Fesselnde Reifeprüfung

von Bernhard Haage

SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 13.10.2015

 

Beim 17. Tanztheaterfestival der Tonne traf Kunst auf Psychologie

 

REUTLINGEN. Fünf flimmernde Fernseher an einem Stahlgerüst, dahinter und dazwischen Rohre, Schläuche und allerlei Klangkörper, Effektgeräte und Mischpulte, aus denen Pierrick Grobéty eine perkussive Klangkulisse zauberte – das waren die Requisiten von »Data«, einer knapp einstündigen Tanztheater-Performance der Schweizer »Company idem«. Bereits zum vierten Mal war das Ensemble um die beiden Choreografen Clément Bugnon und Matthias Kass beim von der Tonne initiierten Festival Internationales Tanztheater am Wochenende in der Reutlinger Planie 22 zu Gast. Mit »Data« lieferten zwei Tänzerinnen (Fhunyue Gao und Jolanda Löllmann) und Tänzer (Matthias Kass und David Valencia) eine fesselnde Reifeprüfung ab.

 

Das Konzept, den Menschen in den Mittelpunkt der Beziehung zwischen Mensch und moderner Technik zu stellen, ging auf. Die Tänzerinnen und Tänzer demonstrierten in atemberaubender Performance das moderne Lebensgefühl, ständig »connected« zu sein - inklusive digitaler Hänger, Tendenzen, sich in ferngesteuerte Roboter zu verwandeln, und der großen Irritation, wenn das Unglaubliche geschieht, ohne Computerschnittstelle einmal ganz real einem Menschen aus Fleisch und Blut zu begegnen. Erstaunlich die Biegsamkeit und Körperbeherrschung der 24-jährigen Fhunyue Gao, bemerkenswert die Synchronität des Ensembles zur live gespielten Musik.

 

Im Vergleich viel minimalistischer war der darauf folgende Auftritt von Youn Hui Jeon. Die Tänzerin, die 18 Jahre lang beim Saarländischen Staatsballett getanzt hat, zeigte unter dem Titel »Ever« zum verlängerten und leicht verfremdeten Chanson »La vie en rose«, gesungen von Edith Piaf, eine zerbrechliche intensive Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper, mit Sexualität und Weiblichkeit. Mimischer Ausdruck und reduzierte Bewegungen verdichteten sich zu einem starken Gesamteindruck.

 

Im Gegensatz dazu eher testosterongeschwängert war das dritte Werk des Abends in »Face to Face« des israelischen Tänzers und Choreografen Michael Getman. Zusammen mit Eldad Ben Sasson führte er dem Publikum das Konfliktpotential männlicher Aggressivität vor Augen. Wettstreit, Spiel, Krieg? Und was für eine Intimität steckt eigentlich im Kampf? Unterdrückungs- und Unterwerfungsgesten zum gebrochenen Soundtrack von Beethovens Klaviersonate. Kein leichter Stoff, aber eine interessante Perspektive. Die beiden Künstler schafften es, die psychologische Dimension der Aggression viel eindrücklicher darzustellen, als dies mit Worten alleine möglich wäre.

 

Das Publikum bedankte sich für den abwechslungsreichen und künstlerisch anspruchsvollen Abend bei allen Künstlern mit tosendem Applaus.

 

 

Kampf und Zärtlichkeit

von Martin Bernklau

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 12.10.2015

 

Ballett - Die Tonne lud wieder zu Internationalem Tanztheater in ihre Spielstätte in der Planie 22 ein und feierte mit mehreren Choreografien die Kunst der Bewegung Kampf und Zärtlichkeit

 

REUTLINGEN. Zum 17. Mal bediente das kleine Reutlinger Theater die Sparte Tanz. Die Tonne lud am Samstagabend in der Planie 22 zu ihrem internationalen Gastspiel ein, das im ersten Teil die internationale Schweizer Compagnie »idem« aus Absolventen der Stuttgarter John-Cranko-Schule mit dem Percussion-Stück »Data« prägte.

