Irre menschlich
von Matthias Reichert
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 06.05.2017
Theater - Die Reutlinger Tonne rockt integrativ eine Behinderten-WG und erntet bei der Uraufführung zurecht tosenden Beifall.
Aus dem Leben gegriffene Szenen einer WG von Menschen mit Handicap: Der Kühlschrank leert sich über Nacht wie von selbst, die Bewohner nerven die Sozialarbeiterin mit Petitionen und bestellen im Internet Sachen, die sie besser nicht bestellt hätten. »Irre ist menschlich« heißt die neue integrative Produktion des Tonne-Theaters, die am Donnerstag in der Planie 22 gefeiert wurde.
Autor Thomas B. Hoffmann hat an Originalschauplätzen recherchiert, das kommt dem Stück zugute. Eine WG, wie sie leibt und lebt: Moritz (Seyyah Inal) flirtet im Internet-Chat, verschweigt seiner Flamme aber, dass er im Rollstuhl sitzt, und träumt mit ihr von Klettertouren im Gebirge. Die übrige WG knackt das Passwort und gaukelt der Angebeteten vor, dass er Rockstar sei - prompt müssen sie eine Band gründen.
Die besteht zunächst aus Hoffmann, Michael Schneider und Drummer Bernd Wegener. Herrlich abgehalfterte Stars, die dreckige Zoten reißen, für 29 Euro am Abend spielen und nicht mal das Bier nach dem Auftritt finanzieren können. Die WG plündert die Kaffeekasse, um die Musiker zu engagieren, die gerade für ein paar Cent auf der Straße spielen.
Und so rocken sie gemeinsam die Planie. Chrysi Taoussanis spielt die genervte Sozialarbeiterin Joe, die selbst Liebeskummer hat. Sie ist schwanger, ihr Freund hat sie verlassen - Stoff für ein inniges Solo-Lied vor der Pause, das wie der gesamte Abend unter die Haut geht, später für einen rotzigen Rocksong, in dem sie mit dem Ex abrechnet.
Joe und Moritz tauschen sich zuvor über verflossene Liebschaften aus, anrührend und realistisch. Partnersuche ist für Menschen mit Handicap in der Tat ein Problem, das oftmals verschämt verschwiegen wird. Hier wird es menschlich dargestellt, ohne aufdringlich den Zeigefinger zu heben - das Verdienst von Regisseur Enrico Urbanek. »Bei den Proben sind manchmal schon die Tränen geflossen«, weil das sehr persönliche Themen seien, sagt der Tonne-Intendant.
Launiges WG-Geplänkel
Ein riesiger grüner Kühlschrank, der mit einer Kette vor Dieben gesichert wird und die Akteure bei Bedarf komplett verschluckt, steht im Zentrum. Die Bühne ist zweigeteilt. Wenn sich die Jalousien öffnen, schaut man links in das Zimmer von Moritz, rechts spielt die Band. Im Vordergrund ist die WG-Küche als Treffpunkt für alle und Raum für zahllose Alltags-Konflikte.
Und zwar mit liebevoll gezeichneten Figuren - darunter der coole Rocky (Bahattin Güngör mit Sonnenbrille) und die eigenwillige Frau Rottenmeyer (Franziska Schiller). Hier haben alle etwas zu sagen. Im Vorjahr hat sich das integrative Tonne-Ensemble bei Maeterlincks »Die Blinden« erstmals mit Erfolg an Sprechrollen versucht. Diesmal legen sie noch eine Schippe drauf, indem sie singen und musizieren.
Die Rockband reagiert zunächst wie viele Normalbürger auf die Behinderten. Diese kriegen die unpassendsten Intstrumente in die Hand gedrückt, gemeinsam wird spätpubertärer Chorgesang zur Klampfe angestimmt. Aber am Ende steht ein Konzert, bei dem jede/r eigene Stärken ausspielen kann.
Erste Sahne: Dass Santiago Oesterle virtuos zu rappen versteht, ist bekannt. Aber dass Gabriele Wermeling pfiffig die Blockflöte bläst, wussten längst nicht alle. Erst ein ganz leises Flötensolo, dann Heavy-Metal-Gesang, in dem sie klinische und homöopathische Wundermittel auflistet. Inal moderiert und singt, zuletzt auch ein Lied für die Angebetete. Ob diese das Rockkonzert freilich tatsächlich besucht, das bleibt offen. Riesenbeifall, bloß die vehement geforderte Zugabe bleibt aus. Stattdessen wird wieder die Kette vor den Kühlschrank gelegt - bis zum nächsten Mal.
Unterm Strich
Gut, die Exposition ist etwas zu lang, und das Aufeinandertreffen von Rockband und Behinderten-WG hätte noch mehr dramatisches Potenzial. Aber das machen Authentizität und Bühnenpräsenz des Ensembles mehr als wett. In der Tat, das rockt - sicher die herausragende Tonne-Inszenierung der Spielzeit.
