»Heimat« - Anrührend und erschütternd
von Christoph B. Ströhle
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 19.10.2015
Uraufführung - Was Menschen in Reutlingen »Heimat« bedeutet, ergründet ein gleichnamiges Stück an der Tonne
REUTLINGEN. »Heimat« – so der Stücktitel – stand am Samstag auf der Eintrittskarte bei der jüngsten Uraufführung am Theater Die Tonne. Darunter: »Freie Platzwahl«. Was nicht etwa suggerieren sollte, das Heimat etwas ist, das man sich – mit einem Ticket – einfach so aussuchen kann wie einen Platz im Theater.
Heimat, so wurde in dem von Yvonne Lachmann und Michael Schneider (Regie und Ausstattung) entwickelten und gespielten dokumentarischen Stück deutlich, hat mit längerfristigen Bindungen, mit Menschen und Orten zu tun. Mit festen Vorstellungen teils, projizierter Wirklichkeit, oft mit erzwungener Dynamik.
Das Faszinierende: Zu Wort kommen ausschließlich Menschen, die Lachmann und Schneider bei ihrer mehrwöchigen Stadterkundung zum Thema getroffen haben. Menschen, die seit Generationen in Reutlingen oder der Region ansässig sind. Menschen, deren Eltern oder Großeltern hierher emigriert sind. Menschen, die durch Krieg und Not gezwungen wurden, fluchtartig ihr Land, ihren vertrauten Kulturkreis zu verlassen. Dabei tritt durchaus Widersprüchliches zutage.
Etwa, wenn ein Italiener davon berichtet, dass er in Deutschland von »wir Italiener« spricht, während er in Italien von »wir in Deutschland« redet. »Italien ist meine Heimat. Hier ist mein Zuhause«, sagt er und nennt »gemeinsame Erinnerungen« das, was ihm hierzulande, um sich gänzlich heimatlich zu fühlen, fehlt. »Sterben«, so stellt er klar, »möchte ich hier nicht.«
In Videos (Filmschnitt Alexander K. Müller und Pia Böhl) oder Tonaufnahmen haben die Autoren die Äußerungen und Zeitzeugenberichte eingefangen, sie, ohne sie im Wortlaut zu verändern, in einen Theaterabend eingeflochten, der – angenehm zurückhaltend und in seiner Wirkung doch dicht inszeniert – Ernüchterndes und Nostalgisches, Anrührendes und Erschütterndes bereithält.
Musik als Heimat
Das Ende ist düster geraten. In einem Vortrag, der dem einer Simultanübersetzerin nachempfunden ist, wodurch Nähe und Distanz entstehen, spricht Lachmann die Worte eines brutal erwachsen gewordenen Kindes aus Nigeria nach, das Opfer von Menschenhandel und sexueller Ausbeutung wurde. Das erlittene Trauma wirkt auch nach fast einem Jahrzehnt nach.
Ähnlich an die Nieren gehen die Sequenzen, in denen Syrer ihre Heimat zeigen. Vor, während und nach der Zerstörung. »Nach Syrien gibt es keine Heimat mehr«, benennt einer, der hier Zuflucht gefunden hat, sein Dilemma.
Ein Marktbeschicker aus Kappishäusern philosophiert darüber, warum vom Boden aufgesammelte Weinbergpfirsiche besser schmecken als vom Baum gepflückte. Ein in einem Gärtnereibetrieb arbeitender Mensch (bei den nachgesprochenen Texten wird mitunter das Geschlecht des Sprechers beziehungsweise der Sprecherin nicht klar), erzählt, dass Pflanzen, die von Hand eingetopft werden, nicht Gefahr laufen, wie beim maschinellen Eintopfen, mit der Wurzel nach oben zu enden. Skurril.
Von Bomben, die sich tief ins Gedächtnis eingebrannt haben, weiß ein 1945 aus Südmähren Vertriebener zu berichten. Sein Vater, erst Bauer auf eigener Scholle, dann Knecht, hat mit Hammer und Laubsäge den verlorenen Bauernhof originalgetreu nachgebaut. Lachmann filmt diesen im Theaterraum ab.
Die vielstimmige Doku-Collage beeindruckt nicht zuletzt mit ihrer Musik (verantwortlich Michael Schneider), an der auch Seyyah Inal aus dem inklusiven Tonne-Ensemble Anteil hat. Zu seinem melancholischen türkischen Gesang spielt Schneider die Langhalslaute »Saz«.
Dass Musik Heimat sein kann, hat in einem Einspielfilm gleich zu Beginn eine junge Frau ins Spiel gebracht, die zur Gitarre sehnsuchtsvoll »Take me home again« singt.
Die zerstörte Heimat
von Matthias Reichert
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 19.10.2015
Tonne inszeniert Geschichten von Flüchtlingen, Weltkriegs-Migranten und Gastarbeitern
REUTLINGEN. »Heimat« ist Kappishäusern bei Metzingen wie Aleppo in Syrien. Nur wachsen hier Weinbergpfirsiche, dort fallen Bomben vom Himmel. Das neue Doku-Theaterstück der Reutlinger Tonne bringt Menschen zum Erzählen, inszeniert die Schicksale. Am Samstag war die lang beklatschte Uraufführung im Spitalhofkeller. Vier Wochen waren die Schauspieler Yvonne Lachmann und Michael Schneider mit Kamera und Aufnahmegerät unterwegs.