 

Er gibt hier den Ton vor. Vielleicht ist der Schöpfer Mensch, dem »Data« da als dem großen Macher Gestalt gibt, der Taktgeber in Form des fantastischen Perkussionisten Pierrick Grobéty. Er schlägt die Trommel und das Becken, schlägt Haut, Holz und Metall ohne großes Aufhebens, mit einer suggestiven Ruhe und Beharrlichkeit. Er ist der Führer für die zwei Frauen und zwei Männer, die sich da zusammentun und trennen, verknäueln und lösen. Sie wollen eigene Wesen sein, und stehen dann doch unter einem Marschtakt, sind aufeinander angewiesen. Und formen sich neu.

 

Da sind die sparsamen Symbole der Choreografen Clément Bugnon und Matthias Kass wie die Datenschläuche und die flackernden Bildschirme. Da sind auch die Worte auf Spanisch und in allerlei Sprachen der Welt, die das Glück beschwören und das Anrecht aller Menschen auf die Möglichkeit darauf. Im Grunde aber zeigt dieses Quartett vor einem archaischen Rhythmus pures Bewegungstheater, das weder Worte und nicht einmal Deutung braucht, die über Titel und Programm eine Aussage oder gar Mission darbieten. Nicht nötig. Nach der Pause kam die Koreanerin Youn Hui Jeon im Kleinen Weißen mit ihrer Hommage an Edith Piaf und »La Vie en rose«. Die Abschrägungen im Ton taten den Ohren vielleicht ein bisschen weh, aber die sparsam subtile Bewegung zeichnete ein ganz eigenes Bild dieser leidenschaftlich liebenden und leidenden kleinen Frau im Kleinen Schwarzen.

 

Männer als Machos

Männer und Männer als Machos sind das eigentliche Thema von »Face to Face«, das Michael Getman für sich und den Tanzpartner Eldad Ben Sasson choreografiert hat. Es ist ein Pas des deux über Fetzen aus Beethoven-Sonaten und Bachs Klangordnung, die all die Spannung zwischen Kampf und Zärtlichkeit in Bewegung bringen will. In Ruhe bewegt. Um Krieg geht es und um der Männer kühne Brutalität im Widerstreit mit einer Sanftmut, die man so gern von den Frauen übernähme oder von dem Bild, das Männer von ihnen haben.

 

Das gab viel Beifall. Es ist gut, dass die Tonne auch immer wieder mal die Fühler zum Tanztheater ausstreckt auf der Höhe der Zeit und der Bühne.

 

 

Von Mensch und Maschine

von Kathrin Kipp

REUTLINGER NACHRICHTEN, 13.10.2015

 

Beim Tonne-Tanztheater ließ die company idem menschliche Roboter tanzen, Youn Hui Jeon führte menschliche Zustände vor, und Michael Getman ertanzte sich mit Eldad Ben Sasson eine Zweierkiste.

 

Maschinen können ja mittlerweile fast alles, außer tanzen. Sie könnten wohl schon, wenn sie wollten, aber es würde einfach keinen Sinn machen. Weil, getanzt wird ja immer noch zum Selbstzweck. Aus Lust an der Freude. Und weil Maschinen vermutlich immer noch keine Gefühle haben, müssen die Menschen wohl oder übel noch selbst tanzen, auch wenn der Rest des menschlichen Daseins längst von Maschinen gesteuert wird. Vor allem die Kommunikation.

 

Das finden zumindest Clément Bugnon und Matthias Kass von der company idem, die in ihrem 50-minütigen »Data«-Tanzstück auf sehr originelle und gutaussehende Weise untersuchen, wie Maschine und Mensch miteinander agieren, und was es aus den Menschen macht, wenn bei fast jedem Kommunikationsakt eine Maschine zwischengeschaltet ist. Auf die Bühne haben sie dazu ein kleines Maschinen-Monstrum gestellt, mit jeder Menge Schläuche und flimmernden Bildschirmen, aber auch Instrumente zur Klangerzeugung.

