Spiel mit der Wahrnehmung

von Christoph B. Ströhle

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 12.05.2016

 

THEATER - Starkes Stück: Die Tonne bringt mit »Glücksträumerei« das Lebensgefühl einer 15-Jährigen auf die Bühne

 

REUTLINGEN. Kann eine 15-Jährige ein auch für Erwachsene überzeugendes Theaterstück schreiben? Die Kirchentellinsfurterin Lena Hilf kann es. Im Reutlinger Theater Die Tonne hatte am Dienstagabend ihre »Glücksträumerei« Premiere. Das Publikum, darunter viele Jugendliche, war anschließend ganz aus dem Häuschen. Lena Hilf, die ihr Auslandsjahr in Schweden unterbrochen hatte, um bei der Uraufführung dabei zu sein, und die ausnahmslos jugendlichen Darsteller wurden mit Jubel überschüttet.

 

Zu Recht. Das Stück, Karen Schultzes eindringliche Inszenierung und die ungekünstelt und kraftvoll agierenden Darsteller überzeugen auf ganzer Linie.

 

»Wege zum Glück« hieß das Thema, das der Tonne-Verein für einen Schreibwettbewerb, der sich an junge Autoren richtete, ausgegeben hatte. Lena Hilf, die seit sie denken kann, Texte schreibt, griff es auf. Die Frage, was im Leben »wirklich« ist, habe sie dabei besonders interessiert, verriet sie im Pressegespräch nach der Premiere. »Ich hab´ vor einiger Zeit eine Geschichte darüber geschrieben, dass eine Person aufwacht und merkt, dass das ganze Leben ein Traum war. Das hab´ ich hier wieder ein bisschen mit reingebracht«, sagte sie. Der Gedanke »Wie viel, von dem, was jetzt gerade passiert, ist echt?« fasziniere sie. Erstaunlich reife Gedanken für eine mittlerweile 16-Jährige, die gerade an einer Novelle schreibt und ein neues Stück plant.

 

Theaterluft als Darstellerin hat sie in der Theater-AG des Tübinger Wildermuth-Gymnasiums und aktuell in Schweden geschnuppert. Auf die Frage, was ihr wichtiger ist, das Spielen oder das Schreiben, sagt sie: »Ich weiß noch nicht, in welche Richtung ich gehen will.« Beim Schreiben aber werde sie sicher bleiben.

 

Leben oder Traum

In »Glücksträumerei« kommt die Protagonistin Mira gleich zweimal vor. Leonie Gottschald erzählt von den Problemen, in die sie, Mira, geraten ist, während Charleen Lowack als Mira diese schmerzlich durchlebt. Reflektierend gelingt es der Erzählerin immer wieder, das Geschehen neu an- und einzuordnen.

 

Auf ein Fingerschnipsen hin frieren die Szenen ein. Arim (Lea Letsche), eine Traumfigur, die Mira erstmals begegnet, als sie von zu Hause abgehauen ist und auf einer Parkbank schläft, konfrontiert sie mit ihrer veränderbaren Sicht auf die Dinge, mit Punkten in ihrem Leben, an denen sie ihrem Glück oder dem Glück anderer im Weg steht. Ihr Freund Lionel, gespielt von Kristof Klein, verhält sich seit einiger Zeit eigenartig. Erst hat er sie versetzt, als sie ins Kino wollten, dann hat er Mira zu einem Einbruch in den Laden ihrer Mutter überredet. Der Ärger lässt nicht lange auf sich warten - zumal ein Zeuge (Marie Zils als Tom und als ermittelnde Polizistin) das Ganze beobachtet hat. Durch Arims Hilfe erkennt Mira, wie es um den durch den Weggang seines Vaters unter Druck geratenen Lionel steht. Dass sich nicht alles um sie und ihre eigene Befindlichkeit dreht. Dass Lionel sie als Freundin braucht, auch wenn er es ihr nicht zeigen kann. Dass sie ihm helfen kann, indem sie offen mit ihm über Dinge spricht, die sie und ihn belasten. Arim und eine schwarze Gestalt, die mit einer Pistole durch Miras Leben - oder ist es eine Traumwelt? - schleicht, verkörpern die unterschiedlichen Facetten der Wahrnehmung dessen, was Glück oder Unglück ist. Arim formuliert es so: »Das Glück ist doch kein Hund, der kommt, wenn man ihn ruft.«

 

Lena Hilf und Regisseurin Karen Schultze lassen - auf karger Bühne - die Frage, was wirklich ist, bewusst in der Schwebe. Äußere Welten und innere Welten korrespondieren miteinander, und Mira hat im eine Stunde dauernden Stück reichlich zu tun, zu beiden eine Haltung zu finden. Ihr dabei zuzusehen, ist irritierend und inspirierend. Der Theaterabend bleibt in Erinnerung. Lena Hilf - diesen Namen sollte man sich merken!