Musik, die die Kühlschrankkette löst
von Christoph B. Ströhle
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 06.05.2017
Theater - Das inklusive Ensemble der Tonne feiert in Thomas B. Hoffmanns »Irre ist menschlich« ein Fest der Lebensfreude
REUTLINGEN. Der Wunsch, einmal ein Stück über die Liebe und jedermanns Suche nach Lebensglück und persönlicher Erfüllung auf die Bühne zu bringen, kam aus den Reihen der Schauspieler mit Handicap. Der Berliner Schauspieler, Autor und Musiker Thomas B. Hoffmann hat auf dieses Ansinnen reagiert und mit »Irre ist menschlich« eine »musikreiche Lovestory aus dem prallen Leben« vorgelegt, wie es im Untertitel heißt. Am Donnerstag war in der Reutlinger Planie 22 Premiere, bei der das Publikum das inklusive Ensemble des Theaters Die Tonne mit frenetischem Beifall und Zugabe-Rufen überschüttete. Zugabe-Rufen, die ganz klar den musikalischen Ausflügen der mehr als ein Dutzend Akteure galten, aber letztlich unbeantwortet blieben.
Aufhören, wenn's am schönsten ist, schien die Devise zu lauten, auch dramaturgisch: Das offene Ende führte vor Augen, wie aus Musik als Mittel zum Zweck – ein bestimmtes Mädchen zu beeindrucken in diesem Fall, von dem nicht klar ist, ob es überhaupt im Publikum sitzt – ein Glück spendender Befreiungsschlag für jeden Einzelnen und eine Gruppe werden kann.
Missgunst und Zusammenhalt
Bahattin Güngör, Seyyah Inal, Anne-Kathrin Killguss, Thomas B. Hoffmann, Cornelius Hoffmann-Kuhnt, Dominik Lohmüller, Santiago Österle, Antje Rapp, Jochen Rominger, Franziska Schiller, Michael Schneider, Chrysi Taoussanis, Bernd Wegener, Gabriele Wermeling und Stephan Wiedwald heißen die Schauspieler, die in der Regie von Tonne-Intendant Enrico Urbanek die Höhen und Tiefen einer Wohngruppe durchleben. Einer Wohngruppe, die Neid und Missgunst ebenso kennt wie – wenn es wirklich darauf ankommt – den Zusammenhalt. Ein gigantischer Kühlschrank steht sinnbildlich für das, was schiefläuft in der WG. Weil ständig die Lieblingsspeisen einzelner Mitbewohner verschwinden, wird er – mit Kette und Vorhängeschloss – fast so gut gesichert wie Fort Knox.
Wie schaue ich nach mir? Wie gefalle ich anderen, ohne vorschnell preiszugeben, wie verletzlich ich bin? Diese Fragen beschäftigen mehr oder weniger alle in der WG. Moritz (Seyyah Inal), der sich beim Chatten verliebt hat, hat schon einmal eine Beziehung mit Zweifeln und Eifersucht kaputt gemacht. Soll er seiner Angebeteten, die auch ihn mag, sagen, dass er im Rollstuhl sitzt? Tief enttäuscht muss Moritz feststellen, dass seine Mitbewohner sein Vertrauen missbraucht und unter seinem Namen heimlich mit ihr gechattet haben. Jetzt erwartet sie, ihn als Teil einer angeblichen Rockband bei einem Konzert zu sehen.
Joe (Chrysi Taoussanis), die sich als Sozialarbeiterin im Kümmern um die Wohngruppe aufreibt, redet Moritz' Mitbewohnern ins Gewissen. Mit dem Ergebnis, dass diese ihm behilflich sind, eine Ad-hoc-Band zu gründen, und ihre Ersparnisse dafür lockermachen, um Musikprofis zu engagieren, die sie coachen.
Für Speicher, Leupelt und Katsche (Thomas B. Hoffmann, Michael Schneider und Bernd Wegener), deren Band schon bessere Zeiten gesehen hat, ist das die Gelegenheit, die ausgetretenen Pfade zu verlassen. Was sich im Zusammenspiel von Wohngruppe und Band ergibt, kann man als kleines Wunder, als Magie des Augenblicks bezeichnen. Die alten und jungen Musiker und Tänzer überwinden ihr Klein-Klein des Alltags, finden zu Gemeinsamkeit und einer jeweils ganz eigenen musikalischen Sprache. Santiago Österle, der Sam spielt, ist als Rapper hervorzuheben, »Moritz« Seyyah Inal mit seinem zu Herzen gehenden Sprechgesang (»Mich hat die Liebe voll erwischt«).
Spaciges, Funkiges und Klänge aus Tausendundeinernacht machen den Abend zum Erlebnis. Dass das Theaterhafte am Ende zurücktritt, ist in Ordnung. Echt sind diese Momente, und die Musik reißt mit. Alle auf und hinter der Bühne, egal wie klein oder groß ihre Rolle ist, haben ihren Anteil daran und machen aus »Irre ist menschlich« ein Fest der Lebensfreude.
