Nixe auf dem Sprungturm

von Armin Knauer

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 24.6.2024

 

Theater – »Ins Blaue«: Im dritten Anlauf klappt es endlich mit der Tonne-Revue im Reutlinger Fraibad Markwasen

 

REUTLINGEN. Im dritten Anlauf hat’s endlich geklappt mit dem musikalisch-theatralischen Ausflug der Tonne ins Reutlinger Freibad. Erst kam eine Erkrankung dazwischen, dann der stadtfesttypische Nieselregen – am Samstagabend war’s zumindest anfangs trocken, ehe doch wieder Regen einsetzte.

 

Egal, das Spektakel hatte seinen Reiz für die rund hundert Premierengäste. Es hat was von Teenagerzeiten, als man im Mondlicht über den Zaun stieg, oder auch von »Nachts im Museum«: Man ist zur Sperrstunde auf dem Gelände, alles  wirkt anders. Geigen- und Akkordeonklänge wehen über die Wiese (Michael Schneider, Andrej Mouline). Ein Kobold mit blau bemaltem Gesicht treibt seine Späße (Aaron Smith). Unter den Bäumen flanieren eine Dame im Reifrock (Ulrike Härter), ein Herr mit Zylinderhut (David Liske), ein Wasserwesen mit türkisgrünem Haar (Justine Rockstroh, Kostüme: Sibylle Schulze). Das Freibad hat sich in eine Fantasiewelt verwandelt, irgendwo zwischen Shakespeares »Sommernachtstraum« und E.T.A. Hoffmann.

 

Fantasiewesen im Plastikball

 

Was genau sich da für eine Geschichte andeutet, bleibt unklar. Stattdessen entfaltet sich in der Regie von Tonne-Chef Enrico Urbanek eine assoziative Folge von Szenen und Bildern mit Musik und Tanz (Choreografie: Yaron Shamir).

 

Der nassen Sphäre nähern wir uns dabei behutsam. Noch auf der Wiese singt David Liske den Italo-Schlager »Azzurro« von Paolo Conte. Noch weit vom Wasser entfernt rollt Justine Rockstroh als türkishaariges Fabelwesen im Plastikballon übers Gras. In Suzanne Vegas trauriger Ballade »Small Blue Thing« vergleicht sie sich selbst mit einer billigen Glasmurmel aus chinesischer Produktion.

 

Doch dann ist man am Wellenbecken, wo Liske, Härter und Rockstroh mit den Fantastischen Vier den »Tag am Meer« beschwören in all seiner Magie. Ausgelassen tanzen die Mädels vom Tonne-Jugendforum zu Mambo-Musik im  flachen Wasser, das kühle Nass spritzt. Aber das Meer kann auch grausam sein und wüst das Treiben in den Hafenkneipen. Chrysi Taoussanis besingt sie mit Jacques Brels Chanson »Amsterdam«, die Matrosen, die mit viel Rum die Erinnerungen an Stürme und Gefahren hinwegspülen.

 

Schon hebt sich die Brandung im Becken, die Wogen rollen, die Trommel dröhnt (ein Plastikcontainer eigentlich) – und alle zusammen skandieren das Lied vom Wellerman über eine Walfangjagd, bei der der Ozean immer Sieger bleibt. Weiter gleitet der Fokus zum Nichtschwimmerbecken, in dem Angelica Bistarelli und Simona Semeraro ein betörend poetisches Ballett vollführen, mitten im Wasser wie geheimnisvolle Wesen aus der Tiefe. Melancholisch klingt dazu die Musik von Geiger Michael Schneider am Beckenrand. Auch Andrej Mouline taucht mit seinem Akkordeon immer wieder auf, Klangschalen oder eine Stahltrommel erklingen hier und dort.

 

Auf dem Weg zum Sprungbecken begegnen wir einer Gruppe von Seemännern mitweißen Reifröcken, darunter das inklusive Ensemble der Tonne. Langen Rohren entlocken sie mystisch raunende Didgeridoo-Töne. In einem Gedicht setzen sie ihre Hoffnung auf Utopia.

 

Schließlich sind wir auf der Tribüne angekommen, bereit fürs Finale. Unter uns breitet sich das Panorama der Becken aus. Die jungen Leute vomTonne-Jugendforum treiben auf einem Plastikfloß übers Wasser. Sind sie Schiffbrüchige? Sind sie Urlauber? Im Wechsel erzählen sie einen bizarren Traum von einem Seeungeheuer am Angelhaken.

