EIN SEELEN-DRAMA

von Kathrin Kipp
REUTLINGER NACHRICHTEN, 07.07.2012

REUTLINGEN. »Manchmal schreibt das Leben kalte Lieder«: Heiner Kondschak erzählt das Schicksal des Findelkinds Kaspar Hauser angenehm unpathetisch. Der »kurze Traum vom Glück« wirkt auch deshalb sehr anrührend.

Gar nicht so einfach, eine »wahre« Geschichte zu erzählen, von der es zwar viele Dokumente und Zeugenaussagen, aber eben auch viele Perspektiven und noch mehr Verschwörungstheorien gibt. Heiner Kondschak hat aus dem kurzen Leben von Kaspar Hauser einen schlüssigen Biographie-Krimi gemacht.

Mit allem Drum und Dran: Wie Kaspar in Nürnberg auftaucht, wie er als Sensation gehandelt wird, wie er bei Lehrer Daumer alles lernen muss - Laufen, Sprechen, Essen. Welche Träume, Ängste und Gefühle er hat und wie er die Welt wahrnimmt. Wie er herumgereicht wird. Wie Gerichtspräsident Feuerbach Partei ergreift. Wie sich die Herrschaftsinteressen an ihm entzünden. Wie er zum bösen Lehrer Meyer kommt. Und wie er schließlich ermordet wird. Heiner Kondschak hat das alles in kurze Dialog-Szenen gepackt, die Schauspieler wechseln dabei flott Kostüme und Rollen. Oder formieren sich zum Chor, der kommentiert, die Handlung weitertreibt oder Fragen stellt. Das einstimmige Gesangskollektiv sorgt für Abwechslung, aber auch für Dramatik und Eindringlichkeit. Es ergreift Partei und holt die Zuschauer immer wieder aus der Geschichte raus, wenn sie mal wieder zwischen Mitgefühl, Voyeurismus und Sensationslust schwanken.

So wie die Menschen damals wohl auch, angesichts dieses so faszinierenden wie brutalen Menschenexperiments. Heiner Kondschak schlägt sich auf die Seite des Opfers, teilt die anderen Figuren ungeniert in Gut und Böse und gibt wie Gerichtspräsident Feuerbach, der den Fall aus nächster Nähe beobachtet hat, das »Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben eines Menschen«.

Kondschak verschachtelt das Individuell-Biographische geschickt mit den internationalen Machenschaften. Zitiert dabei viel Originaltext. Nicht ohne alles wieder zart in Frage zu stellen: »War es so? Oder haben wir nur den Wunsch, dass es so gewesen ist?« singt der Chor.

Ausstatterin Ilona Lenk lässt die schräge Geschichte auf einer schrägen Bühne geschehen - vielleicht als Anspielung auf die Schrägheit allen menschlichen Tuns. Die Kostüme sind entsprechend »historisch« gehalten, um das Authentische zu betonen: ein individuelles Schicksal ganz im Zeichen seiner Zeit, die ein wenig aus allem in sich vereint - Wissenschaft, Romantik, Vernunft, Hysterie, Absolutismus und Widerstand.

Die Geschichte setzte damals ein Riesenrätselraten in Gang, bis heute. Und stand im Fadenkreuz der verschiedenster Interessen und Machtverhältnisse. »Macht kennt kein Gewissen«, singt der Chor und weiß: »Manchmal schreibt das Leben kalte Lieder, und das ist eins davon.« Hinten auf der Bühne sitzen Heike Rügert, Heiner Kondschak, Bernhard Mohl und Christian Dähn und geben ihre multiinstrumentalen Kommentare ab: mal vornehm, mal jazzy, mal folky, mal kondschy, aber immer sehr gefühlvoll, mit so traurigen Liedern und Melodien, dass es selbst Kaspar manchmal zu viel wird - »Ich brauch keine traurige Musik, traurig bin ich selber.«

Kaspar hat also in seinem neuen Leben viel »Jammer«, erst jetzt spürt er Schmerzen, Ängste und Sehnsüchte und vor allem: sich selbst. Robert Atzlingers sehr sensibel gespielter Kaspar ist ein kindlicher Entdecker, der die Welt und sich selbst erst einmal körperlich, geistig und seelisch begreifen muss. Robert Atzlinger ist mit seinen unbeholfenen Bewegungen und seinen großen Augen der Inbegriff eines Findelkinds ohne Halt in der Welt. Er wundert sich über die unbeseelten Dinge, stellt Fragen, macht alles mit, spuckt die Fleischbrühe aus, bewundert den Sternenhimmel und schimpft über den Schnee, der ihm »in den Finger beißt«.

Er kann nicht zwischen Traum, Wirklichkeit und Erinnerung unterscheiden. Er diskutiert über Gott und die Welt, übt Dialektik und die Einübung eines eigenen Willens. Und muss lernen, dass man nicht allen Menschen trauen kann. Er weiß nicht, wer er ist, und hat trotzdem einen ganz eigenen Blick auf die Welt. Bleibt für die anderen immer ein Objekt. Und »immer, wenn mir das Glück zuwinkt, wird es mir genommen«. Rüdiger Ewald spielt den seriösen Gerichtspräsidenten Feuerbach, aber auch den bösen Lehrer Meyer sowie den Thronfolger Leopold, der eigentlich gar keine Lust hat, zu regieren.

Benjamin Hille wiederum bringt als Lehrer Daumer Kaspar die ersten Schritte bei, trinkt als Großherzog Ludwig aus seiner eigenen Urinflasche und tut als gepuderter Lord Stanhope ganz zwielichtig. Chrysi Taoussanis unternimmt als Kaspars französische Mutter Stephanie auch nichts, um Kaspars Leben nicht zu gefährden.

