Feuerwerk der Emotionen

von Berya Yildiz Inci

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 10.10.2023

 

Bühne – Zwei imposante Tanzperformances fesseln im Theater Reutlingen Die Tonne das Publikum

 

REUTLINGEN. Fesselnd, emotional und mitreißend ist der Abend des 24. Internationalen Tanztheaters im Theater Reutlingen Die Tonne. Abwechslungsreich und ausdrucksstark sind die beiden Performances, die die unterschiedlichsten Themen behandeln und verschiedenste Gefühle erwecken. Es geht um Trauer und Träume, um Gegensätze, die anziehen, um Glück und Frieden und um Verbrechen und Zerstörung.

 

In der Tonne-Eigenproduktion »Ne me quitte pas« von Yaron Shamir stehen Nina Hoehne und Simona Semeraro auf der Bühne und tanzen zu den eindrucksvollen melancholischen Liedern der US-amerikanischen Jazz- und Bluessängerin Nina Simone (1933–2003). Zart und ausdrucksstark ergänzen sich die Tänzerinnen perfekt und entführen in eine Welt voll Kummer, Verlust und Gegensätzen. Ein Handküsschen hier, eine Bauchtanzeinlage dort: Durch immer wiederkehrende Bewegungsmuster, die die 15-minütige Performance durchziehen, geben sich die Frauen hektisch und doch ruhig, nah und doch fern und lassen ihr Publikum schmunzelnd und ergriffen zurück.

 

Hell gegen Dunkel

 

Gegensätze sind es auch, die die zweite Tanzperformance des Abends, »Imbalance«, von der Company Idem thematisch durchziehen. Im Zentrum der Choreografie von Clément Bugnon und Matthias Kass steht der Mensch, der viele Widersprüche in sich trägt. Er ist kreativ, eigensinnig und strebt nach Glück und Frieden, doch gleichzeitig ist er auch zu den schrecklichsten Taten imstande. Es ist diese Zweiteilung, die die Tänzerinnen und Tänzer der Company – das sind Rosalia Pace, Pauline Richard, Matthias Kass, Manolo Perazzi und Stefano Roveda – auf die Bühne bringen: Gut gegen Böse, Hell gegen Dunkel.

 

Von der Bühne, deren Boden im ersten Teil der 80-minütigen Aufführung noch schwarz ist und nach einer kurzen Pause auf einmal in gleißendem Weiß erscheint, über die Lichteinstellungen, die zwischen warmem, kaltem und  Stroboskoplicht wechseln, bis hin zu den Kostümen, die zuerst beige, dann schwarz und zum Schluss blutrot sind, steht alles im klaren Gegensatz. Es gibt kein Grau und keine goldene Mitte, nur zwei Extreme, die sich gegenüberstehen.

 

Poetische Standbilder

 

Ausdrucksstark und voller Energie bewegen sich die sechs Tänzerinnen und Tänzer zu instrumentaler, mit orientalischen Elementen versetzter Musik. Ohne Unterbrechung springen sie in kunstvollen akrobatischen Figuren durch die Luft und gleiten über den Boden. Egal ob alleine oder in der Gruppe: Die Bewegungen wechseln im Minutentakt von schnell zu langsam. Sie sind fließend und dann plötzlich starr, fast schon roboterhaft. Wirkt die Gruppe in einem Moment, als würde sie zu Hofe bei einem Bankett tanzen, befindet sie sich im nächsten im Krieg und lässt die Fäuste in Zeitlupe fliegen. Ob eine gekreuzigte Person oder Michelangelos »Die Erschaffung Adams«: Zwischendrin kommt die Company Idem immer wieder zu poetischen Standbildern zusammen.

 

Unglaublich ist die Ausdauer, mit der die Künstler sich auf der Bühne bewegen. Rasend vergeht die Zeit im Theater. Virtuos und vielseitig zeigen sie die unterschiedlichsten Tanzstile und -techniken, wechseln vom Zeitgenössischen in den Standardtanz, springen wie bei einem Techno-Fest mit den Händen in der Luft auf der Bühne umher und vollenden eine Hebefigur nach der anderen.

 

Zum Ende der Performance hin werden die Bewegungen immer wilder, härter und aggressiver. Der krönende Abschluss ist die Zerstörung der Bühne: Vorhänge werden heruntergerissen und der Bodenbelag abgezogen. Belohnt wird die Gruppe mit tosendem Applaus, der über mehrere Minuten anhält und mit Standing Ovations. Die Company Idem lässt ihr Publikum atemlos und aufgeweckt zurück. Es ist fast schon seltsam, nach diesen beiden mitreißenden Stücken, den Theatersaal zu verlassen, um in die ruhige, warme Frühherbstnacht zu entschwinden. (GEA)

 

 

Die Tonne als Technotempel

von Matthias Reichert

SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 10.10.2023

 

Tanztheater – Die Schweizer Company Idem lotet in Reutlingen filmreif und mit beeindruckender Körperbeherrschung die Abgründe dionysischer Rauschzustände aus.

