne-Theater spielt die Ehegeschichte »Gift« der niederländischen Dramatikerin Lot Vekemans als mitreißende Tour de force durch eine Beziehung, die nach einem tragischen Verlust gescheitert ist.
Diese Inszenierung nimmt sich Zeit. Das Paar, um das es geht, diskutiert, streitet, schluchzt, schreit einander an, versöhnt sich wieder – und macht dazwischen genau immer wieder konsequent die längeren Sprechpausen, die nötig sind, damit diese Emotionen im Publikum nachklingen können. Hier spricht auch die Stille. Und nebenbei: Am Anfang des Stücks geht tatsächlich das Licht aus, und man sitzt im Dunkeln, ganz ohne grell beleuchtete andauernde Publikumsansprache, wie das inzwischen Mode in den Theatern ist. Wohltuend!
Regisseurin Karin Eppler erzählt an der Reutlinger Tonne die preisgekrönte Ehegeschichte »Gift« der niederländischen Dramatikerin Lot Vekemans. Ein Ex-Paar trifft sich neun Jahre nach der Trennung auf einem Friedhof. Dort ist der einzige Sohn der beiden begraben, der vor zehn Jahren bei einem Unfall gestorben ist. Jetzt soll er umgebettet werden, weil angeblich Gift in den Boden gelangt ist.
Seither hatten sie sich nicht mehr gesehen. Er hat sie nach dem Tod des Sohnes in der Silvesternacht verlassen – für sie ein weiteres Trauma, das sie immer wieder herbeizitiert. Nun treffen sie in der leeren Friedhofshalle aufeinander und warten dort anscheinend auf Godot, weil niemand sonst zum Ortstermin erscheint.
Die beiden Protagonisten haben im Stück keine Namen. David Liske und Magdalena Flade spielen behutsam ihr langsames Wieder-Annähern. Epplers Bühnenbild besteht aus einer Wand, einigen Stelen mit Kerzen und sieben leeren Stühlen, beide hocken zunächst mit viel Abstand hin. An der Zahl der Stühle, die zwischen ihnen jeweils frei sind, kann man den Grad ihrer Wiederannäherung ablesen.
Erst fehlen hüben wie drüben die Worte, aber schon bald werden unaufgelöste frühere Spannungen wieder wach. Als langjähriges Ex-Paar kennen sie einander bestens – er ihre vormalige Tablettensucht und ihre bissigen Kommentare, sie seine Art, Emotionen in Worten aufzulösen und sich dabei in die eigene Tasche zu lügen. Unglaublich, wie er die Dinge verdrehe, schimpft sie an einer Stelle.
Der Mann, ein Journalist, hat in der Normandie eine neue Partnerin und erwartet von dieser ein Kind; die Frau wiederum ist allein geblieben. Ihr Beruf wird nicht genannt, sie spricht nur vage von ihrem Alltag. Er sagt, er schreibe ein Buch in Prosa über den Tod des Sohnes – was sie wiederum bis zur Weißglut aufregt: Das sei ihre Geschichte, schimpft sie.
allein ist, sie pocht auf ihre Trauer. Nach und nach schälen sich die vormaligen Erlebnisse aus dem Dialog heraus, zuletzt auch der lange verdrängte Abschied vom Sohn im Krankenhaus. Das kann man nicht detailliert nacherzählen, das muss man einfach anschauen: die fast erstickte Trauer, aber auch die gegnerischen Vorwürfe, die Ansätze zur Versöhnung, die kleinen Bissigkeiten. Florett und Degen. Er will gemeinsam mit ihr einen Schlussstrich ziehen, sie verspottet seinen Hang zu Metaphern. Er brüllt vor Wut über den Verlust des Sohnes, schreibt und tobt, sie panzert sich mit Zynismus.
Rauf und runter geht das die Emotions-Klaviatur. Diesmal schafft es der Mann nicht, sie wieder allein zu lassen. Als er schon gehen will, holt er Wein und Käse und kommt zurück, sie versöhnen sich. Beide erzählen einander, wie sie damals den Tod des Sohnes und die Trennung erlebt haben. Jetzt endlich kommt es zu einem echten Austausch, jetzt endlich reden sie wirklich miteinander. Ganz eindringlich spielen Liske und Flade das. Jede Nuance zählt, jedes Wort sitzt. Nun erst entsteht wirkliche Nähe. Das wirkt mühelos und ist doch unendlich schwer zu spielen. Der Humor beider Protagonisten erwacht, es gibt ein altes Lied und eine tröstende Umarmung am Ende. Ganz unaufdringlich werden außerdem auch tiefe philosophische Fragen angesprochen: Vielleicht, sagt der Mann, müssen wir aufhören zu wollen, dass es jemals wieder so wird wie früher.
Nein, dieses Stück hat kein Happy-End, alles geht so weiter wie bisher, und doch ist nichts mehr so wie damals. Eine stark gespielte emotionale Achterbahnfahrt, bei denen wohl jeder und jede im Publikum an eigene vormalige Verluste gedacht hat – und an den Umgang damit. Sehr langer, starker und verdienter Applaus.
Unterm Strich
Ein Stück darüber, dass Kommunikation lebensnotwendig ist. Unaufdringlich und präzise inszeniert, lebensecht verkörpert. Magdalena Flade und David Liske spielen beklemmend realistisch. Wer immer einer alten Liebe nachtrauert, sollte das anschauen!