Dass sowas nie wieder geschieht
von Melinda Weber
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 05.10.2020
Theater − Das inklusive Ensemble der Tonne tourt mit der Produktion »Hierbleiben... Spuren nach Grafeneck« durchs Land
REUTLINGEN. »Name, Krankheit, Rasse«. Die 14 Ensemblemitglieder rufen es immer wieder im Chor. »Name, Krankheit, Rasse«. Dann stellen sich alle selbst vor. Nennen Name, Herkunft und Diagnose. Etwa infantile Zerebralparese oder schizoaffektive Psychose. Alle blicken selbstbewusst ins Publikum. Stille.
Es ist eine außergewöhnlich eindringliche Produktion, die das inklusive Ensemble des Theaters Die Tonne am Freitag gleich zwei Mal auf dem Reutlinger Marktplatz zeigte. Denn die Produktion »Hierbleiben... Spuren nach Grafeneck« beschäftigt sich mit dem idyllisch auf der Alb gelegenen Schloss und seiner grausamen Geschichte als systematische Tötungseinrichtung für Menschen mit Behinderung. Insgesamt 10.645 Menschen wurden im Jahr 1940 in Grafeneck im Auftrag der Nationalsozialisten ermordet. Der Tonne-Theaterverein präsentiert nun eine spartenübergreifende Produktion, die emotional einschlägt.
Eine lineare Handlung gibt es nicht. Dafür viele Szenen und Fragmente unterschiedlichster künstlerischer Ausdrucksformen. Tanztheater, Schauspiel, Musik und Videokunst bilden einen Performance-Hybrid, der die Geschichte Grafenecks sowohl künstlerisch, als auch dokumentarisch aufarbeitet. Künstler aus dem Bereich Multimedia, bildende Kunst, Tanz und Musik haben den Theaterverein und Regisseur Enrico Urbanek bei dieser Produktion unterstützt. Fördermittel gab es über das Leader-Programm der EU, das Initiativprogramm der Kulturstiftung des Bundes, Trafo, und Daimler Truck.
Persönliche Reflektionen
Ursprünglich war das Projekt als interaktives Straßentheater geplant. Als einzelne Performance-Sequenzen, die neugierige Passanten an verschiedenen Stationen auf der Straße zum Stehenbleiben bewegen sollten. Dass es nun doch ein über 90 Minuten langes Bühnenstück mit festen Sitzplätzen geworden ist, ist Corona geschuldet. Die 60 Plätze, die für die Vorstellungen auf dem Reutlinger Marktplatz bereitstehen, sind schnell besetzt. Zahlreiche weitere Zuschauer schließen sich nach und nach an und schauen im Stehen zu. Das Prinzip Straße funktioniert also trotzdem.
Alles beginnt ruhig. Drei Ensemblemitglieder berichten in kurzen Erzählsequenzen von ihrem ersten Besuch auf Schloss Grafeneck. Von der schönen Landschaft, den Geräuschen, dem eisigen Wind, der ihnen auf dem Weg zu Gedenkbuch mit dem Namen der 10.654 Opfer entgegen wehte. Dann: »Mich hätte es auf jeden Fall auch erwischt.« Die Ensemblemitglieder geben in ihren kurzen Monologen Persönlichstes preis. Der Zuschauer lauscht still und schluckt.
Im weiteren Verlauf des Stücks werden historische Fakten, assoziative Bilder und fiktive Szenen miteinander verwoben. Das Ensemble singt (Gesangseinstudierung: Ulrike Härter), liest Abschiedsbriefe von Opfern vor, nimmt fiktiv den ärztlichen Direktor der Tötungsanstalt ins Kreuzverhör, schließt sich zum bedrückenden Trauerzug zusammen, der sich für die Abfahrt in einem der todbringenden grauen Busse bereit macht. Letztlich bleibt nur das Rasseln der Gefängnisketten auf Asphalt übrig (Choreografie: Yaron Shamir, Komposition: Sandrow M). Und das Ensemble beschwört inständig im Chor: »Auf dass so was nie wieder geschieht.«
Während der szenischen Collage die ganze Zeit über präsent: dunkle, käfigartige Module, die als mobile Bühnenelemente immer wieder verrückt werden. Ein bedrückendes Bühnenelement taucht immer wieder auf: die Gasflaschen, die wahlweise zur Bühnenbegrenzung, Urne oder zum Soundinstrument werden. Eine gemeinsame Idee von Ausstatterin Sibylle Schulze und Michael Schneider (Komposition/Musik).
