VOM WAHNSINN DER LIEBE

von Matthias Reichert

SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 29.09.2012

 

REUTLINGEN. Nichts ist, wie es scheint. Krimiautor Gilles leidet nach einem Unfall unter Amnesie, seine Frau Lisa erzählt ihm, wie ihre Beziehung bisher funktioniert hat. Angeblich. Sagt sie ihm die Wahrheit? Oder nutzt sie die Gelegenheit, sich einen Gatten nach Wunsch zurechtzumodeln?

 

Das ist der Ausgangspunkt der schwarzen Komödie »Kleine Eheverbrechen« des französischen Erfolgsautors Eric-Emmanuel Schmitt. Am Donnerstag war in der Planie 22 die gefeierte Reutlinger Tonne-Premiere. Bald stellt sich heraus, dass Gilles seine Amnesie nur simuliert. Der Grund sei hier nicht verraten. Nur so viel: In dieser scheinbar so intakten Ehe tun sich tiefe Abgründe auf. Ein echter Krimi: Wer schlug zu?

 

Eine flotte Inszenierung, gute Akteure: Der frühere LTT-Schauspieler Gunnar Kolb gibt den Krimiautor als selbstverliebten Gemütsmenschen, der um die Fragilität menschlicher Zweisamkeit weiß. Chrysi Taoussanis spielt Ehefrau Lisa zunächst als verständnisvolle Partnerin. In der zweiten Hälfte lässt sie Lisa mit Verve ihr wahres, von Komplexen und Neurosen geprägtes Gesicht zeigen.

 

Von Regisseurin Karin Eppler stammt auch das Bühnenbild. Eine Treppe führt zu Sessel, Hocker und Sofa, zwischen Bücherstapeln und Stellwänden mit stilvollen Gemälden haben die Akteure Raum, sich auszutoben. Die abstrakten Bilder stammen übrigens von Schauspielern mit Behinderung, die bei der Tonne ausgebildet werden. Auch im Bühnenbild tun sich Abgründe auf, überall stecken leere Weinflaschen. Lisa säuft, weil sie ihre Ehe nach 15 Jahren nicht mehr ertragen kann – und tut zugleich alles, um sie zu retten.

 

Das Paar balzt, flirtet, kabbelt und zankt sich, schreit sich an. Lügen werden offenkundig, Geheimnisse aufgedeckt, bis das Paar tiefe Ängste und Obsessionen offenbart. Sie wollen sich verlassen und kommen nicht voneinander los.

 

In einer Rückblende erinnern sie sich an den Beginn ihrer Beziehung. In der Schlussszene greifen sie dieses Rollenspiel in umgekehrter Besetzung wieder auf. Ein zarter Neuanfang trotz aller »kleinen Eheverbrechen«, wie ein Roman des Autors heißt, der in der Krimmihandlung eine wichtige Rolle innehat.

 

Philosophische Fragen nach Wahrheit und Lüge, große Gefühle und kleine Verbrechen: »Lange zu lieben, das ist der reine Wahnsinn«, stöhnt Gilles einmal.

 

Dieser Wahnsinn hat hier Methode. Liebe lebt davon, dass beide Partner ihr Geheimnis wahren können. Sie lebt aber auch von Offenheit, wie sie in der Inszenierung von Karin Eppler schonungslos vorexerziert wird. Eine Aporie nicht nur für Gilles und Lisa.

 

UNTERM STRICH

Sie küssten und sie schlugen sich: Aus Eric-Emmanuel Schmitts intelligenter schwarzer Komödie machen zwei gut aufgelegte Akteure eine Tour de force durch die Abgründe einer Ehe. Das hat Herz, Hirn und Niveau, ist von Karin Eppler rasant inszeniert und funktioniert auf allen Ebenen. Unbedingt anschauen!

 

 

VON LIEBE UND SCHMERZ

von Christoph B. Ströhle

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 29.09.2012

 

REUTLINGEN. In gewisser Weise ist es eine sehr männliche Sicht auf die Dinge, die der französische Bestsellerautor Eric-Emmanuel Schmitt der Protagonistin seines Dramas »Kleine Eheverbrechen« in den Mund legt. Wenn sich bei einem Paar Gewalt eingeschlichen habe, spiele es keine Rolle, welcher der Partner sie ausübe, sagt sie in der wendungsreichen schwarzen Komödie, mit der das Theater Die Tonne am Donnerstag in die neue Spielzeit gestartet ist. Gewalt wird in dem Beziehungskrimi allerdings nur mit Worten angedeutet.

 

Chrysi Taoussanis als Lisa und Gunnar Kolb als ihr Mann Gilles lieferten bei der Premiere eine starke Vorstellung ab und wurden dafür vom Publikum zu Recht gefeiert. Satten Applaus gab es zudem für die mit sicherer Hand inszenierende Karin Eppler, die in dem bitter-vergnüglichen Kammerspiel neben der Regie auch die Ausstattung übernommen hat.

 

Wer wem Gewalt angetan hat und ob überhaupt, bleibt lange Zeit ungewiss. Der selbstverliebte Krimiautor Gilles hat sein Gedächtnis verloren. Nach vierzehn Tagen im Krankenhaus versucht er sich im fremd gewordenen heimischen Wohnzimmer zu erinnern, was passiert ist, wer er ist, wo, wie und vor allem mit wem er lebt. »Mein Ich ist verschwunden«, stellt er fest und kommt sich wie ein »erwachsenes Neugeborenes« vor. Aus dem Hintergrund dringen Erinnerungssongs wie »Don´t You Remember« an sein Ohr, allerdings ohne dass der Groschen fällt.

 

SAGT LISA DIE WAHRHEIT?

Gilles´ Frau Lisa, die er »meine schöne Unbekannte« nennt, gibt ihm bereitwillig Auskunft und bleibt ihm doch wichtige Antworten schuldig. Ist er auf der Treppe gestürzt und hat dadurch sein Gedächtnis verloren, wie sie behauptet? Oder liegt ein Verbrechen vor, das sie zu vertuschen sucht, um sich oder ihn zu schützen? Ist sie überhaupt seine Frau? Und wenn ja, kann er auf eine zweite Hochzeitsnacht hoffen?

 

Autor Schmitt legt eine große Meisterschaft an den Tag, die Abgründe in der oberflächlich harmonisch erscheinenden Ehe der beiden freizulegen. Taoussanis und Kolb wissen die geschliffenene Dialoge klug zu gestalten und offenbaren in immer wieder blitzschnell sich wandelnden Situationen - vom Wortgefecht über den geordneten Rückzug bis hin zur stürmischen Umarmung - Charme, Witz, lustvolle Leidenschaft und Schmerz.

 

ABNUTZUNG EINER EHE

Zweisamkeitsdesaster könnte man das nennen, was das Paar nach fünfzehn gemeinsamen Jahren verbindet und gleichzeitig trennt. Da spielt Alkohol eine Rolle, Eifersucht und das Gefühl, vom anderen nicht mehr gesehen oder belogen zu werden. Den Tonne-Akteuren gelingt es diese Abnutzungserscheinungen einer Ehe eindringlich und glaubhaft darzustellen, in einem Bühnenbild, bei dem kein Möbelstück zum anderen passt und doch alles seinen angestammten Platz hat.

 

Selbst wenn es kurz vor Ende des Stücks zum Bruch zwischen Lisa und Gilles kommt, ist das für beide nicht das letzte Wort. Die poetische Schlussszene knüpft da an, wo sie sich zum ersten Mal begegnet sind.

 

 

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