LUFTIG UND BERÜHREND

von Kathrin Kipp
REUTLINGER NACHRICHTEN, 13.02.2012


»Ich hab nie gelebt. Ich bin nur ein paar Mal gestorben«: Das Tonne-Theater zeigt in der Planie 22 die Selbstmordkomödie »Harold und Maude«. Enrico Urbanek inszeniert luftig, boulevardesk und doch berührend.


REUTLINGEN. Harold und Maude sind eines der schrägsten Paare der Filmgeschichte: Die unkonventionelle Maude ist 79 und ziemlich lebenslustig, will aber auf keinen Fall den richtigen Zeitpunkt zu verpassen, um abzutreten. Harold ist zarte 18 Jahre alt, Sozialautist, Bastler und hat den exzentrischen Hang, mit inszenierten Selbsttötungen sein Umfeld zu schocken.

Und so treffen sie sich auf Beerdigungen und finden Gefallen aneinander. Harolds Mutter wiederum hat mit ihrem Sohn ganz eigene Pläne: Er soll endlich normal werden. Sie schickt ihn deshalb zur Psychiaterin und jede Menge Heiratskandidatinnen ins Haus.

Enrico Urbanek gibt dieser schwarzhumorigen, tragikomischen und für die 70er durchaus auch gesellschaftskritischen Liebesgeschichte von Colin Higgins, der kurz nach dem Drehbuch auch das Theaterstück verfasst hat, eine locker, luftige, durchaus berührende, wenn auch leicht boulevardeske Plastizität. Und versetzt sie mit hübschen Selbstmorddarbietungen.

Schon die Ouvertüre auf der verschachtelten Mehrzweckbühne zeigt einen gekreuzigten Harold: Jan Paul Werge hängt halbnackt in diversen Auspuffrohren und singt mit Knabenstimmchen eine sakrale Weise. Yvonne Lachmann als seine diesbezüglich schon etwas abgebrühte Mutter ignoriert einfach den makabren Kunstsinn ihres Sohnes, während das neue Hausmädchen (Galina Freund) geschockt mit dem Geschirr klappert und dann schnellstens den Abflug macht. Das hat auch bühnenlogistische Gründe, denn Galina Freund übernimmt auch noch sämtliche weitere weibliche Nebenrollen.

Als Psychiaterin macht sie gute Miene zum bösen Spiel, lässt aber auch durchblicken, dass Harolds Verhalten nicht unbedingt ihrem Wertemuster entspricht, schließlich macht sie gemeinsame Sache mit der Mutter. Als potenzielle Heiratskandidatinnen mimt Galina Freund außerdem die biedere Sekretärin oder die affektierte Tussi in Pink mit Mini-Hündchen im Handtäschchen (Kostüme: Ilona Lenk).

Und sie hat ihren großen Auftritt als Schauspielerin »Sunshine«, die Harolds Harakiri-Einlage geschickt in eine »Romeo und Julia«-Schluss-Szene ummünzt, die auch noch beinahe tragisch endet, schließlich ist das Harakiri-Messer echt scharf.

Jan Paul Werge wiederum darf in Enrico Urbaneks kleiner Gruselshow seinen Kopf als Dinner servieren, im Aquarium sein Absaufen imitieren, mit Schrumpfköpfen hantieren, mit abgehackter Hand schockieren, einen Kopfschuss imitieren und mit der dunklen Seite der Elektrik herumexperimentieren.

Er gibt seinen wortkargen Harold außerdem als einen vom Leben eingeschüchterten und bisschen verklemmten Typ, der immer leicht verstört und gleichzeitig unschuldig aus der Wäsche kuckt. Ein großes Baby, das sich an verschiedenen Religionen ausprobiert. Das immer mal wieder gerne singt. Zu seiner Mutter unterhält Harold eine Beziehung der gegenseitigen Ignoranz. Yvonne Lachmann spielt mit leicht altmodisch-komödiantischen Einschlag die gestresste und pikierte Mutter und seltsam unterkühlte, trotzdem hysterische Egomanin, die alles gut meint und dabei offensichtlich alles falsch macht.

Tonne-Techniker Lukas Armbruster macht den empörten Pater Finnigan: Ein Vertreter der prüden und intoleranten Gesellschaft, die Urbanek am Ende als Golgatha-Trio in Szene setzt. Ein weiterer Gesellschafts-Vertreter findet sich außerdem in General Victor (Yvonne Lachmann), Harolds Onkel, der in einer satirischen Szene seinen nicht mehr vorhandenen Arm brüderlich um Harold legt, um ihn von den Segnungen einer Armee-Karriere zu überzeugen.

