DIE KRAFT DES TANZES
von Bernhard Haage
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 25.06.2013
Volles Haus beim Festival Tanztheater XIV an der Tonne
REUTLINGEN. Einen anregenden und vielseitigen Einblick in die aktuelle Tanztheaterszene bekamen die Besucherinnen und Besucher des Festival Inernationales Tanztheater XIV am Wochenende in der Reutlinger Planie 22. Sieben Tänzerinnen und Tänzer, fast alle auch mit eigenen Choreografien im Gepäck, waren der Einladung des Tonne-Theaters gefolgt.
Der israelische Tänzer Yaron Shamir eröffnete den Reigen mit Schutzbrille, Nebelschwaden und beklemmendem Blinklicht. Ein düsteres, im überhitzten Saal bedrohliches Bild, das plötzlich um ein seltsames Spiel von Lichtern bereichert wurde. Auf und mit einem Stuhl mit sieben beweglichen Minischeinwerfern zeigte er eine starke Performance die sich in einen Zwischenraumn aus Halluzination und Wirklichkeit begab, zwischen Realität, Fantasie und der Bedrohung durch unendlich viele Möglichkeiten. Sein »Dream F.H.« war eine Uraufführung, wie übrigens die meisten Stücke bei diesem Festival.
Igor Kirov aus Mazedonien kurze aber spannungsvoller Tanz »In between« bediente sich auch klassischer Tanzelemente, um sichtbar zu machen, was man sieht, wenn sich das Innere eines Menschen nach außen kehrt. Emotional und kraftvoll. Beide Attribute gelten auch für die Uraufführung von »Weil...« der kubanischen Tänzerin und Chreografin Maura Morales und Bahattin Güngör. Letzterer ist ein Mitglied des Tonne-Ensembles und absolviert trotz Behinderung im Theater eine künstlerische Ausbildung. Effektvoll live begleitet von Michio an E-Gitarre und Computer tanzten die beiden völlig unterschiedlichen Tänzertypen ein Duett, bei dem sie sich immer mehr annähern. Kennenlernen, körperliche Nähe, Distanz und Leidenschaft: Die Verbindende und unsichtbare Grenzen überwindende Kraft des Tanzes könnte kaum überzeugender dargestellt werden.
Ebenso greifbar aber in den tänzerischen Audrucksformen ganz anders war die Premiere von »DIS« des Schweizer Tänzers und Choreografen Matthias Kass. Fast überdeutlich führt und tanzt er das Phänomen der »schönen« Medienwelt vor. Zwischen Breakdance- und Roboter-inspirierten Bewegungsabläufen spielt er eine fröhliche Werbefernsehshow für Kalaschnikows. »Kinderleicht zu bedienen? - Was glaubst du was Kindersoldaten jeden Tag in der Hand haben.« Sehr direkt, aber auch sehr virtuos präsentiert.
Mit »Inner Demon« tanzte Kass nach der Pause auch noch ein überaus sehenswertes Duett mit seiner inneren Stimme, alias Clément Bugnon. Das Team, auch bekannt als company idem, zeigte in einem Tanz mit Bausteinen, wie man sich selbst im Wege stehen kann, wie unterschiedlich manchmal der eigene Wille und die innere Stimme ticken. Großes Tanztheater mit einem Bühnenbild das sich ständig verändert. Magische Momente wenn Kass und Bugnon (er übrigens schwarz maskiert) dann doch einmal im Einklang schwingen oder sich gegenseitig die Bausteine zuwerfen.
Ergreifend, aber auch brutal der Paartanz »Touch« von Igor Kirov und Wencke Kriemer de Matos. In der Körpersprache, Mimik und Dynamik tanzten sie hinreißend ein scheiterndes Paar zwischen Missverständnis und Gewalt, nicht voneinander lassen können und Ausweglosigkeit. Emotional erschütternd, wie die beiden kämpfen, wie vor allem Kriemer de Matos manchmal fast zum Spielball ihres Tanzpartners wird, der am Schluss - so will es die Choreografie - ganz alleine auf seinem Stuhl sitzen bleibt.
Ihre ganz eigene Form des tänzerischen Ausdrucks zeigte zum Schluss auch noch einmal Maura Morales: In einer Kurzversion ihres abendfüllenden Stückes »Wunschkonzert« ließ sie die Protagonistin mit tänzerischen Mitteln aus ihrem Alltag ausbrechen. Wobei sie buchstäblich Metamorphosen durchlebte, die wirklich nur mit tänzerischer und fast artistischer Beweglichkeit darstellbar sind. Ein perfekter Abschluss eines Tanztheaterabends, der Lust machte auf mehr. - Viel mehr.