Constanze Klemenz schließlich zeigt sich intrigant als Sophie und knüpft als Caroline zarte Bande zu Kaspar. Und so generiert eine wirklich fabelhafte Ensembleleistung ein echt eindringliches Sensations-Drama.

 

 

MEIN HERZ BEGINNT ZU FRIEREN

von Monique Cantré
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 07.07.2012

REUTLINGEN. Ein Fremder überreicht Kaspar Hauser einen kleinen Beutel und erringt sofort sein Interesse mit den Worten: »Ein untrügliches Zeichen Ihrer Mutter«. Als der junge Mann am Beutelband nestelt, sticht der Fremde zu. Der Mord an dem 21-jährigen Kaspar rahmt als Prolog und Schlusspunkt Heiner Kondschaks musikalisches Bühnenstück »Kaspars kurzer Traum vom Glück« ein, begleitet von der vielstimmig gesungenen Erkenntnis: »Das Leben schreibt doch immer wieder kalte Lieder, dies hier ist eins davon.«

Das kalte Lied vom Findelkind Kaspar Hauser, das am Pfingstmontag 1828 sechzehnjährig in Nürnberg auftauchte und 1933 in Ansbach erstochen wurde, bestimmt in diesem Jahr das Reutlinger Sommertheater der Tonne. Mal kein putzmunteres Lustspiel oder lustige Unterhaltungsrevue, sondern, wie sich zeigte, ein Abend, der berührt und zu Diskussionen anregt. Die Premiere am Donnerstag war einer Gewitterwarnung wegen unters Dach der Planie 22 verlegt worden, wo die gleiche Bühne wie im Spitalhof für die Open-Air-Aufführungen steht. Auch die Gartencafé-Bestuhlung ist dort nachempfunden, aber die Atmosphäre ist eben doch nicht so wie unter freiem Himmel.

EIN DEUTSCHES SINGSPIEL
Heiner Kondschak nennt sein Stück, das vor acht Jahren am Badischen Staatstheater Karlsruhe uraufgeführt wurde, ein »deutsches Singspiel«. Mit eingängigen Chorsätzen im Stil von Moritatenweisen werden die Informationen über das Schicksal Kaspars und die dahinter vermutete Adelsverschwörung vermittelt. Der von Schauspielern gut zu bewältigende Gesang mit parallel geführten Stimmen öffnet jeweils die Spielszenen, in denen die historischen Augenzeugenberichte lebendig werden.

Während die Chöre in ihrem Erzählcharakter musikalisch schlicht daherkommen, hat Kondschak den Instrumentalisten wundervolle Melodien geschrieben – mit viel Stimmungsmalerei und mit rhythmischen Finessen, die aus Folk und Pop schöpfen. Apart ist die Instrumentierung, wenn sich Klavier, Geige, Marimbafon und Bassklarinette begegnen oder Bass, Marimbafon, Klarinette und Bouzouki. In der fabelhaften vierköpfigen Band spielt jeder jeweils mehrere Instrumente: Bernhard Mohl, Christian Dähn, Heike Rügert und Heiner Kondschak selbst.

Maestro Kondschak ist fast für alles zuständig: für Text, Komposition, Regie, musikalische Leitung, Klavier und Flöte sowie drei kleine Rollen. Um die Ausstattung hat sich allerdings Ilona Lenk gekümmert: Ihre Spielfläche ist eine breite flache Rampe, auf der mit wenigen Möbeln teils multifunktional die Schauplätze markiert werden, was die Darsteller selbst erledigen. Die Kostüme sind genial: Mit markanten historischen Accessoires und der großen Linie der damaligen Mode folgend, zitiert sie das frühere 19. Jahrhundert in Bürger- und Adelskreisen. Besonders die beiden Schauspielerinnen Chrysi Taoussanis und Constance Klemenz kleidet diese Biedermeiermode ungemein. Zusammen mit Benjamin Hille und Rüdiger Ewald bewältigen sie über vierzig Rollen, wobei sie beeindruckend präzise die unterschiedlichen Charaktere zeichnen.

VON TRAURIGKEIT ERFASST
Den Kaspar spielt Robert Atzlinger. Glaubwürdig führt er dessen Entwicklung vor Augen: vom »simpelhaften« und körperlich desolaten »Wolfsjungen« nach den Jahren als Gefesselter in Dunkelhaft bis zum kaum noch absonderlichen Mitmenschen, der über besondere Intelligenz verfügt. Wie er sprechen lernt und die Umwelt begreifen, wie er sich quälend an andere Nahrung als Wasser und Brot gewöhnt und starre Gesetze der Gesellschaft hinterfragt. Dabei ist sein Gemüt stets von Traurigkeit gedämpft. Selbst die erste Liebe macht ihn nicht froh, seine Caroline muss abreisen und er singt: »Kalt fasst mich an die Einsamkeit, mein Herz beginnt zu frieren.«

Kondschaks Stück vertritt die Lesart, dass hinter der Kaspar-Hauser-Tragödie ein badischer Thronfolgekrimi steckt, wofür viele Indizien sprechen, aber keine Gewissheit herrscht. Kaspar wäre demnach der letzte Zähringer in der Großherzogs-Nachfolge gewesen.

Die Szenen bei den machtgeilen Adligen in Baden, wo der Mord ausgeheckt und auch um die Pfalz geschachert wird, sind in Kondschaks Inszenierung deftiger Parodie anheimgegeben und fallen krass ab von den von Empathie getragenen Szenen mit Kaspar.

Das Premierenpublikum hat die ein bisschen zu lang geratene Aufführung mit starkem Beifall quittiert.

 

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