Am sensibelsten und vielschichtigsten aber geht Kathrin Becker mit ihrer Rolle um: Sie zeigt Maude als optimistische, kreativ-kommunikative und würdevolle Seniorin, deren Freundlichkeit immer auch mit einer gewissen Melancholie einher geht. Trotzdem befreit sie Bäumchen und klaut Autos, wenn es die Weltrettung erfordert. Und hat für alle komplizierte Lebenslagen auch noch einen passenden Spruch parat: »Wir kommen mit nichts auf die Welt und gehen mit nichts. Ist es da nicht ein bisschen absurd, von Besitz zu reden?« Dieser Frau ist es das Wichtigste, ihr Leben selbst zu gestalten. Und somit auch den Tod. Und wenns am Schönsten ist, soll man bekanntlich gehen.

 

 

WIE DIE LIEBE DEN SCHRÄGSTEN TYPEN VERÄNDERT

von Monique Cantré
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 13.02.2012

Theater - »Harold und Maude« von Colin Higgins mit Witz und einem großartigen Hauptdarsteller in der Planie 22

REUTLINGEN. Das Licht geht an, und der Blick fällt auf einen Gekreuzigten mit Dornenkrone und Lendentuch. Das Kreuz besteht aus zusammengeschweißten Autoauspuffanlagen und ragt über einer Art Baukastenarchitektur in den »Bühnenhimmel« der Planie 22. Davor weist eine Dame in blauem Schneiderkostüm eine Bedienstete in ihre Aufgaben bei einem bevorstehenden Dinner ein. Während das Dienstmädchen zitternd vor dem lebenden Kruzifix steht, von dem herab nun auch noch ein marianischer Klagegesang ertönt, klingelt es, und die Dame des Hauses tadelt: »Das ist die Türglocke, und du hast noch keine Krawatte um.«

Wie wenig Harolds Mama von seinen makabren Scherzen beeindruckt ist - zu viel hat er ihr schon geboten - klärt gleich diese Eingangsszene des Stücks »Harold und Maude«, das am Samstag an der Tonne Premiere feierte. Gleichwohl kann er ihr kurz darauf doch einen mächtigen Schrecken einjagen, als sie mit der Servierhaube seinen »enthaupteten« Kopf auf dem Silbertablett aufdeckt.

Tonne-Intendant Enrico Urbanek hat die Theaterfassung des Kultfilms »Harold und Maude« von 1971 im eigenen Bühnenbild inszeniert, dessen Podest-Aufbau die Schauplätze vom Friedhof über einen Pkw bis zum Meeresstrand mithilfe von Licht schlüssig hervorbringt, der indes auch sportive Darsteller verlangt. Diese hat Ilona Lenk meist in grellbunte Farben gekleidet: regelrechte Hingucker.

DIE SCHEINWERFER TANZEN
Eine heitere Leichtigkeit bestimmt die Aufführung. Die Dialoge unterhalten mit boulevardesker Gelenkigkeit, und die vielen Szenen voll schwarzen Humors, zwischen denen zu Jan Paul Werges anregender Musik die Scheinwerfer tanzen, enden mit Pointen, die oft zu spontanem Zwischenapplaus animieren.

Wie Harold vom verhaltensauffälligen Spinner, der unter der Knute seiner selbstgerechten Mutter leidet und von ihr partout verkuppelt werden soll, zu einem sympathischen Kerl wird, ohne sich selbst zu verlieren, kommt schön heraus. Nicht seine Psychotante, der er 16 fiktive Selbstmordversuche gesteht, hilft ihm dabei, sondern die fast 80-jährige Maud. Sie will er am Ende heiraten - dass Sex im Spiel ist, unterschlägt die Tonne.

Harold hat Maud auf den Friedhof kennengelernt, wo sie beide gerne fremden Beerdigungen beiwohnen. Sie hat Schlimmes hinter sich, wie die tätowierte KZ-Nummer auf ihrem Arm belegt, hat aber dennoch eine satte Lebensfreude, Zivilcourage und Tatkraft. Freilich nervt auch, dass sie zu allem eine Antwort hat.

Kathrin Becker gibt ihr eine herbe Note, fällt aber in ihrer glatten Schauspielroutine ab gegenüber Jan Paul Werge, der einen packend unkonventionellen Harold auf die Bühne bringt. Mit fabelhaftem Körperspiel und auch sprachlich macht er diesen linkischen Teufelsbraten zu einem Erlebnis.