 

 

Leben: Traum oder Alptraum

von Kathrin Kipp

REUTLINGER NACHRICHTEN, 12.05.2016

Das Leben, ein Traum? Oder vielmehr ein Alptraum? Lena Hilfs Stück »Glücksträumerei« changiert zwischen Traum und Wirklichkeit, Schein und Sein.

 

Wer ist sie? Und wenn ja, wie viele? Das kann man sich auch in der »Glücksträumerei« bei der Protagonistin Mira (Charleen Lowack) fragen, die gleich in mehreren Ich-Versionen auftaucht, und das auch noch immer irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit: echt tricky. Zunächst scheint alles noch relativ real: Mira geht mit ihrem Freund Lionel (Kristof Klein) auf Einbruchstour, ausgerechnet im Laden von Miras Mutter. Prompt wird sie angezeigt - ein Alptraum. Mira trennt sich von Lionel, nimmt Reißaus, liegt seitdem immer wieder im Park oder am Bahnhof auf einer Bank, träumt vor sich hin, weiß nicht, wie ihr geschieht, und will eigentlich nur ein klein wenig glücklich sein.

 

Erzählt wird die Geschichte aus der Rückschau von einer zweiten Mira (Leonie Gottschald): Diese Mira hat aus ihrer eigenen Geschichte schon gelernt und weiß, dass das Glück weder herausgefordert, noch erreicht werden kann, sondern nur eine Frage der Sichtweise ist. Genauso wie die Wirklichkeit - alles eine Frage der Perspektive. In Miras Träumen taucht außerdem immer wieder ein ominöses Wesen auf: Arim (Lea Letsche), eine orientalisch angehauchte Prinzessin, die Mira ins Gewissen redet, alles besser weiß, sie mit sich selbst konfrontiert und immer wieder den entscheidenden Schubs gibt, ihre Probleme anzugehen und mit den jeweiligen Personen zu reden.

 

Regisseurin Karen Schultze hat das Stück - das von Lena Hilf aus Anlass eines Schreibwettbewerbs für junge Autoren vom Tonne-Verein zum Thema »Wege zum Glück« verfasst worden war - ebenfalls mit jungen Nachwuchsschauspielern besetzt, die eigens dafür »gecastet« worden waren. Schließlich sind die Protagonisten alles Jugendliche. Und so ist »Glücksträumerei« ein fast schon philosophisch vertracktes Stück von Jugendlichen über Jugendliche für Jugendliche, die auf ihrer Identitätssuche das Thema Schein und Sein, Traum und Wirklichkeit auch noch nicht abschließend behandelt haben.

 

Auf der Bühne steht eine sphärisch beleuchtete Traumbank auf mehreren übereinander geschichteten Gitterböden. Die jungen Schauspieler agieren mit souveräner Coolness, und wenn Leonie Gottschald als ziemlich entspannte Erzählerin und Kommentatorin mit dem Finger schnippt, befinden sich alle schon wieder in der nächsten Erzählwirklichkeit, als wäre das alles völlig normal.

 

Die »echte Mira« Charleen Lowack windet sich schon etwas aufgeregter durch ihr Abenteuer Leben - immer zwischen Einerseits und Andererseits. Hat sie doch immer wieder mit mehreren munter miteinander diskutierenden Stimmen im Kopf zu kämpfen. Sie will das Glück erzwingen, aber das Glück rennt wie immer hinterher, das weiß auch Arim, Miras aufgewecktes anderes Ich, das mitunter so real erscheint wie sie selbst: »Obwohl ich in deinen Träumen vorkomme, kann ich trotzdem Wirklichkeit sein« - sind Träume nicht auch Wirklichkeit? Und Arim flüstert Mira stets weise Sprüche und schlaue Fragen zum Thema Glück ins Ohr: Wenn Glück im Grunde nur aus Hormonen besteht, kann man es dann nicht einfach »in Tabletten pressen«?

 

Kristof Klein wiederum spielt ihren ziemlich machohaften Freund Lionel, der einfach ziemlich viel Pech hatte im Leben: Schlecht gelaunt und etwas selbstmitleidig gerät er auf die falsche Spur. Oder ist das bei ihm auch nur ein Alptraum? Träumen etwa beide denselben Alptraum? Ist so etwas möglich?

 

Marie Zils spielt den zwielichtigen Tom, einen kleinen Ghettogangster mit Kapuzenshirt und Goldringen, der einerseits andere Jungs für sich arbeiten lässt, andererseits aber längst nicht so den knallharten Kerl raushängt wie Lionel. Einerseits will Tom Lionel für sein kriminelles Dienstleistungsgewerbe anheuern, andererseits rettet er ihm das Leben. In diesem Stück ist deshalb nur eines sicher: Die Wirklichkeit ist relativ.

 

Zusatzinfo

Lena Hilf - zur Autorin Lena Hilf, mittlerweile 16 Jahre alt, besucht normalerweise das Tübinger Wildermuth-Gymnasium. Derzeit verbringt sie ein Auslandsjahr in Schweden und wurde zur Premiere ihres Stücks extra eingeflogen. Sie selbst spiele zwar in Schweden auch Theater, aber ein eigenes Stück auf der Bühne zu erleben, sei noch mal »etwas ganz Anderes«. Sie habe nie gedacht, »was man aus einem Stück alles rausholen kann«, das sei »unglaublich«, sagte sie nach der Uraufführung in der Tonne.