 

Nixe auf dem Sprungturm

 

Die berockten Seemänner formieren sich zum Schirmtanz. Chrysi Taoussanis singt auf der Tribüne mit Bertolt Brecht von der Revolution, die die Mächtigen fortspült wie ein gewaltiger Wasserstrom. Hoch droben auf dem Sprungturm ist Ulrike Härter das Liebe suchende Wasserwesen aus Antonín Dvoráks Oper »Rusalka«. Es ist der Moment des Abends, wenn ihre Stimme rein und unverstärkt über der Beckenlandschaft schwebt, als werde sie aus weiter Ferne herangeweht.

 

So gleiten Musik und Tanz und Bilder vorüber, immer geheimnisvoll, weil sich die Geschichte dahinter nie offenbart; und das Freibad mit seinen Bäumen, Becken, Rutschen, Türmen spendet dazu die verzauberte Kulisse. Insgesamt ist das alles mit eineindreiviertel Stunden ohne Pause ein bisschen lang; hier und da mag man bedauern, dass alles gar so assoziativ bleibt, die Figuren letztlich nicht greifbar werden. Aber eine eigene Poesie zwischen Tanz, Musik und Wasserplätschern entfaltet der Abend auf jeden Fall. (GEA)

 

 

Freibad-Revue nach Badeschluss

von Matthias Reichert

SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 25.6.2024

 

Premiere – Das Tonne-Theater inszeniert mit viel Musik und Tanz, bunten Kostümen und etwas Schauspiel das Reutlinger Wellenbad als Tummelplatz der Wasserwesen.

 

Wassermänner und -frauen in schwarzen Regenmänteln, Schwimmbrillen und Badekappen beäugen die eintrudelnden Gäste. Zwei Meereswesen spielen auf. Ein buntes Völkchen mythischer Wesen tummelt sich auf der Liegewiese des Markwasen-Freibads. Mit mehr als 20 Akteurinnen und Akteuren inszeniert das Reutlinger Tonne-Theater das nasse Element. Die Revue »Ins Blaue« hatte am Wochenende Premiere. Zuvor war sie wegen Krankheit verschoben worden, auch die geplante Uraufführung am Freitag fiel wegen Regens aus.

 

Tanzen unterm Wasserpilz

 

Mücken flirren in der Abendsonne. Die Sonne steht tief, ihre Strahlen schimmern durch die Bäume – die erste von fünf Stationen. Schwungvoll begrüßt Darsteller Aaron Smith mit blau geschminktem Gesicht das Publikum. Und lädt im Chanson zum Ausflug »Ins Blaue« – begleitet von Geiger Michael Schneider und Andrej Mouline mit Akkordeon. Beide sind mit Perücken als Wasserwesen kostümiert (Ausstattung: Sibylle Schulze). Eingangs klatscht das Publikum nach fast jedem Musikstück. Ein Quartett in Frack und Abendkleidern stimmt den 60er-Jahre-Hit »Blue Velvet« an: Chrysi Taoussanis, Ulrike Härter, Justine Rockstroh und David Liske. Später singt Rockstroh mit brüchiger, aber durchdringender Stimme »Small Blue Thing« von Suzanne Vega, während sie in einem durchsichtigen Plastikball über den Rasen tänzelt.

 

Ein Solo für Liske mit dem Ohrwurm »Azurro« von Adriano Celentano. Nun tanzen die Akteure Tango mit dem Publikum, das recht angetan scheint. Am Wellenbecken belebt das Quartett den Shanty-Hit »Wellerman« von Nathan Evans.

 

Junge Frauen aus dem Nachwuchsensemble des Reutlinger Theaters posieren in Badeanzügen, stimmen einen Hip-Hop-Sommerhit an und tanzen lässig dazu. Freudenjauchzer vom Beckenrand, Refrain zum Mitsingen – es folgt der »Tag am Meer« von den Fantastischen Vier. Taoussanis belebt mit Verve einen abgründigen Song über die Kais von Amsterdam. Die Wellen rauschen im Takt, es riecht nach Chlor. Der rote Handlungsfaden dieser von Intendant Enrico Urbanek inszenierten Revue ist das abendlich verwaiste Freibad, das mit viel Musik und Tanz in Szene gesetzt wird. Wobei man vielleicht ein bisschen mehr Schauspiel erwarten dürfte. Ein Höhepunkt ist aber die Wasser-Choreografie von Yaron Shamir, welche die Tänzerinnen Angelica Bistarelli und Simona Semeraro am und im Nichtschwimmerbecken aufführen.