Letzterer begleitet das gesamte Stück soundtechnisch immer wieder live. Besonders eindringlich: die eigens komponierte Grafeneck-Moritat. Die Bilder dazu tragen die Ensemblemitglieder in Form von Tablet-PCs um den Hals. Ein Beitrag des Tübinger Medienkünstler-Duos Casa Magica (Friedrich Förster und Sabine Weißinger).
In einer surrealen Modenschau findet die theatrale Collage dann ihren Höhepunkt. Das letzte Wort klingt auch noch während der abschließenden Druckaktion mit Bildhauer Jochen Meyder nach: »Hierbleiben«.
Bis Juni 2021 tourt das Ensemble mit dem Stück weiter durchs Land. Gezeigt wird es an insgesamt 24 Orten: an all jenen Orten, aus denen die Nazis vor 80 Jahren die 10.654 Menschen deportierten, die nach Grafeneck gebracht und dort ermordet wurden.
Starke Bilder für das Grauen
von Matthias Reichert
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 05.10.2020
Premiere − Das inklusive Ensemble des Reutlinger Tonne-Theaters bringt eindringlich die Geschichte der Nazimorde von Grafeneck auf die Marktplätze
An 25 süddeutschen Orten spielt das inklusive Ensemble des Reutlinger Tonne-Theaters, finanziert von der EU, Bundeskulturstiftung und Landkreis, unter dem Titel »Hierbleiben« seine Spurensuche nach Grafeneck. Am Freitag war die Reutlinger Premiere auf dem Marktplatz, unterm Riesenrad ist es eng geworden.
Wie berichtet, musste Intendant und Regisseur Enrico Urbanek wegen Corona umplanen und das vorgesehene interaktive Straßentheater in Aufführungen mit Sitzplätzen abändern. Dennoch haben auch viele Leute hinter den Absperrbändern stehend zugeschaut. Die 14 Darsteller/innen stecken in roten Overalls. Eingangs erzählen drei Rollstuhlfahrer/innen, wie sie auf einer Fahrt ins Samariterstift die Erinnerung an die Nazimorde vor 80 Jahren erlebt haben.
»Der letzte Weg - da musste ich schon schlucken, das liegt mitten im Nirgendwo«, so Santiago Österle. »Wenn ich damals gelebt hätte, wäre ich wahrscheinlich auch umgebracht worden«, sagt Alfhild Karle. »Mich hätte es auch erwischt - wenn ich überlege, was ich im Monat koste«, so Seyyah Inal.
DIe übrigen Akteurinnen und Akteure läuten tanzend mit Glocken. Vom Band ertönen Geräusche von Lokomotiven. Der musikalische Leiter Michael Schneider spielt getragene Synthesizer-Klänge, später Geige und Gitarre. »Angst - Respekt - Kälte - Trauer«, skandiert Österle, die anderen stimmen ein.
Sie stellen sich in einer Reihe auf, rufen: »Name - Krankheit - Rasse« und nennen ihre eigenen Behinderungen. Eine gereimte Moritat erzählt von den Morden an 10.654 Menschen mit psychischen Krankheiten und geistigen Behinderungen: »Damit man niemals mehr vergisst, was damals hier geschehen ist«, so Österle. »In Bussen holte man sie weg und brachte sie nach Grafeneck«, so Karle.