Yvonne Lachmann und Galina Freund treten in mehreren Rollen auf, wobei sie ihre Figuren kabarettistisch typisieren, dass es eine Freude ist. Yvonne Lachmann ist die unsägliche, selbstgerechte Mutter und der schneidige Generals-Onkel. Galina Freund amüsiert als die herbeizitierten, höchst unterschiedlichen Braut-Anwärterinnen, als Psychiaterin und Dienstmädchen. Und erstaunlich sicher zeigt sich Lukas Armbruster in seinem Schauspieldebüt als Pater Finnegan. Am Ende wurden alle mit Applaus überhäuft.

 

 

DIE ZEIT DES SCHMETTERLINGS

von Moritz Siebert
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 13.02.2012



REUTLINGEN. Den Besuch von Dr. Mathews (Galina Freund), die den wundersamen Jungen in die richtige Spur bringen soll, bereitet die hysterische Mutter (Yvonne Lachmann) penibel vor. Das Dienstmädchen (Galina Freund) wird angewiesen, wann sie die Vorspeise zu servieren hat, und ihren Sohn rügt sie, er hätte ja noch nicht mal seine Krawatte umgebunden. Das Gegenteil ist der Fall: Harold (Jan Paul Werge) hat sich an einem Gebilde aus Schrott gekreuzigt. Grob geschätzt ist es sein 15. Suizidversuch. Auch dieser misslingt: Harold steigt vom Kreuz herab – allerdings nur um gleich seinen nächsten schaurigen Auftritt vorzubereiten: Als Hors d‘œuvre taucht er unter der Servierglocke wieder auf.

DIE HÄSSLICHEN UND DIE DICKEN AUSSORTIERT
»Tot sein kann auch seinen Reiz haben«, so Harolds Credo. »Aber ist es nicht auch ein bisschen vor dem Leben drücken?« Nur die weise, lakonische und 60 Jahre ältere Maude (Kathrin Becker) kann den Jugendlichen von seiner Lieblingsbeschäftigung Suizid ablenken. Beide teilen ein Faible für fremde Beerdigungen. Auf einer solchen begegnen sie sich auch – und die bezaubernde Freundschaftsgeschichte beginnt.

In einem universellen Bühnenbild inszeniert Enrico Urbanek »Harold und Maude« am Theater in der Tonne als eine ort- und zeitlose Geschichte. Die Premiere am Samstag begeisterte die Zuschauer/innen im ausverkauften Saal der zweiten Spielstätte in der Planie 22.

Harolds Mutter lässt nichts unversucht, den Sohn unter Menschen zu bringen. Via Computer-Dating-Service sucht sie eine Frau für ihren Sohn. »Da werden die Hässlichen und Dicken im Voraus aussortiert«, macht sie ihm die Methode schmackhaft. Allerdings nicht die Schreckschrauben: Candy, eine Art Paris Hilton mit Chihuahua in der Designer-Handtasche, studiert »Das was so los ist« und interessiert sich für »Das was so los ist.«

Das Date mit der Karrierefrau Nancy endet mit einer abgehackten Hand. Nur die Schauspielerin Sunshine kann Harold mit einem »inszenierten« Selbstmord beeindrucken. Galina Freund hüpft hier von einer Rolle in die nächste und verleiht jeder der drei Damen ein ganz eigenes Gesicht. Harold ist an keiner der Frauen interessiert und gibt sich wortkarg. Zur Freude des Publikums, denn bei Jan Paul Werges Harold genügt das Zusehen vollkommen. Die Art, wie er die liebenswürdige Naivität Harolds und dessen Verhalten in der Beobachterrolle spielt, ist einfach großartig.

Auch Harolds Engagement bei der Armee (der humoristische Höhepunkt der Inszenierung) bleibt eine Episode: Aufgrund seiner Blutrünstigkeit sei er »für die Armee vollkommen untauglich,« schlussfolgert der General (Yvonne Lachmann). Nur aus der Freundschaft mit Maude schöpft er neuen Lebensmut und lässt sich von ihren zeitlosen Lebensweisheiten belehren: »Jeder hat ein Recht, blöd und verrückt zu sein« oder »Der Tod gehört zum Leben, das ist keine Überraschung.« Wenn er ihr schließlich einen Antrag macht, hat Maude allerdings andere Pläne. Für sie bricht »die Zeit des Schmetterlings« an.

EINE WUNDERVOLLE GESCHICHTE
Außer einem »Kreuzgespräch« zwischen zweifelhafter kirchlicher Moral (in der Rolle des Pater Finnegan: Lukas Armbruster), biederer Gesellschaft und Küchenpsychologie kommt die Inszenierung ohne abstrakte und symbolgeladene Bilder aus. Enrico Urbanek inszeniert das Stück ohne mehr von ihm zu wollen, als es ist: eine wundervolle Geschichte voller Lebensweisheit, dunklem Humor und großer Traurigkeit.

 

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