Rotzig-punkig und berührend
von Christoph B. Ströhle
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 24.10.2022
Theater – Die Tonne erzählt in der neuen Produktion »Hoffnung« launig und poetisch Geschichten aus dem Konsumtempel
REUTLINGEN. »Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bisschen Glück«, sangen in den frühen 1930er-Jahren die Comedian Harmonists. In »Hoffnung«, der neuen Produktion des Reutlinger Theaters Die Tonne in Kooperation mit dem Theaterverein, zieht sich das Lied fast wie ein roter Faden durchs Programm. Schauspielerin Kathrin Becker singt es schlicht-kunstvoll und berührend. Am Ende erscheint es in einer Punkrock-Version, bei der das außerdem aus Thomas B. Hoffmann, Seyyah Inal, David Liske, Justine Rockstroh und Michael Schneider (auch verantwortlich für die Musik) bestehende Ensemble auf verschiedenen Instrumenten so richtig aufdreht.
Träumerische Poesie da, auf die Spitze getriebene Realitäten dort – so könnte man das Konzept des gelungenen Theaterabends beschreiben, für den es bei der UraufführungamSamstagabend im großen Tonne-Saal begeisterten Applaus gab (weitereAufführungensind bis zum 26. November angesetzt). Marc von Henning, Patricia Liedtke-Wittenborn, Annette Müller, Tom Sauter, Helge Thun und das Tonne-Team haben die zu einer Revue zusammengefassten Szenen geschrieben, die in der Regie von Tonne-Intendant Enrico Urbanek Extravaganz und Magie entfalten.
Eingestreute Werbebotschaften
Als »Geschichten aus dem Konsumtempel« ist der Szenenreigen angekündigt, als Setting hat man das Innere, den Eingangsbereich und den Parkplatz eines Supermarkts gewählt, in dem »Herr Hoffnung« (Michael Schneider), der Marktbesitzer, Menschlichkeit mit pragmatischem Kaufmannsdenken paart. Immer wieder sendet er auch augenzwinkernde Werbebotschaften ins Publikum. Und er organisiert ein jährliches Fest zur Kundenbindung, was im Stück zum Auftritt der Mitarbeiterband führt. Und zu einer handfesten Überraschung, die der beschaulichen Supermarktherrlichkeit ein satirisch zugespitztes Ende setzt. Dieser Umschwung kündigt sich mit den Knattergeräuschen und den Lichtern eines landenden Hubschraubers an. Eine Stichwortgeberin muss dem Manager, der dem Helikopter entsteigt, immer wieder den Namen der Stadt nennen, die hier von den Segnungen einer umgekrempelten Einkaufswelt profitiert. Profitieren soll. Herr Hoffnung hat mit einer unbedachten Unterschrift dafür gesorgt, dass der Laden in seiner bisherigen Form verschwindet.
Was ein Jammer ist, wenn man die rührenden und skurrilen Szenen bedenkt, die sich dort bis zur Pause abspielen. Da gerät ein Verschwörungstheoretiker in die Fänge einer außerirdischen Macht (oder spielt sich das doch nur in seinem Kopf ab?), berichtet in Reimform ein Obdachloser davon, wie es für ihn ist, wenn nur ein Hund da ist, der ihn im Zweifel vermisst (der Monolog stammt von Helge Thun). In einer ähnlich zu Herzen gehenden Szene (sie stammt von Patricia Liedtke-Wittenborn) begegnen einander zufällig eine ältere Frau und ein junger Mann morgens vor dem noch geschlossenen Supermarkt. Er ist nur da, um seinen »Sprit« zu holen, wie er sagt, was zum ersten Missverständnis führt. Die Witwe, die bereits eines ihrer Kinder verloren hat, steckt ihn mit ihrer Neugier auf das Leben an.
Tom Sauter, der jüngste der beteiligten Autoren, lässt den Marktbesitzer eine junge Frau beim Klauen erwischen. Dachte sie wirklich, dass heute alles kostenlos ist? Als personifizierte Hoffnung tritt Thomas B. Hoffmann auf den Plan.
In Marc von Hennings Szene sind Alma und Gabriel zu spät dran, um Süßigkeiten zu kaufen. Auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt vertreiben sie sich die Zeit, indem sie in einem Rollenspiel die Welt verbessern – bis das Licht ausgeht und ihr Treiben unterbricht. Der Clou dieser Szene ist, dass sie – nur leicht variiert – zweimal gespielt wird, einmal mit einem jugendlichen Paar, einmal mit zwei älteren Semestern. Der Ton der einander ganz offensichtlich Zugeneigten, von denen er gerne küssen würde, sie aber »noch nicht«, ist wunderbar in der Schwebe gehalten.
Gibt es ein »neues Normal«, fragt man sich mit einem plüschigen Maskottchen – einem Mitarbeiter, der beim Supermarkt - Fest den Kopf seines Hundekostüms abnimmt. Der Text ist von Annette Müller und wird von Seyyah Inal ernst und ergreifend gesprochen. Ob es eine kluge Haltung sei, dieses Hoffen, wird als Frage aufgeworfen. Jeder im Publikum kann darauf angesichts von Krisen und existenziellen Sorgen, aber auch von Lichtblicken selbst eine Antwort finden, jeden Tag aufs Neue.
In Summe ist es ein toll gespielter, nachdenklich-fröhlicher, bunt-schriller, Verständnis und Freude weckender Abend. Menschlich in jederlei Hinsicht, auch offen für das Schräge. All das spielt sich in einer von Kartons ungewissen Inhalts gesäumten Bühne ab (Ausstattung: Sibylle Schulze), die Sabine Weißinger und Friedrich Förster von Casa Magica mit die Kulisse erweiternden Multimedia-Inhalten befüttern. (GEA)