 

Der Musiker und Percussionist Pierrick Gróbety bringt die Anlage zum Laufen und zum Klingen, mit Bass, Rhythmus, Sounds und Loops aus natürlichen wie maschinellen Klängen. Die Tänzer bewegen sich dazu mal synchron, mal in Reihe geschaltet, aus kleinen Armbewegungen werden immer raumgreifendere Maßnahmen. Eine Stimme aus dem Off verwortspielt das ständige Verbundensein mit der Welt.

 

Die Kommunikationsmaschinen steuern uns, und auch die vier Tänzer werden immer mehr zu ferngesteuerten Robotern. Aber immerhin jeder auf seine Weise: ein ständiger Prozess von Individualisierung und Gleichschaltung. David Valencia rennt dabei mit seinem Smartphone zwischen Fhunyue Gao, Matthias Kass und Jolanda Löllmann hin und her, versucht, sie in ihrer jeweiligen Eigenheit zu koordinieren und zu kontrollieren.

 

Matthias Kass spielt den Robotnik, Jolanda Löllmann eine unentschlossene Mantel-an-, Mantel-aus-Maschine. Den einen kann man fernsteuern, den anderen muss man noch von Hand bedienen. Aber alle sind sie Teil eines Systems. Optisch wirkt das Ganze wie eine Kunst-Maschine von Tinguely, nur aus teils lebendigem Material, das sich zwischendurch auch mal selbständig machen kann.

 

Hin und wieder kommt es aber auch zu echten menschlichen Annäherungen: Fhunyue Gao und David Valencia tasten sich schüchtern, aber neugierig ab und vollführen schließlich eine nicht ganz unkomplizierte zwischenmenschliche Balance-Akrobatik. Matthias Kass spielt dazu eine zarte Gitarre. Jolanda Löllmann wiederum steht oben auf der Maschine und betreibt ein wenig Wortklauberei: »Weißt du, was du siehst?« Im TV flimmern mittlerweile konkrete Bilder. Bald herrscht Endzeitstimmung, man bildet ein unentwirrbares Knäuel, alles entwickelt sich in Richtung Chaos und Stimmengewirr. Dann ist »Desensibilisierung« angesagt: »Einen Punkt am Boden fixieren und sich immer wieder drauf werfen«. Die Folge davon: eine martialische Kampftanzorgie, die richtig zur Sache geht. Das gefällt dem Publikum.

 

Im zweiten Teil des Tonne-Tanztheater-Abends, bei dem ja immer »verschiedene Choreografie-Handschriften« gezeigt werden, präsentiert die Tänzerin vom Saarländischen Staatstheater Youn Hui Jeon mit »Ever« eine so zarte wie brutale One-Woman-Slow-Dance-Nummer. Zu Edith Piafs Evergreen »La vie en rose«, der mal schnell, mal langsam abgespielt wird, ertanzt sich Youn Hui Jeon fast die gesamte Klaviatur menschlicher Zustände. Fast schon pantomimisch lässt sie die schlimmsten Leidens-, Schmerz- und Panikattacke entstehen, um sich kurz darauf wieder zu erholen, wieder aufzustehen, sich zu strecken, auszubreiten, um ein klein wenig Selbstherrlichkeit und Eins-Sein mit der Welt zu versprühen.

 

»Face to Face« von Michael Getman und Eldad Ben Sasson wiederum ist ein abwechslungsreiches Tanzduett über alles, was sich irgendwie dual abspielt: Zu Auszügen von Beethovens Klaviersonate und anderen akustischen Begleiterscheinungen ertanzen und erkörpern sich die beiden zwischenmenschliche, aber auch andere Zweierkisten in all ihren Schattierungen - das alte Spiel von Nähe und Distanz in all seinen Ausformungen. In kreativen und kraftvollen Stellungsbildern geht es um Abhängigkeit und Eigenheit, Flucht und Verfolgung, Liebe, Hass, Gewalt und Zuneigung, Innerlichkeit und Äußerlichkeiten, Harmonie und Zwietracht.

 

 

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