Kapitän Nemos Geheimnis
von Christoph B. Ströhle
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 24.2.2024
Bühne – Für Junge und Junggebliebene: Das Theater Die Tonne zeigt »20.000 Meilen unter dem Meer« nach Jules Verne
REUTLINGEN. Mit der neuen Produktion »20.000 Meilen unter dem Meer«, konzipiert für »Menschen ab 8«, stärkt das Reutlinger Theater Die Tonne sein Profil im Kinder- und Jugendtheaterbereich. Wobei es bei der Premiere am Donnerstagabend überwiegend Erwachsene waren, die sich fesseln ließen.
Fesselnd ist die Produktion in der Tat. Und sehr atmosphärisch. Die Bücher des Visionärs und Wegbereiters der Science-Fiction-Literatur Jules Verne (1828–1905) haben Generationen von Lesern geprägt. Entsprechend gespannt konnte man sein, wie Karin Eppler den Stoff umsetzt. Sie erzählt die Geschichte »nach Motiven von Jules Verne« recht frei, stellt zwei Elfjährige, Pierre und Nadine, anstelle von Professor Pierre Aronnax und dem Harpunier Ned Land in den Mittelpunkt.
Eine Expedition beginnt
Anfangs glitzert und flirrt es in einer Videoprojektion geheimnisvoll auf Stellwänden – wie wenn man unter Wasser ist und Richtung Wasseroberfläche und Himmel blickt. Dazu hört man ein Blubbern und Rauschen und etwas, das nach Walgesängen klingt. Die Stellwände bewegen sich auseinander und Chrysi Taoussanis, Paul Schaeffer und David Liske treten, in Weiß gekleidet, nach vorn, beginnen aus den 1860er-Jahren zu erzählen. Liske verkündet als Zeitungsverkäufer, dass eine Reihe rätselhafter Schiffsunglücke auf den Weltmeeren nicht abreißt. Später wird er ausrufen, dass nun eine Expedition beginnt, um die Ursachen zu ergründen.
Wissbegierig, wie Pierre und Nadine (Paul Schaeffer und Chrysi Taoussanis) sind, müssen sie nicht lange überlegen: Sie schleichen sich als blinde Passagiere an Bord des Schiffes, das da in See sticht. Als es kräftig kracht und sie das Bewusstsein verlieren, bedeutet das das Ende des Expeditionsschiffs. Die Kinder wissen zunächst nicht, wo sie sind, als sie wieder zu sich kommen. Ein Koch, der sie versorgt, ist wenig auskunftsfreudig. Dann lernen sie Kapitän Nemo (David Liske) kennen, der sie als Gäste willkommen heißt. Allerdings umgibt ihn, wie die Kinder rasch spüren, ein Geheimnis. Was verschweigt er ihnen?
Fasziniert von den Erfindungen, die er gemacht hat und die es ihm ermöglichen, sich und seine Mannschaft auf dem U-Boot Nautilus, das nie auftauchen muss, ausschließlich aus den Schätzen des Meeres zu versorgen, wischen Nadine und Pierre zunächst alle Bedenken beiseite. Bis sie entdecken, dass Nemo, um von den Menschen auf der Erdoberfläche nicht entdeckt zu werden, Schiffe beschießen lässt. Wird er sie je wieder von Bord gehen lassen?
Karin Eppler arbeitet mit dem Kniff, dass sie Nadine und Pierre Elfjährige sein lässt, die als hochbegabt charakterisiert sind – in der Schule werden sie deshalb als »die Professorin« und »der Nerd« gefoppt. So hat es bisweilen den Charakter von »Jugend forscht«, wenn sie die Welt von Nemos Erfindungen und die Vielfalt des Meeres ergründen. Immerhin kommt diese Rolle bei Jules Verne ja eigentlich einem Professor zu.
Belebt durch Figurenspiel
Paul Schaeffer und Chrysi Taoussanis dürfen zu Beginn des Stücks kurz damit hadern, dass sie nun Elfjährige spielen sollen. Den Rollenwechsel von erwachsenen Erzählern zu den Kindern machen sie dann mit einem Kostümwechsel auf der Bühne nachvollziehbar und füllen diese Rollen auch überzeugend aus. David Liske, in kleineren Rollen auch als Matrose und Smutje zu sehen, gibt seinem Kapitän Nemo Charisma und Kühle. Man nimmt ihm ab, dass er nicht an den Menschen glaubt, sondern nur an die Natur – und seine eigenen Kräfte. Wenn er Orgel spielt, ist er ganz bei sich selbst. Ihn umgibt dann eine Aura der Melancholie.
Wie die Kinder lernen, sich mit den Ambivalenzen, für die Nemo steht, ins Verhältnis zu setzen, ohne den Zuschauerinnen und Zuschauern das Denken abzunehmen, das ist der gut herausgearbeitete Kern des Stücks, das mit einem guten Ende für Nadine und Pierre aufwartet. Rundum gelungen ist das Figurenspiel: Schattentheater, mit dem das Ensemble die Unterwasserwelt in einem riesigen Bullauge sichtbar macht. Via Toneinspielung wird mit den Stimmen von Anna Kasten, Michel op den Platz, Boris Gonzales und Karin Eppler die Besatzung der Nautilus verdeutlicht. Überhaupt kommt dem Soundtrack – in erster Linie atmosphärisch – eine wichtige Rolle zu. Iskra Jovanovic-Glavaš’ Bühnenbild – sie hat auch die Figuren gebaut – setzt auf ein Ineinandergreifen von Realismus und Vorstellungskraft. (GEA)
Urzeitrakete oder Meeresstrudel?
von Ulrike Pfeil
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 24.2.2024
Premiere – Zwei Kinder sind erst fasziniert, dann abgestoßen von Superhirn Käpt’n Nemo: eine Jules-Verne-Adaption am Reutlinger Tonne Theater, die mit analogem Minimalismus berührt.