Eine große Leinwand rückt Menschen und Schicksale in den Mittelpunkt. Eine junge Folk-Sängerin singt traurig zur Gitarre: »I shouldn´t be here« - ich sollte nicht hier sein. Der befragte Stadtarchivar Roland Deigendesch sinniert: »Heimat hat mit Orten zu tun und mit Menschen«. Später zitiert er Cicero - obwohl er nicht den Bildungsbürger mimen wolle. Ein junger Mann aus der Lausitz erzählt, wie seine Familie nach Reutlingen kam. »Genau«, sagt er am Ende jeder Antwort - Schauspieler Schneider macht einen Running Gag daraus. Links steht ein Monitor, auf dem man zunächst Postkartenbilder von Reutlingen sieht, später einen fliegenden Ballon. Irgendwann filmt Lachmann das Publikum. Um Filmschnitt und Projektion macht sich diesmal die Firma Media&More verdient.
Der erste Teil des Abends ist zum Schmunzeln. Ein knorriger Gärtner schwärmt vom Obst der Heimat: »Das ist noch alles Handarbeit«. Ein jugoslawischer Migrant erzählt, wie er 1993 mit der Mutter nach Kroatien wollte. Der Pass der Mutter war abgelaufen - eine Odyssee. Eine Exilgriechin hetzt über Türken. »Heimat ist Italien, aber hier bin ich zuhause«, sagt eine weitere Migrantin.
Irgendwann ertönen O-Töne aus einem alten Dampfradio auf dem Klavier. Da erzählt eine Frau, die als junges Mädchen aus dem Sudetenland fliehen musste. Und später aus der DDR nach West-Berlin. Oder der Bauernsohn, dessen Vater vom mährischen Grundbesitzer zum Knecht in Oferdingen abstieg. Seinen alten Hof hat er als Modell aufgebaut - das filmt Lachmann jetzt im Bühnenhintergrund.
Wie immer, wenn Schneider dabei ist, gibt es viel Musik. Er singt ein langes italienisches Chanson, spielt Klavier, Synthesizer, Gitarre, Banjo. Und die Saz, eine türkische Gitarre, Schneider hat extra Stunden genommen. Er begleitet mit dem Instrument Seyyah Inal, der innig ein trauriges türkisches Lied anstimmt.
Von der Hölle auf Erden
Davor wurden Flüchtlingsstimmen eingeblendet: Syrische Asylbewerber erzählen von den Schwierigkeiten, ihre Familien nachzuholen. 17 Dokumente haben sie in die Botschaft mitgebracht - aber eines fehlt immer noch. »Wir wollen Deutsch lernen und arbeiten«, sagen die Flüchtlinge. Dann zeigen sie Bilder aus ihrer Heimat. Erst Postkartenansichten von belebten Großstädten, Hotels und Boulevards. Dann tragen Menschen Leichen weg. Auf der Straße schlagen Bomben ein. Man sieht die Ruinen von Innenstädten. Hölle auf Erden, zerstörte Heimat.
Man sieht auch Bilder vom afrikanischen Gospel-Gottesdienst in einer Reutlinger Bezirksgemeinde, den Schneider und Lachmann besucht haben. Herr, schicke Feuer herab, steht auf Englisch an der Wand. Lachmann greift das Zitat auf. Die eindrücklichste Passage ist die folgende halbstündige Erzählung einer jungen Frau aus Nigeria. Lachmann hockt am Laptop, Kopfhörer über den Ohren, und spricht die Übersetzung präzise ins Mikrofon.
Mit zwölf Jahren ist die Erzählerin das erste Mal vergewaltigt worden. Der Laden ihres Vaters wurde angezündet. Jetzt fordert der Kreditgeber, ein reicher Muslim, das Geld zurück. Er entführt das Mädchen. Jahrelang wird sie gefangengehalten und von Wachleuten vergewaltigt, später auch vom Sohn des Entführers. Der verkauft sie nach Italien - bis sie in Deutschland Asylantrag stellen kann. Neun Jahre hat sie ihre Familie nicht gesehen. Jetzt will sie Autorin werden und das Erlebte aufschreiben. Falls sie hier wieder eine Heimat findet.
Unterm Strich
Kein Wohlfühltheater. Die Geschichten und Kriegs-Bilder der Flüchtlinge gehen unter die Haut, zuvor entspannen Lokalkolorit und Gastarbeiter-Schwänke. Yvonne Lachmann und Michael Schneider beherrschen das Spiel auf mehreren Ebenen virtuos. Ein eindrücklicher Abend.
Neues Zuhause: Rommelsbach
von Kathrin Kipp
REUTLINGER NACHRICHTEN, 19.10.2015
Yvonne Lachmann und Michael Schneider haben für »Heimat - Land in Sicht« Interviews geführt und daraus einen musikalisch untermalten Dokutheaterabend zusammengeschnitten - Premiere war am Samstag.