Blaupause für die Morde der Nazis
Die Tötungsanstalt in den Gaskammern des Samariterstifts war zugleich die Blaupause für die millionenfachen Morde in den Vernichtungslagern der Nazis. Das wird im Stück ebenso thematisiert wie die Karriere des Mediziners Horst Schumann, der später in Auschwitz mit Menschen experimentierte. Auch eine Schreibkraft aus Grafeneck kommt zu Wort: »Ich hätte diesen Job nie angenommen, wenn ich gewusst hätte, was dort passiert«. »Euthanasie« - schöner Tod, nannten die Nazis zynisch ihre Morde. Schreibmaschinen tippen klappernd Todesnachrichten für die Angehörigen, in denen die Mörder scheinbar natürliche Ursachen amtlich machten. Dazu erklingt das Lied: »Kein schöner Land in dieser Zeit«. Ein Medizinvortrag thematisiert Kohlenmonoxid und den dadurch verursachten Erstickungstod.
Requisiten sind rollbare Gatter, leere Gasflaschen, auf denen sie martialisch mit Gabeln herumkratzen und mit Hämmern draufschlagen (Ausstattung: Sibylle Schulze). Eine Schulaufgabe aus dem Rechenbuch des Unmenschen: »ein Geisteskranker kostet täglich 4 Reichsmark, ein Krüppel 5,5«. Die Akteure legen ein Hakenkreuz aus Schnüren aus und demontieren es, versinnbildlichen mit Ketten und Bändern das Grauen durch Tänze (Choreografien: Yaron Shamir).
Ein wahrer Danse Macabre, mit Engelsflügeln am Rolli, Bildern der Opfer und gemalten Köpfen, unter denen sie »Miteinander« geschrieben haben. »Auch aus Reutlingen wurden Menschen nach Grafeneck deportiert«, berichtet Gabriele Wermeling. Die Akteure schwingen Fahnen und Schilder, auf denen in Frakturschrift »Volksschädling« steht. Eine Reise ins Ungewisse als Balanceakt auf einem Podest. »Hierbleiben«, rufen sie schließlich im Chor.
Die abschließende interaktive Kunstaktion mit Jochen Meyder wird wegen Corona auf Distanz gehalten. Auf Zuruf schaut das Ensemble in einem Buch mit den Namen der Opfer nach, ob auch Verwandte der Zuschauer in Grafeneck gestorben sind. Offenes Ende und warmer Applaus. Wie singt Österle an einer Stelle: »Grafeneck bleibt selbst im Dunkeln ein schwarzer Fleck«.
Unterm Strich
Eine berührende Inszenierung, die eindrückliche Worte, Klänge, Bilder und Tänze für das Grauen von Grafeneck findet. Zugleich eine beherzte Mahnung - gerade in Zeiten des wieder zunehmenden Rechtsextremismus.
Inklusives Theaterprojekt feiert Premiere
von Peter Lahr
RHEIN NECKAR ZEITUNG, 21.09.2020
In »Hierbleiben…Spuren nach Grafeneck« geht es um Deportationen unter den Nationalsozialisten
Mosbach. Verschiedenste Schicksalsfäden aus unterschiedlichen Zeiten woben die Parzen am Donnerstag auf dem Mosbacher Marktplatz schließlich doch noch glücklich zusammen und ermöglichten so rund 100 Zuschauern und »Zaungästen« ein inklusives Theatererlebnis mit Tiefgang, hoher Assoziationsdichte und überraschenden Wendungen. 80 Jahre, nachdem die Nationalsozialisten 10.654 Menschen in der ersten deutschen Vernichtungsanlage auf Schloss Grafeneck auf der Schwäbischen Alb ermordet hatten, präsentierte der Reutlinger Verein »Theater in der Tonne« mit einem 14-köpfigen, inklusiven Ensemble das selbstentwickelte Stück »Hierbleiben…Spuren nach Grafeneck«.