In einer Stunde auf den Grund der Tiefsee und wieder zurück, dabei das Böse im Menschen entlarven und zeigen, in welche Richtung die Rettung der Welt gehen soll: Schon für diese Leistung verdient das Team des Reutlinger Tonne-Theaters großen Respekt. Das Kunststück gelingt mit einer Kürzest-Version des Jules-Verne-Klassikers »20 000 Meilen unter dem Meer« der versierten Theaterautorin Karin Eppler, die auch Regie führt.
Es ist ein Stück für Kinder, aber die poetische Inszenierung zieht auch Erwachsene in ihren Bann, wie sich bei der Premiere am Donnerstagabend im fast ausverkauften Theatersaal »Tonne 2« am langen Applaus zeigte. Zwei hochbegabte elfjährige Abenteurer, ein Junge und ein Mädchen (jawoll: Gender-Gerechtigkeit in die Welt der ollen weißen Fantasy-Autoren!), sind hier die Menschen aus der Oberwelt, die bei einer Havarie von Käpt’n Nemos U-Boot Nautilus gerettet werden.
Bezaubernde Langsamkeit
Die Technik des Unterwasser-Fahrzeugs beeindruckt die beiden mit Naturkenntnissen nur so um sich werfenden Schüler ebenso wie das Erkunden der faszinierenden Meereswelt mit Tauchgeräten. Auf dem riesigen Kontroll-Bullauge des Kapitäns erscheinen sie dabei als Schattenspiel: schwebende Scherenschnittfiguren, die einer Muschel und einem Hai begegnen, einen Rochen als Flugdrachen benutzen.
Diese Idee, in einer Parallelerzählung die Dinge mit einer altmodisch analogen, handwerklichen Schwarz-Weiß-Darstellungstechnik wiederzugeben, bringt eine bezaubernde Langsamkeit ins Geschehen, etwas rührend Liebevolles. Das Meer wird den Betrachtenden als etwas Schützenswertes ans Herz gelegt. Mühelos ergänzt die Fantasie das minimalistische Bildangebot zu einem Ozean mit märchenhaft bunter Fauna.
Überhaupt kommt die ganze Inszenierung mit sparsamen Andeutungen aus. Es sind die Schauspieler, Chrysi Taoussanis und Paul Schaeffer als Schulkinder Nadine und Pierre, die durch ihre Körper, ihre Gestik und ihr Schauen Räume und Möblierungen herbeischaffen, mit verschiebbaren Stellwänden, die zu Türen werden, und anderen intelligenten Bühnenbild-Tricks (Iskra Jovanović-Glavaš).
Bald bemerken die beiden Kinder, dass Nemo, den David Liske mal jovial, mal mit einer lauernden Bosheit gestaltet, die todbringende Gefahr für Schiffe auf dem Meer ist, von der sie in der Zeitung gelesen haben. Sie selbst tippten erst auf »Urzeitkrake« oder »Meeresstrudel«. Nun erkennen sie die Gefahr, in der sie stecken, als Gefangene eines Menschfeinds, für den es kein Zurück an die Überwasserwelt gibt.
Die gruselige Schwere dieses Plots wird jedoch immer durch vergnügliche Einfälle aufgehellt. David Liske changiert komödiantisch in diversen Nebenrollen, als Zeitungsverkäufer mit Wochenschau-Jargon, als phlegmatischer Schiffskoch, der alte Seemannslieder mehr seufzt als singt, als Matrose mit rollendem R und Waterkant-S. Nadine und Pierre fallen immer wieder aus der historischen Erzählzeit 1868 in die Jetztzeit und kommentieren ihre Erlebnisse, ihre Rollen mit dem Wissen und der Lebensrealität des 21. Jahrhunderts.
Von Nemo lernen sie, wieder in hübschen Schattenspiel-Skizzen: Wie die Menschen oben auf der Erde (heute!) den Planeten mit Müll und Atomwaffen langsam zugrunde richten, aber auch, wie man auf der Nautilus mit einer ausgetüftelten Schnetzel-, Knet- und Frittiermaschine allerliebste Esswaren aus Seeanemonen herstellt, sogar Fischstäbchen!
Wissen ist Abenteuer
Die im Programm angekündigte eigentliche Botschaft des Stücks, nämlich die Ambiguität des technischen Fortschritts, wird in der Aufführung weniger deutlich erfahrbar. Zwar sagt Nemo mehrmals, dass »alles zwei Seiten hat«, doch diese These wird in der Aufführung selbst nur schwach unterfüttert. Es ist am Ende doch der Mensch, der böse werden und sich gegen die Menschheit selbst wenden kann.
Kinder, und für die ist das Stück eigentlich gedacht, nehmen aber noch ganz viele andere Dinge mit: dass Wissen Abenteuer ist und stark macht. Dass es sich lohnt, Rätseln auf den Grund zu gehen. Dass sogar Latein-Lernen etwas bringt (Nemo bedeutet »Niemand«). Dass es beim realen Überleben helfen kann, sich einen 12-stelligen Geheimcode einprägen und eine Wegstrecke mit vielen Abzweigungen merken zu können. Und dass es ziemlich blöd ist, schlaue Mitschülerinnen und Mitschüler als Intelligenzbestien zu dissen.
Unterm Strich
Kurzweilige 60-minütige Einführung in die Verantwortungsethik für Kleine (ab acht) und Große. Geeignet für Familien, Gruppen und Schulklassen, es gibt Matineen und Nachmittagsaufführungen. Wörter wie »Pleistozän« und »Malstrom« müssen womöglich erklärt werden, Jules Verne muss man aber nicht gelesen haben.