Sprudelnde Erinnerungen
von Christoph B. Ströhle
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 13.2.2023
Theater – Die Tonne bringt A. R. Gurneys Beziehungsstück »Love Letters« in einer Traumbesetzung auf die Bühne
REUTLINGEN. Es sind oft die kleinen Dinge, die eine gute Aufführung zu einer herausragenden Aufführung machen. Im Fall von »Love Letters«, einem Stück des US-amerikanischen Autors und Dramatikers A. R. Gurney aus den 1980er-Jahren, das Intendant Enrico Urbanek gerade am Reutlinger Theater Die Tonne inszeniert hat, ist das beispielsweise das wunderbar ineinandergreifende Sprechen von Kathrin Becker und Hans Rudolph Spühler. Sich wie in einem Musikstück mal verdichtend, mal entspannend, Pausen setzend. Das mit Witz, Vehemenz, Trotz, Angefasstheit oder Sehnsucht aufeinander Reagieren der Schauspielerin und des Schauspielers, die für das Stück eine Traumbesetzung sind.
Aus den Briefen, die die von ihnen verkörperten Figuren Melissa und Andrew einander über Jahrzehnte hinweg schreiben, fächern Becker und Spühler kraftvoll zwei Leben und eine Beziehung auf. Das berührt. Nicht zuletzt, weil da zwei Menschen aufeinandertreffen, die nie eine gemeinsame Mitte finden, einander im Grunde aber ein Leben lang lieben und gegenseitig bereichern.
Heimliche Treffen
Eine vom Tonne-Team hinzuersonnene kleine Rahmenhandlung lässt Hans Rudolph Spühler als Andrew in den Briefen kramen, die ihm Melissas Mutter nach dem Tod ihrer Tochter überlassen hat. Früh im Stück ist Kathrin Becker als Melissa mit ihm im Raum. Wie eh und je fordert, ignoriert, neckt sie ihn oder verzweifelt an ihm, als sei sie niemals verschwunden.
Andrew hat in sein Vorzimmer durchgegeben, dass er nicht gestört werden will. Die Lücke, die Melissas Tod in sein Leben gerissen hat, füllt er nun mit Erinnerungen auf, die aus den Briefen sprechen. Und da Melissa ein unverzichtbarer Teil dieser Erinnerungen und ihres Briefwechsels ist, ist sie wie selbstverständlich dabei und reicht ihm das eine oder andere Blatt, das Zeugnis darüber ablegt, wie sie miteinander umgegangen sind, wie sie den anderen haben Anteil an ihrem Leben nehmen lassen oder phasenweise auch nicht.
Ob Andrew die Hilfeschreie, die Melissa an ihn adressiert hat, nachdem sie das Sorgerecht für ihre Kinder verloren hat, geflissentlich ignoriert hat oder jetzt erst versteht? Es bleibt in der Schwebe. Zu sehr war er in dieser Phase seines Lebens auf sein öffentliches Image, seine politische Karriere, seine Ehe bedacht.
Er, der stets Pflichtbewusste mit einem gewissen Hang zum Dozieren, hat sich hochgearbeitet, etwas erreicht, das ihm nicht in die Wiege gelegt war. Sie hat, aus reichem Haus kommend, das für Andrew durchaus Erstrebenswertes bot, zunächst Karriere als Künstlerin gemacht, ist dann aber – auch als Folge ihrer dysfunktionalen Familie – in Alkoholsucht und Einsamkeit abgestürzt. Nur zu gerne hätte sie einen Vater, wie er ihn hatte, gehabt, lässt sie Andrew wissen, als dieser den Tod seines Vaters zu verkraften hat.
Melissa hat Andrew mit ihrer unkonventionellen, manchmal flippigen Art immer wieder auch provoziert – er sich dafür geschämt, dass, als sie beide in jüngeren Jahren eine Bettgeschichte hatten, er seine und ihre Erwartungen nicht erfüllen konnte.
Glücklich sind die beiden, wenn sie Post vom anderen bekommen. Wobei sie mitunter auch wenig einfühlsam ihre Erfolge verkünden. Sei es nun beim anderen Geschlecht oder in beruflicher Hinsicht. Rasch steht da Eifersucht im Raum, selten ungetrübte Freude über dasGlückdes anderen. Oder sie sind beide so beschäftigt mit ihren getrennt verlaufenden Leben, dass ihre Korrespondenz pausiert oder zur Nebensache wird.
Als beide bereits in einem reiferen Alter sind, nähern sie sich noch einmal an. Da Andrew gebunden ist und eine Wahl gewinnen will, vereinbaren sie heimliche Treffen. Der Wert ihrer lebenslangen Beziehung scheint sich Andrew aber erst ganz zu erschließen, als Melissa nur noch als Teil seiner Erinnerung da ist. Das ist ergreifend gespielt und von Enrico Urbanek in einem schlicht gehaltenen Bühnenbild, das durch Lichtwechsel Stimmungen verstärkt, sensibel in Szene gesetzt.