 

Mit der Inszenierung von Karen Schultze und den jungen Nachwuchsschauspielern ist sie vollauf glücklich: »eine tolle Arbeit«. Die Figuren habe sie sich fast genau so vorgestellt, auch den undurchsichtigen Tom, bei dem man ja nie genau wisse, ob er jetzt gut oder böse ist: »Das muss jeder selbst beantworten.« Figuren führten ja immer eine Art Eigenleben, und die Geschichte schreibe sich manchmal »wie von selbst«, sagt Lena Hilf. Und ihre Figuren sollen sich ja in den Situation »so frei wie möglich bewegen«.

 

Sich mit verschiedenen Wirklichkeitsebenen auseinander zu setzen, finde sie höchst spannend. Auch aktuell schreibe sie an einer Geschichte über eine Person, die aufwacht, "und alles vorher war nur ein Traum: ein interessanter Gedanke", findet die 16-Jährige. "Was ist echt, was nicht?"

 

Ob sie auch in Zukunft in Richtung Theater geht, weiß sie noch nicht. Aber Schreiben wird sie auf jeden Fall: "Das gibt mir viel", sagt die junge Autorin. Und Karen Schultze ergänzt: "Uns auch".

 

 

Was man vielleicht schon hat

von Dorothee Hermann

SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 12.05.2016

 

Reutlinger Tonne: Eindrucksvolle Premiere des Schülerstücks »Glücksträumerei«

 

Als es dunkel wird im Tonne-Gewölbe, breitet sich so glaubhaft die Atmosphäre eines beklemmend verlassenen Ortes aus, dass einem ein bisschen unheimlich werden kann. Eine schmale Gestalt, das Gesicht halb unter einer Kapuze verborgen, bewegt sich verstohlen durch die Szenerie (Marie Zils als Tom). Ausgerechnet in diesem ungeschützten Raum wird Mira (Charleen Lowack) von ihrem Freund Lionel (Kristof Klein) bedrängt, ihm beim Einbruch in die Boutique ihrer Mutter zu helfen.

 

REUTLINGEN. Die Uraufführung des Stücks »Glücksträumerei« der 16-jährigen Lena Hilf im Reutlinger Tonne-Theater wurde am Dienstagabend begeistert aufgenommen. Die Schülerin vom Tübinger Wildermuth-Gymnasium splittet ihre Hauptfigur in drei mehr oder weniger unterschiedliche Personen – in einer Nacht, in der das Mädchen zum ersten Mal ganz auf sich selbst angewiesen ist. Folgerichtig treten drei Darstellerinnen auf: Mal schaut Mira in einer Rückblende ein erwachseneres Selbst über die Schulter. Wenn Mira2 (Leonie Gottschald) mit ernstem Gesicht kommentiert, was anscheinend bereits in der Vergangenheit liegt, stellt sich die paradoxe Frage, in welcher Zeit sich eigentlich abspielt, was auf der Bühne zu sehen ist. Dann wieder erscheint zu einer süß klimpernden Plinker-Plinker-Musik eine Art orientalische Fee (Lea Letsche als Arim) und konfrontiert Mira genau mit den Fragen, vor denen die sich drückt.

 

Die Bühne ist abstrakt-minimalistisch und dabei so einfach wie suggestiv: Drei quadratische Stahlgitter übereinander geschichtet, darauf ein Objekt, das ein Flatscreen sein könnte, eine Raumskulptur oder eben die Bank vor dem Bahnhof. Auch eine Stadt bei Nacht ließ sich assoziieren, der sogenannte öffentliche Raum als Leerstelle, oder das Erwachsenwerden als zeitweise ziemlich unheimlicher Ort (Bühne und Regie: Karen Schultze).

 

Die junge Autorin war nach der Premiere ziemlich überwältigt. »Es ist ein unbeschreibliches Gefühl«, meinte sie. »Ich hätte nicht gedacht, wie viel man aus dem Stück herausholen kann.« Zu den Figuren mochte sie nichts sagen. »Sie haben eine Eigendynamik.« Und: »Das ist, wie wenn man J.K. Rowling fragt, was mit Harry Potter passiert, wenn er 80 ist.«

 

Das Spiel mit Traum und Realität hat sie besonders fasziniert. »Ich finde es sehr interessant zu überlegen, was ist eigentlich wirklich? Was ist echt?«, sagte die Schülerin. Glück sei für sie nicht etwas Fernes, das es zu erreichen gilt, sondern etwas, das man vielleicht schon hat.

 

Unterm Strich

Schlichte, aber sehr stark inszenierte Teenie-Geschichte. Interessante Brechungen durch Figurensplitting und unterschiedliche Erzählebenen. Die minimalistische, aber suggestive Bühnengestaltung und die präzise Darstellerführung verstärken das spannende Theatererlebnis.

 

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