 

Geistermusik lotst das Publikum an den Beckenrand. Die Tänzerinnen, gekleidet in hautfarbene Trikots, holen tief Luft. Hand aufs Herz, mit genau abgezirkelten Bewegungen treten sie in Dialog mit dem nassen Element. Schneiders Geige setzt ein, die Musik wird nun wehmütig und eindrücklich. Die Tänzerinnen schwingen sich ins Wasser. Ihre Arme kreisen, sie tauchen unter, wirbeln durch die Flut, tanzen schließlich unterm Wasserpilz. Das Element scheint besänftigt. Applaus und Jubelrufe. Zwischen dem Sprungturm und dem Wettkampfbecken bläst das inklusive Ensemble in Matrosenkluft auf mehreren Didgeridoos und nimmt lyrisch Kurs auf das verlorene Land Utopia. »Kommen Sie durch, es passiert Ihnen nichts«, lotst Smith das Publikum zur Tribüne hinauf. Von dort sehen die Zuschauer das Nachwuchsensemble auf einem Floß das Becken entlangschwimmen. Die Passagiere erzählen von einem Traum, in dem ein Seeungeheuer am Angelhaken hängt. »Das Sinnbild für das ängstliche Selbst«, deuten sie das.

 

Es folgt ringsum freies Assoziieren zur Farbe Blau – doch Wasser, erkennen sie zuletzt, ist nicht blau, sondern vielmehr transparent. Ein Ausflug in klassische Musikgefilde, dann zeigt das inklusive Ensemble einen launigen Tanz in Reifröcken, mit denen die Akteure zuletzt zu menschlichen Lampenschirmen mutieren. Indes ist Sängerin Ulrike Härter aufs Zehnmeterbrett geklettert. Von dort ist das berühmte »Lied an den Mond« aus der Dvorák-Oper »Rusalka« zu hören. Eine überdimensionierte Nixen-Flosse hängt unter der Sängerin vom Sprungbrettrand und wippt im Takt mit.

 

Später intoniert Taoussanis aus den Zuschauerreihen heraus Brechts Ballade vom Wasserrad – ein fast finaler Abgesang auf den Kapitalismus. Rockstroh und Liske versuchen noch, vom Zehnmeterbrett zu springen. Beide zeigen Angst, sie spornen sich gegenseitig an. Aber als sie endlich den Sprung wagen wollen, sagt der Schwimmmeister den Badeschluss durch. Abschließend der Chansonklassiker »La Mer« – und fast unbemerkt ist hinter der Liegewiese die Sonne untergegangen.

 

Unterm Strich

 

Eine launige und bunte Revue rund ums nasse Element, von Enrico Urbanek mit Liebe zum Detail inszeniert. Der Abend bringt schwungvoll Tanz, Musik und ein bisschen Theatralik ins Markwasen-Freibad, das im Dämmer-Ambiente der heimliche Hauptdarsteller ist.

 

 

Freibad-Event – Blaue Bilder

von Martin Bernklau

CUL-TU-RE.DE, 23.6.2024

 

»Ins Blaue«, das theatralische Sommerspektakel der Tonne im Reutlinger Freibad Markwasen, hatte am Samstag endlich seine Premiere

 

REUTLINGEN. Immerhin, es ging. Aber allenfalls halb gnädig gab sich der Himmel bei der schon um gut zwei Wochen aufgeschobenen Premiere, die das Tonne-Theater am Samstagabend mit seinem Sommer-Event »Ins Blaue« endlich im Reutlinger Freibad Markwasen steigen lassen konnte. Zum Ende hin nieselte es zwar auch wieder ein wenig in die unbehagliche Abendkühle. Aber dafür bekam das Publikum von dem wechselhaft blau und grau verhangenen Himmel ein betörendes Licht geboten über der musikalischen Revue, die dem alltäglichen Ort banalen Badevergnügens starke szenische Bilder einprägte.