Wenn Menschen über »Heimat« sprechen sollen, erzählen sie offenbar sofort ihre Lebensgeschichten. Die Schauspielerin Yvonne Lachmann und der Theatermusiker Michael Schneider haben (wie schon für »Weiterleben« 2014) die verschiedensten Leute aus Reutlingen gefragt, wo sie herkommen und was »Heimat« für sie bedeutet: auf der Straße, im Café, in ihrem Büro, aber auch in den Flüchtlingsunterkünften. Sowohl Ur-Reutlinger als auch alle Sorten von Zugezogenen: »Vertriebene«, Gastarbeiter, Ostdeutschland-Auswanderer und relativ Neuangekommene aus den aktuellen Krisengebieten.
Die Gespräche wurden per Film oder Tonband aufgezeichnet, der ganze Abend besteht, neben ein paar mehr oder weniger ironischen heimatlichen Klängen, aus O-Tönen: filmisch, vorgelesen oder szenisch-musikalisch aufbereitet. Und alle haben etwas zum Thema zu sagen, schließlich ist es bei den meisten auch entsprechend emotional aufgeladen.
Und jeder versteht etwas Anderes unter dem Begriff Heimat, aber alle fangen sofort an, aus ihrem Leben zu erzählen: Vor allem bei den aktuell Kriegstraumatisierten spielt alles andere als das theoretische Nachdenken über Heimat eine Rolle - für sie bedeuten Heimat, beziehungsweise Heimatlosigkeit, ganz akute und konkrete Probleme: Wie komme ich an einen Job, wie komme ich an Papiere, um die Familie nachzuholen, wie richte ich mir mein neues Leben an, und wie werde ich mit dem Erlebten fertig?
Diese Kriegstraumata wird man auch nie wieder los, das wird deutlich, wenn man die deutschstämmigen Weltkriegsflüchtlinge befragt: Einer erzählt von seiner Flucht 1944, wie die Familie auf einem Bauernhof Station macht, der gerade zerbombt wird. Die Mutter kann die Schwester noch in den Keller retten, er selbst muss direkt aus dem Zimmer mitansehen, wie alles brennt: Es fehlt die ganze Hauswand. Am nächsten Tag meint die Feuerwehr: »Ja, Bub, lebst du noch?«
Ein anderer wiederum erzählt von seinem Vater, der - Haus und Hof verloren - ein originalgetreues Modell seines Bauernhofs nachbaut, »um den Kummer loszuwerden«: Zuerst ein stolzer Bauer, dann ein gedemütigter Knecht: Heimatgeschichten sind in der deutschen und aktuellen Geschichte offenbar vor allem Verlust-Geschichten. Für viele ist dadurch die Heimat der Ort der Kindheit: Heimat ist Italien, Zuhause ist Rommelsbach.
Yvonne Lachmann und Schneider begegnen den Menschen in ihren Interviews mit viel Respekt und präsentieren die Texte sehr sensibel, untermalen sie mit den entsprechenden musikalischen Klängen, singen zwischendurch ein paar Lieder, auch den ein oder anderen Ländler, und lassen die musikalischen Jugenderinnerungen der Immigranten hören: Unter anderem singt Schneider mit viel Schmelz und Traurigkeit den Song eines italienischen Liedermachers. Überhaupt liegt sehr viel schöne Traurigkeit in den Songs und den Geschichten. Vielleicht kann man ja überhaupt nur das schätzen, was man verloren hat?
Auch Tonne-Schauspieler Seyyah Inal singt mit viel Gefühl ein Sehnsuchtslied: »Mein Kranich, wenn du nach X kommst, grüße alle, die ich liebe«. Je mehr Migration im Spiel ist, desto mehr geht es um Abschied und Verlust. Eine schöne Geschichte ist auch die von der kroatischen Mutter, die von Deutschland aus zur Beerdigung ihrer Tochter in Kroatien geschafft werden soll. Leider ist der Pass abgelaufen, man ist quasi illegal unterwegs, was vor allem an der kroatischen Grenze zu diversen Abenteuern führt. Aktuelle Flüchtlinge können ein Lied davon singen. Der Reutlinger Archivar Roland Deigendesch erzählt, dass auch die derzeitige Einwanderungssituation für die Stadtgeschichte dokumentiert wird. Immerhin: Er vergleicht sie mit der Weltkriegs-Flüchtlingswelle, als weitaus mehr Menschen nach Deutschland und Reutlingen kamen, zu weitaus schlimmeren Zeiten. Ein paar Syrer wiederum zeigen Fotos von Aleppo, Homs und Damaskus vor dem Krieg und jetzt, wo alles zerbombt ist: Da haben die Menschen ihre Heimat nicht nur verloren, sie existiert einfach nicht mehr.
Das Ende des Abends bildet dann die Horrorgeschichte einer Kenianerin, die verschleppt, vergewaltigt, gefoltert und verkauft wird. Yvonne Lachmann erzählt ihre Geschichte als eine Art Zeugenaussage in Simultanübersetzung. Es bleibt trotzdem unvorstellbar, welche Leiden diese Menschen aushalten müssen.