Rolling, immer wieder Rolling
von Kathrin Kipp
REUTLINGER NACHRICHTEN, 06.05.2017
»Kannst du nicht dazu stehen, dass du sitzt?«: Moritz bändelt im Flirtchat mit Anna-Lena an, will sich aber noch nicht als Rollstuhlfahrer outen. Also machen seine »hilfsbereiten« Mitbewohner Nägel mit Köpfen, hacken sich in seinen Computer und behaupten, dass er Sänger einer Rockband sei. Um der Wirklichkeit nachzuhelfen, wird schnell eine abgehalfterte Combo aus der Fußgängerzone angeheuert, die mit Moritz und seinen Mitbewohnern in kürzester Zeit ein Konzertprogramm zu stemmen hat.
Thomas B. Hoffmann hat die lustigen, selbstironischen, authentischen, wortspielerischen und manchmal auch sehr poetischen Szenen verfasst. Denn ganz wie im richtigen Leben wird auch in dieser Chaos-WG ständig durcheinander gequatscht, gibt es Stress wegen Haushalt, zu wenig Privatsphäre, dem robusten Umgang untereinander und des Kühlschranks, der nachts abgeschlossen werden muss, weil er sonst geplündert wird. Aber die Bewohner verlieren sich beileibe nicht nur im Alltagskleinklein, sondern widmen sich auch großen Visionen und basteln unter anderem an einer Petition für mehr Respekt, Personal und Barrierefreiheit für Menschen mit Handicap.
So agieren auf der Tonne-Bühne lauter liebenswerte Figuren mit schrulligen Ticks. Jochen Rominger wedelt als running gag ständig mit einem Essensgutschein, jemand anders hat im Internet eine Sexpuppe bestellt, so dass Sozialarbeiterin Johanna (Chrysi Taoussanis) völlig gestresst durch die Szenerie rennt und mit der Sozialbürokratie kämpft, während sich ihre Kollegen ständig krank melden und der Wohngruppenleiter selbstverständlich ein Komplett-Versager ist. Und so sind die Szenen mit den so originellen wie griffigen Dialogen mitten aus dem Leben gegriffen.
Regisseur Enrico Urbanek hat sie liebevoll choreografiert, so dass auf der Bühne immer Bewegung und Augenschmaus ist: Alltag, Energie und Lebenslust. In der Mitte steht der Riesenkühlschrank, als Tür zu einer anderen Welt, von der nicht nur die »Normalos« träumen, sondern auch die WG-Bewohner, die ja noch mit ganz anderen Hindernissen zu kämpfen haben. Nicht zuletzt mit sich selbst: Moritz (Seyyah Inal) vergeigt natürlich die Liebesgeschichte, weil er sein potenzielles Glück gar nicht fassen kann. Und er ist sauer auf seine WG, die sich in alles einmischt: »Das sind Momente, wo mich meine Behinderung ankotzt. Ich kann‘s akzeptieren, dass ich auf fremde Hilfe angewiesen bin und kann Schmerzen aushalten. Aber nicht, dass man mir nicht die Wahrheit sagt«.
Neben dem Kühlschrankmonstrum befindet sich das Paralleluniversum der mindestens genauso streitlustigen wie erfolglosen Rock‘n‘Roll-Band: Sie sind alt und brauchen das Geld, das ihnen von Klara (Anne-Kathrin Killguss) angeboten wird, wenn sie beim inklusiven Rockprojekt für Moritz mitmachen.
Aber Thomas B. Hoffmann ist als Gitarrist mit der schrulligen WG ziemlich schnell überfordert: Die Leute können keine Instrumente spielen, nicht bis vier zählen und nur heulen wie die Wölfe. Da müssen auch die eingefahrenen Altstars ein wenig umdenken, bis jeder so seinen musikalischen Part gefunden hat.
Am Ende steigt aber trotz allen Hindernissen eine grandiose Rockshow: Sam (Santiago Österle) rappt wie ein profimäßiger Ghettofreak, Anastasia Rottenmeyer (Franziska Schiller) kommt zu ihrem großen Auftritt, indem sie zu einer ruhigen Nummer mit der Aludecke aus dem Erste-Hilfe-Kasten raschelt und Jenny (Gabriele Wermeling) zeigt mit einer lieblich dahingeflöteten Weise und ihrer wutentbrannten Rockröhre, dass nicht nur Menschen, sondern auch Songs unter Schizophrenie leiden können. Da hilft nur noch »Ritalin, Fluanxol, Haloperidol, Zyprexa« – ein wirklich durchgeknallter Psychopharmaka-Hit. Denn ganz ohne Drogen geht’s natürlich auch im Handicap-Rock‘n‘Roll nicht. Und trotzdem: Keep On Rolling. Und so ist der Tonne dieses Mal wirklich ein großer Wurf gelungen, mit vielen Gags, drolligen Szenen und abwechslungsreicher Musik von Bernd Wegener (Schlagzeug), Michael Schneider (Bass, Geige) und Thomas B. Hoffmann (Gitarre), die außerdem für Chrysi Taoussanis zwei tolle lyrische Balladen geschrieben haben.
Und wenn die Darsteller nicht flöten, singen, rappen oder rascheln, dann tanzen sie, rocken den Saal und verbreiten gute Stimmung. Allen voran natürlich der coole Rocky (Bahattin Güngör), der dieses Mal mit Sonnenbrille und Lederjacke den Damen im Publikum den Kopf verdreht: »Musik aus einer andern Welt« eben.