Die Zeit und das Leben
von Heiko Rehmann
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 11.04.2016
Internationales Tanztheater - Beeindruckende Körperkunst in der Planie 22, präsentiert von der Tonne
REUTLINGEN. Geschmeidige Körper und rasende Drehungen, Gestalt gewordene Zeit und Bilder des Lebens waren am Samstagabend in der Reihe »Internationales Tanztheater« des Reutlinger Theaters Die Tonne in der Planie 22 zu sehen.
Der Franzose Adel El Shafey zeigt in seinem Einpersonenstück die allmähliche Radikalisierung eines jungen Mannes. Gelassen steht er auf der Bühne, ruhig fließt die Musik durch den Raum. In gemessenen Gesten spiegelt er die Stadien einer Rede. Bürgerlich. Moderat. Dann der Umschwung. Die Musik wilder und der Tanz aggressiver. Wie von einer unsichtbaren Macht wird er auf der Bühne vor- und zurückgeworfen. Rennt gegen seinen eigenen Arm und springt zurück, als hätte er Angst vor dem Kampf in seiner Seele. Er tanzt wild und geschmeidig zugleich, er tanzt viel mit dem Boden und mit sich selbst in seiner schlangenhaften Beweglichkeit. Die Herkunft aus dem Contemporary Dance und vor allem aus dem Hip-Hop ist Adel El Shafey deutlich anzusehen. Seine Drehungen sind nicht so präzise wie bei klassisch ausgebildeten Tänzern, dafür ist die Durchlässigkeit seines Körpers beeindruckend, kann er seine Gliedmaßen wie Wellen durch den Raum fließen lassen, gelangt er von den Beinen auf den Boden und vom Boden auf die Beine, als hätte sein Körper kein Gewicht.
Rembrandtsches Halbdunkel
Dann, in der dritten Phase, steht er aufrecht, starr, eine schwarze Maske über dem Kopf. Seine rigide Körperhaltung und seine immer schneller werdenden Gesten zeigen, dass der Kampf entschieden ist: Der radikale Islam hat in der Seele des jungen Mannes gesiegt.
In dem Stück »spliThoughts« setzen sich ehemalige Mitglieder des Pforzheimer Balletts mit dem Zeitbegriff des französischen Philosophen Henri Bergson auseinander. In ein Rembrandt‘sches Halbdunkel getaucht wirbeln Davide Degano, Camilla Marcati, Ermanno Sbezzo, Carlotta Squeri und Risa Yamamoto zwischen hunderten weißen Plastikbechern umher. Diese stehen für die Sekunden und Minuten der mechanischen Zeit, da sie gleich sind. Alle Versuche, die Becher in eine Ordnung zu bringen werden immer wieder durch einen großen Ventilator zerstört – Symbol für unsere eigene, erlebte Zeit, die quer und unberechenbar zu den Sekunden und Minuten der Uhrenzeit fließt. Zur Musik von Björk bewegen sich die Tänzer mit atemberaubender Gelenkigkeit, geschmeidig und präzise und mit perfekter Körperbeherrschung.
Immer wieder versuchen sie aufeinander zuzugehen, und immer wieder kommen ihnen dabei die Becher in die Quere. »Die Uhrenzeit ist eine menschliche Erfindung, die uns daran hindert unsere Beziehungen ehrlich und tief zu leben«, sagt Tänzer Ermanno Sbezzo, der zugleich auch der Choreograf des Stückes ist. Erst ganz am Ende des Stückes wird eine echte Beziehung möglich, indem eine Tänzerin die individuelle Zeit eines Tänzers akzeptiert. Er vertraut ihr, sie führt ihn über die Bühne, der Anfang einer echten Liebe wird sichtbar.
Präzise und geschmeidig
Ebenfalls eine Produktion des Pforzheimer Balletts ist das Stück »Origami« des Vietnamesen Ngoc Tu Hoang. Zur Musik von Ryoji Ikeda und Ólafur Arnolds steht das Spiel mit weißen Blättern im Zentrum. Unbeschrieben wie ein Baby sind die Blätter, und auch alt und zerknüllt sind sie noch immer das gleiche Blatt. Am Ende löst sich eines davon in Flammen auf, denn Asche werden wir alle einmal sein. Dazwischen zeigen Ngoc Tu Hoang, Camilla Marcati, Maximo Marinelli und Ermanno Sbezzo einen bunten Reigen an Bildern aus dem Leben. Ngoc Tu Hoang überzeugt mit einer phänomenalen Körperbeherrschung, absolut präzisen Drehungen und einer enormen Durchlässigkeit. Kraft, Eleganz und Exaktheit zeichnen seinen Tanz aus.
Zugleich überzeugen die Tänzer durch eine hervorragende Ensembleleistung. Ihre Bewegungen sind absolut synchron, ihre Reaktionen aufeinander kongenial. Alle tanzen sie mit beeindruckender Präzision und Geschmeidigkeit. Ihre solide klassische Ausbildung ist genauso zu sehen wie ihre intensive Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Techniken.