 

Nietzsche hat sich mit dem Kontrast von Dionysischem und Apollinischen, von Rausch und klassizistischem Traum, von Triebkräften und Ratio in die Philosophiegeschichte eingeschrieben. Das Schweizer Tanzensemble Company Idem aus Yverdon-les-Bains hat zu diesem Thema eine Choreografie entwickelt, die am Wochenende im Mittelpunkt des 24. Tanztheaterfestivals am Reutlinger Tonne-Theater gestanden ist.

 

Unter dem Titel »Imbalance«, Unausgeglichenheit, zeigen sie zeitlos eine Zeit, die aus den Fugen geraten ist. Eingangs kreist eine Tänzerin im wallenden Kleid überlebensgroß am vorderen Bühnenrand um sich selbst. Verstörende Chöre und Streicherklänge ertönen vom Band, sie windet wirbelnd die Arme. Ein weiterer Tänzer windet sich im Hintergrund in roter Hose im Lichtkegel.

 

Wie Rachegottheiten

 

Jeder dreht sich um die eigene Befindlichkeit. Drei weitere Ensemblemitglieder spielen sich in den Vordergrund. Zu bedrohlichem Klang-Staccato verschlingt sich das nun grau gewandete Quintett ineinander. Wilder und wilder wird der Tanz, kurze Soli schälen sich aus dem Menschenknäuel heraus. Bässe stampfen, wie Rachegottheiten umschwärmen sie einander. Sie schreiten und kriechen, kreiseln und zittern.

 

Das Schweizer Ensemble hat Wurzeln in der legendären Tanzschule von John Cranko. Dort haben sich Clément Bugnon und Matthias Kass in der Ausbildung kennengelernt. Seit 2011 sind sie nun mit der Company Idem unterwegs. Kass tanzt bei ihrer Choreografie selbst mit – gemeinsam mit Rosalia Pace, Pauline Richard, Manolo Perazzi und Stefano Roveda.

 

Im zweiten Teil dreht sich Dionysos im Endlos-Loop. Arme schwingen im Lichtkegel, optische Effekte gleißen, sie zucken und recken und winden sich. Die Musik ist nun fast hypnotisch. Eine Parabel auf Konformität zu kaum erträglichen, monotonen Synthesizer-Klängen. Raumgreifende Tanzkreise, sie können einander nicht festhalten, ballen die Fäuste in den Himmel, schlagen in Zeitlupe aufeinander ein und attackieren sich gegenseitig. Ein anschwellender Bocksgesang wie in der klassischen Tragödie. Oszillierende Körperfiguren zu wummernder Musik, die irgendwann fast so klingt wie bei Ennio Morricone in den kultigen Italo-Western.

 

Jeder Fingerzeig sitzt in der achtzigminütigen Choreografie. Im finalen Akt sind alle fünf schwarz gekleidet und tanzen auf weißem Untergrund. Sie zeigen zunächst abgezirkelte, präzise Bewegungen zu einem Klang-Staccato. Ähnlich Chaplins Filmklassiker »Moderne Zeiten«, führen sie das Räderwerk der Industriegesellschaft vor. Mit robotergleich abgehackten monotonen Handgriffen wie am Fließband.

 

Was kann von diesem Hamsterrad ablenken? So wie im Radio folgt ein Sender-Suchlauf im Blitzlichtgewitter. Alle paar Sekunden erklingen neue Tonlagen – Swing, chinesische Musik, Klassik, Techno, Folk, Rock’n’Roll. Zuletzt wird die Tonne zum Technotempel. Wieder wabert Kunstnebel. Rauschhaft ballen die Akteurinnen und Akteure die Hände in die Luft, reißen sich die Pullis vom Leibe und den weißen Belag vom Boden, einer übergießt sich mit Wasser. Die Musik stampft und hämmert, wie Getriebene verausgabt sich das Quintett und verschmilzt förmlich mit der Musik. Ekstase in Slow-Motion, alles fließt, zuletzt umschlingen sie einander in Zeitlupe. Großes Kino.

 

Zwei weiße Rosen

 

Am Beginn des diesjährigen Festivals stand eine anrührende Szene von Yaron Shamir, Haus-Choreograf der Tonne. Nina Hoehne aus dem inklusiven Ensemble und Profi-Tänzerin Simona Semeraro setzten einige dunkle Songs von Blues- und Jazzlegende Nina Simone tänzerisch um, allen voran deren Cover des Klassikers »Ne me quitte pas«, verlass mich nicht, von Jacques Brel. Das ist zugleich der Titel dieses Choreografie-Fragments. Ein Tête à tête auf einer Parkbank, die Kraft eines leichten Händedrucks, und einer freundschaftlichen Berührung, die Flüchtigkeit einer Umarmung. Ein Abschied mit zwei weißen Rosen, sie schreiben Namen in die Luft, umkreisen einander, winden sich hin- und hergerissen, Semeraro wälzt sich auf dem Boden und ist bald wieder obenauf: die Abgründe zwischen Ende und Neuanfang. Das weitgehend ausverkaufte Festival hat Beifallsstürme geerntet – und zuletzt stehende Ovationen des Publikums.

 

 

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