Essenzieller Bestandteil der Inszenierung ist die von Maciej Szyrner am Klavier live gespielte Musik, die einen atmosphärisch stimmigen Rahmen schafft für den gemeinsamen Ort, den Melissa und Andrew mit ihrem Briefwechsel erschaffen und über Melissas Tod hinaus behaupten.
Das Premierenpublikum gab am Samstagabend im Tonnekeller seiner Begeisterung nach 100-minütiger Spieldauer laut und lang anhaltend Ausdruck. (GEA)
Das Märchenland der Worte
von Sophie Holzäpfel
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 16.2.2023
Premiere – Kathrin Becker und Hans Rudolph Spühler begeisterten im Reutlinger Tonne-Theater in ihren Rollen als Melissa und Andy in »Love Letters«, einem Stück in Briefen.
Als er Melissa (Kathrin Becker) das erste Mal sieht, erinnert sie ihn an »die verlorene Prinzessin von Oz«. Nur wenige Tage nach ihrer ersten Begegnung in einem trostlosen Klassenzimmer erhält Andrew Makepeace Ladd III. (Hans Rudolph Spühler), genannt Andy, eine Einladung zu Melissas Kindergeburtstag. Der schüchterne Junge kann sein Glück kaum fassen. Die beiden Zweitklässler ahnen zu diesem Zeitpunkt, im Jahr 1937, noch nicht, dass die Geburtstagseinladung den Beginn einer lebenslangen Freundschaft in Briefen einleitet.
Im warmen Bühnenlicht sitzt Andy an seinem Schreibtisch. Er hat ein Paket erhalten: In der roten Truhe befinden sich unzählige Briefe und Karten, die er an Melissa schrieb. Mit ihr teilte er Geheimnisse, Gedankenfragmente und Ängste. Schon zu Beginn des Stücks erfährt der Zuschauer, dass Melissa nicht mehr am Leben ist. Und doch tritt sie auf, wird vor den Augen des Publikums zur lebendigen Erinnerung. Am liebsten habe er immer ihr geschrieben, sagt Andy. Sie haben einander am besten gekannt.
Sklave deiner Eltern
Dabei könnten die beiden unterschiedlicher nicht sein: Melissa, Tochter aus reichem Hause, ist wild und leidenschaftlich, wirft sich dem Leben ohne Verlustängste in die Arme und leidet zugleich unter der Scheidung ihrer Eltern. Sie vermisst ihren Vater und wird von dem neuen Mann ihrer Mutter, die zunehmend dem Alkoholismus verfällt, sexuell missbraucht. »Hilfe, ich will hier raus«, schreibt sie Andy in einem ihrer Briefe. Dieser ist stets bestrebt, die Erwartungen anderer, insbesondere die seiner Eltern, zu erfüllen. Melissa betitelt ihn als »Sklaven deiner Eltern« und ist doch fasziniert von dem nachdenklichen Jungen, hält ihn jedoch bewusst auf Abstand. Nach den ersten Küssen am Weihnachtsball teilt sie ihm mit: »Ich gehe mit niemandem, das ist gegen meine Religion«. Ein Spiel aus Nähe und Distanz entspinnt sich, das Leben führt Melissa nach Paris, Florenz und Ägypten, sie widmet sich der Malerei und verliert sich im Sog der Alkoholsucht, während Andrew seinen Karriereweg als Jurist beschreitet und schließlich Senator wird. Sie verlieren einander zeitweise aus den Augen, enttäuschen sich gegenseitig, beginnen eine leidenschaftliche Affäre.
Kathrin Becker und Hans Rudolph Spühler entführen die Zuschauer in ihr eigenes »Märchenland«, wie Andy es einmal nennt. Becker, im Tonfall mal zärtlich, mal leidenschaftlich und fordernd, dann ironisch, fast bitter-zynisch, gelingt es, die Fragilität ihrer Figur sicht- und spürbar zu machen. Spühler brilliert indes in der Rolle des moralischen Mannes, der Zeit seines Lebens ein Getriebener ist.
Briefe wie Mosaiksteine
Die beiden Schauspieler füllen die Briefe mit Leben. Ihre Beziehung lebt in den Worten, die sie einander schreiben. Ihre persönlichen Begegnungen entpuppen sich oft als Enttäuschung, immer wieder verpassen sich die beiden. Mit den Sätzen, die sie sich schreiben, manchmal aufgelöst, mal wütend, dann wieder voller Liebe und Hingabe, erschaffen sie eine Welt jenseits der gesellschaftlichen Erwartungen, Enttäuschungen und Widrigkeiten des Lebens. Die einzelnen Briefe gleichen dabei Mosaiksteinen, die sich im Laufe des Stücks zu einem Bild zusammen fügen – bestehend aus den Lebensgeschichten zweier Menschen, die stets miteinander verbunden sind. Das Stück kommt dabei ohne wechselndes Bühnenbild, ohne theatralische Ausbrüche oder aufwändige Kostümierung aus – viel mehr lebt es von den leisen zwischenmenschlichen Tönen, die durch die sanften Pianoklänge von Maciej Szyrner unterstrichen werden.