Die spartenübergreifende Produktion von Regisseur Enrico Urbanek ist ein Leader-Projekt und wurde durch die Corona-Pandemie heftig gebeutelt. Ursprünglich sollte die Premiere am 8. Mai auf dem Reutlinger Marktplatz stattfinden – als eher lose verbundener Bilderbogen, »mit Pausen und ohne Stühle«, wie Projektleiter Maximilian Tremmel im Gespräch mit der RNZ erklärte. Nach dem Lockdown kam nun Mosbach in den Genuss der Premiere. Auch dieser Termin war mit Bedacht gewählt: »Der 17. September war einer der drei Jahrestage der Deportationen«, so Tremmel. Bei spätsommerlichen Temperaturen und unter Einhaltung diverser Schutzmaßnahmen gelang ein modifiziertes »Gesamtkunstwerk«, welches Musik, Theater, Tanz und bildende Kunst raffiniert miteinander zu einem knapp zweistündigen Schauspiel verzahnte. In weiteren 23 Orten, aus denen Menschen mit Handicap mittels der berüchtigten »grauen Busse« abgeholt wurden, will die »Tonne« bis Mitte nächsten Jahres Station machen.
Ein leises »Zicke zacke, zicke zacke, hoi hoi hoi« erklingt gleich darauf hinter dem silbermetallicfarbigen Mercedes Sprinter, der das quadratische Bühnenbild zur Stiftskirche hin abriegelt. Das Ensemble betritt in roten Overalls die »Bühne« und schraubt lose verstreute Stangen zu fahrbaren »Transportkisten« zusammen. Sie gemahnen nicht von ungefähr an Käfige.
»Die Menschen waren damals nichts wert.« »Ich fand es total gruselig. Die Umgebung ist total schön, wenn man dann überlegt, was da passiert ist.« Einzelstimmen beschreiben die Eindrücke des Ensembles beim Besuch von Grafeneck. Das ehemalige Jagdschloss der württembergischen Könige unweit von Münsingen beherbergt heute eine Gedenkstätte. Aber die Akteure bleiben nicht im Gestern stehen, geben auch Persönliches preis: »Mein Rollstuhl kostet 23.000 Euro. Ich koste 5000 Euro im Monat den Staat. Mich hätte man damals auch ermordet.«
Die Schauspieler agieren in immer anderen Rollen, erzählen die Geschichte der Vernichtungsanlage und der verbrämenden Lügenpropaganda vielschichtig, bildgewaltig und mit Mut zu großen Emotionen. Schlagworte wie »Angst, Trauer, Kälte, Anketten, Scheuklappen, Sicherheit, Hand aufs Herz«, skandiert ein antikisch anmutender Chor, der sich unisono steigert zur Demonstration des Hauptanliegens: »Respekt! Respekt! Respekt!«
Mal gemahnt das Werk an ein Mysterienspiel, mal greift es zum Brecht‘schen Mittel der Moritat. Volkslieder bürstet das Ensemble gegen jegliche romantische Stimmlage. Enttarnt so rückwärtsgerichtete Heimattümelei – vielleicht einmal zu viel. Zwei Schreibmaschinen werden zum Symbol der tödlichen Bürokratie. Andere Symbole werden genüsslich zerlegt. So wird aus einem Hakenkreuz, das akkurat am Boden liegt, ein Hopfseil, ein Hochseil, ein Mikrofonkabel, ein Ballspiel, ein Tanzplatz.
Als Andockpunkte dienen immer wieder die fahrbaren Käfige, die zum Büro und Gefängnis mutieren, zum Bus, zum Tempel und zur Friedhofskapelle. Metallene Behälter ähneln gleichzeitig Gasflaschen und Bootsfendern. Sie halten Abstand und werden zu Urnen. Die Schauspieler ziehen darüber mit ihren Gabeln, was schrille Laute gebiert. Noch schriller ist das Schlussbild, eine groteske Alptraumfantasie, die daran gemahnt, dass einst Behinderte mit »Freaks« auf Jahrmarktschauen zu bestaunen waren. Die Spur der grauen Omnibusse führt unmissverständlich über den Laufsteg. Das Wort vom »Mondkalb« feiert eine üble Auferstehung.