 

Es ist wahrhaftig jammerschade um die drei ersten, auch krankheitshalber ausgefallenen Termine, denn Enrico Urbaneks Inszenierung (Dramaturgie: Alice Feucht) mit Yaron Shamirs Choreografie, Sibylle Schulzes Ausstattung, dem tollen Soundtrack von Michael Schneider und einem großartig engagierten Team schafft genau das, was solche sommerlichen Freiluftereignisse seit den stilprägenden Events des Melchinger Lindenhofs auch sollen: Solchen alltäglichen Orten den Stempel starke Bilder aufprägen, die unauslöschlich haften bleiben im Gedächtnis und der Bildwelt der Besucher.

 

Die sorgsam erdachten und in wunderbare Tableaus gefassten Szenen boten vergleichsweise wenig Handlung, keine Story, dafür aber in Form von Songtexten reichlich Musik und spektakuläre Schauplätze, nicht nur den Zehn-Meter-Turm, von dem aus die schwindelfreie Sopranistin Ulrike Härter im herabwallenden Nixen-Kostüm Dvořáks »Rusalka«-Arie mit starker Stimme hochdramatisch und hochromantisch in den düster verglimmenden Himmel einer immer tiefer werdenden Nacht sang.

 

Einen ganze anderen Stil führte Chrysi Taoussanis mit rauher, kehliger, kraftvoller Stimme direkt beim Publikum ans Geländer der Tribüne gelehnt mit der Brecht/Weill-Ballade vom Wasserrad aus dem »Arturo Ui« (?) vor, wo es heißt »Nicht andre Herren, sondern keine!«; und im Epilog: »Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.«

 

Begonnen hatte alles gleich hinter dem Eingang. Da war auf der Liegewiese eine kleine Bühne aufgebaut, auf der sich Klezmer-Klänge vernehmen ließen und zu Akkordeon, Gitarre und Geige das jiddische Lied »Bei mir biste scheen«. Erstes starkes Bild: Aus dem Grün rollte langsam eine durchsichtige Plastikkugel heran, der eine sportive Schauspielerin mit blauem Haar entstieg (Justine Rockstroh) und mit Suzanne Vega »I’m falling against the Sky« sang. Zu Celentanos »Azzurro« wurde getanzt.

 

Bei den ersten Szenen am Wasser setzten sich die Wellen in Bewegung. Hinten sang ein Ensemble HipHop: »Die Tage am Meer«; später ein gerapptes Sailor-Shanty. Vorne gab eine Solistin die »Quais d’Amsterdam« von Jacques Brel. Im Wasser unterm Schirmbrunnen boten zwei Nixen (Angelica Bistarelli und Simona Semeraro) zu sphärischen Instrumentalklängen eleganten Ausdrucktanz, gingen gelassen an Land und machten mitten im Publikum weiter.

 

Als die Zuschauer ihre Plätze auf der Tribüne eingenommen hatten verdichtete sich der bis dahin dramatisch grau-braun bewölkte Himmel und sprühte mit der einbrechenden Dunkelheit einen fies-feinen, mit guter Kleidung oder Schirm gerade noch erträglichen Nieselregen. Die Becken wurden zur Arena, zwischen denen eine Combo »Like a Boy« intonierte, während das junge Sextett auf der blauen Insel – lesbar als Reminiszenz und Reverenz an den Tübinger »Hölderlin«, der auf brennendem Sofa den Neckar hinab schwamm – sich im langen Becken seinem tiefenpsychologisch aufgeladenen Traum vom Seeungeheuer und dem Angeln hingab.

 

Es wurde Licht irgendwann, Choräle erklangen oder die Latin Music der inklusiven Truppe in weiten weißen, von innen leuchtenden Röcken und unter roten Schirmen. Viel Tanz dabei, und genau einstudierte Choreografie; nicht nur Songs, auch Geräusche wie sanftes Geplätscher, heulender Sturm oder Meersbrandung gaben den klanglichen Hintergrund. Auf dem blauen Floß schälte sich David Liske zu »Let me free« aus dem weißen Kokon. Lauter wunderbare, wundersame Bilder zu vielfältigen Klängen und Worten, die freilich oft in fremder Sprache und auch nicht immer so leicht verständlich herüberkamen.

 

Ein großartiges Event, trotz kühler Nässe mit langem Beifall bedacht.

 

 

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