Mitschnitt Preisverleihung »andersartig gedenken on stage«, 20.6.2023

 

PREISVERLEIHUNG

andersartig gedenken on stage

 

3.bundesweiter Theaterwettbewerb
zu Biografien der Opfer der
NS-»Euthanasie«-Verbrechen

 

Laudatio für den 1. Preis in der Wettbewerbskategorie
Inklusive Erwachsenen-Theater
für das Theater Reutlingen Die Tonne
für »Hierbleiben... Spuren nach Grafeneck«

 

Berlin, 20. Juni 2023

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

lange nicht habe ich ein Theaterstück gesehen, in dem alles, was ich mir wünsche an Theater- Professionalität jenseits von Routine – geschichtliche Fakten, die eine tragische Zäsur im Menschsein bedeuten, persönliche Schicksale und damit einhergehend tiefe Betroffenheit, Poesie und gelungene Inklusion – so zusammenkommt wie in »Hierbleiben...Spuren nach Grafeneck«.

 

Ich zitiere aus der Jury: »Das Stück war würdevoll, stark und kraftvoll. Die Einbindung des Rassismus war überzeugend. Auch die rhythmisierte Sprache war wunderbar.« Ende der Zitate.

 

Für mich – als Mutter eines 47-jährigen Sohnes mit Down Syndrom und als Gründerin und Regisseurin des RambaZamba Theaters – gab es viele überaus überzeugende Aspekte, warum ich mich auch so freue über diesen verdienten Preis: Die jahrelange Zusammenarbeit eines professionellen Theaters Reutlingen mit dem Projekt »Die Tonne« fruchtete in einer äußerst überzeugenden Spielweise aller Darstellerlnnen.

 

Nur dadurch konnte das Stück seine unglaubliche Strahlkraft entfalten, die es braucht, wenn es auf den Marktplätzen der Orte gespielt wird, aus deren Anstalten Betroffene in grauen Bussen zur Vernichtung nach Grafeneck gefahren wurden. Historisch genau erzählt geht die Geschichte in die Gegenwart, wenn die Namensbücher ausgelegt werden, in denen Bewohner vielleicht Verwandte oder Nachbarn wiederfinden können.

 

Zum anderen wurde eine kluge Erzählweise gewählt, die mit wenig, aber assoziativen Bühnenelementen auskam. Erschütternd, wie die sperrig anmutenden Wagen zu Zellen, zu Bussen, zu Duschen wurden.

 

Originale Gasflaschen dienten als Begrenzung und Klangmittel. Die SpielerInnen lasen Texten vor, die nicht ihre waren, aber deren Subjekte sie wurden während des Lesens. Grausames Theater, das befreit, souverän und ohne Selbstmitleid gespielt. Karneval und Märchen, Volkslieder und selbsterfundene Lieder wie »Grafeneck« ließen nie Sentimentalität oder falsches Mitleid aufkommen. Es gab Momente, an denen die Tränen liefen, dennoch fühlte ich mich nicht manipuliert, dank der theatralischen, karnevalesken Spielweise. Ich danke dem Theater für dieses Theatererlebnis.

 

Dr. Gisela Höhne
Juryvorsitzende

 

 

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