DAS MULTIPLE ICH UND SEIN GEGENÜBER
von Christoph B. Ströhle
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 24.06.2013
Internationales Tanztheater - Tonne-Reihe zeigt Packendes rund um den Menschen und seine Träume
REUTLINGEN. Mit inneren Dämonen, Träumen, Monotonie und Einsamkeit, der schrill-bunten Fernsehwelt und der Neugier im Zwischenmenschlichen haben sich am Samstag und Sonntag Choreografen und Tänzer im Zuge der Reihe »Internationales Tanztheater« am Theater Reutlingen Die Tonne beschäftigt. Das Publikumsinteresse war wie gewohnt groß. Die Akteure, die in vier Uraufführungen und drei weiteren Darbietungen unterschiedliche Stile und Tanztechniken zeigten, ernteten stürmischen Applaus.
Heimlicher Star war dabei Tonne-Ensemblemitglied Bahattin Güngör, der mit der Kubanerin Maura Morales unter dem Titel »Weil...« ein hinreißendes Duett auf die Bühne der Planie 22 brachte. Zwischen ihm und Morales schien die Chemie zu stimmen. Ein Lichtkegel war Zentrum ihrer anfangs scheuen, dann zunehmend neugierigen und leidenschaftlichen Begegnung, wobei Kreisel- und Hebefiguren, Abwesenheit, Selbstentdeckung, Sehnsucht und Wiedersehen eine Rolle spielten.
DAS HERZ IN DEN HÄNDEN
Güngör, der über keine professionelle Tanzausbildung verfügt, machte den vermeintlichen Makel durch ein facettenreiches Körper- und Mienenspiel wett. Coolness, Zerrissenheit, tänzerisches Selbstbewusstsein, wie es John Travolta zu seinen besten Zeiten hatte, Liebeskummer – all das sprach aus seinen Bewegungen, wobei er am Ende in einer Pantomime sein Herz in die Hände nahm, es mit Blicken sezierte und anschließend verschlang.
Morales glänzte darüber hinaus als Tänzerin und Choreografin in einem Ausschnitt aus dem abendfüllenden Stück »Wunschkonzert« von Franz Xaver Kroetz, das auch im Original ohne Worte auskommt. Faszinierend, wie die Kubanerin darin mit tänzerischen Mitteln ein Leben abgelegter Träume und unerfüllter Sehnsüchte entwarf. Eine Frau, deren Leben aus Ticks, hohl gewordenen Gesten und stumpfen Alltagsritualen besteht, die ihre innere Leere nicht ausfüllen können. Und doch scheint sich bei ihr ein Fünkchen Restenergie, ein Zugang zur Traumwelt, in der Wünsche weiterleben, erhalten zu haben.
Der Israeli Yaron Shamir hatte die 14. Auflage der Tanztheater-Reihe mit »Dream.F.H.« eigenwillig eröffnet. Zwischen Schwarz und Weiß, Licht und Dunkelheit, Halluzination und Wirklichkeit eignete er sich den Raum an, der isoliert, weltabgewandt und in undurchdringlichen Nebel gehüllt wirkte. Das Ganze hatte etwas von Ur- oder Endzeitatmosphäre, vom Drang, sich neu zu erfinden oder das, was in dieser oder einer anderen Welt ist oder möglich erscheint, mit Hand und Herz zu entdecken. Gleich einem Phönix schwang er sich in die Lüfte. Eine Brille schützte ihn dabei vor der Schärfe des Lichts.
MIT LEIDENSCHAFTLICHKEIT
Der Mazedonier Igor Kirov war mit zwei Stücken vertreten: dem dynamischen Solo »In Between«, das in fließenden Bewegungen und explosiven Gesten den äußerlichen Blick auf einen Menschen und sein Inneres zeichnete, und dem heißblütig-unterkühlten Duett »Touch«, getanzt mit Wencke Kriemer de Matos, das ein Paar zwischen Anziehung und Entfremdung, Verlustangst und packender Leidenschaftlichkeit zeigte.
Dem Schweizer Matthias Kass gelang es, mit »Dis« in gehetzten Bewegungsabläufen die Abstrusitäten des Fernsehens einzufangen und darzustellen, wie sich das, was Menschen sehen und emotional verarbeiten, zunehmend entkoppelt. Kass trieb die Zuspitzung so weit, dass er einen Shopping-Sender eine Kalaschnikow anpreisen ließ. In der Choreografie »Inner Demon« assistierte ihm Clément Bugnon mit verhülltem Gesicht als innerer Dämon, der seinem Ich Steine in den Weg legt: solche, über die der Mensch sicheren Schrittes gehen kann, und solche, die ihn immer wieder aufs Neue scheitern lassen.