Das Mädchen und die Zeitdiebe
von Thomas Morawitzky
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 16.04.2018
Theater – Heiner Kondschaks Fassung von Michael Endes »Momo« feiert als Familienstück an der Tonne Premiere
REUTLINGEN. Die Geschichte des kleinen Mädchens, das die Zeitdiebe besiegt, hat Generationen begeistert. Längst aber braucht jedes Schulkind nun einen Terminplaner und alle Menschen gehen wie von unsichtbaren Fäden gezogen aneinander vorbei – da tut es gut, sich an Michael Endes Roman zu erinnern. Heiner Kondschak hat ihn nicht vergessen, hat Momo für das Theater Tonne inszeniert, ist selber Meister Hora, der Verwalter der Zeit, während die Heldin des Abenteuers träumend vor sich hinschaut und die grauen Herrn ihre Zigarren paffen.
Mit diesen Zigarren hat es etwas auf sich: Sie sind gefertigt aus den toten Stundenblumen, die die grauen Herren den Menschen nahmen. Diese Typen, boshaft bürokratisch bis aufs Blut, arbeiten für die Zeitsparkasse. Sie erklären jedem, dessen sie habhaft werden, wie viel Zeit er verliert an jedem Tag, und drängen ihn dazu, ihre Zeit nur ihnen zu überlassen.
Zigarrenqualmer machen Druck
Herr Fusi, der Friseur, ist ihr erstes Opfer. Agent XYQ384B besucht ihn, die Zigarre zwischen die Lippen gepresst. Fortan hat Herr Fusi keine Zeit mehr für seine alte Mutter, keine Zeit mehr, sich um Daria zu kümmern, die an den Rollstuhl gefesselt ist. Aber das ist nur der Anfang: Die paffenden Unholde wollen sich auch die Zeit aller anderen holen. Nur Momo, die in der Ruine eines alten Theaters lebt, nicht weiß, ob sie 100 oder 102 Jahre alt ist, ein Kind, das mit großen Augen in die Welt hinaus blickt: Sie ist immun gegen die grauen Herren. Endes Roman erschien zuerst 1973, wurde verfilmt, ist gut 300 Seiten dick und voller Figuren, voller Handlung. Heiner Kondschak hat aus Momo ein kindgerechtes Kammerspiel gemacht, bringt es auf die Bühne mit Musik und nur drei Begleitern. Nina-Mercedés Rühl spielt Momo, sitzt auf der Treppe des Amphitheaters, ihre Hände liegen in ihrem Schoss, fragend, ruhig und ganz sie selbst. Robert Atzlinger und David Liske sind die grauen Herren, sind alle anderen Figuren des Stücks: ein Gespann, das sich fantastisch immer wieder verwandelt, zuletzt auch einmal überraschend die Rollen tauscht.
Enrico Urbanek hat für Momo eine Kulisse geschaffen, die eigentlich nur aus einer Mauer besteht; hinter ihr durchscheinende Flächen, über die die Schatten der grauen Herren geistern. Betritt Momo das Nirgendhaus, in dem Meister Hora wohnt, liegen die Bilder vieler Uhren auf der Leinwand, und jede dieser Uhren zeigt ihre eigene Zeit. Heiner Kondschak sitzt zuerst am Keyboard, auf dem eine kleine Sanduhr steht, spielt ein schönes Thema, hämmert dramatisch auf die Tasten ein, lässt später Klangeffekte ins Geschehen fließen. Wird er zu Meister Hora, geht er ganz entspannt auf die Bühne, einer, der sich gewiss von niemandem die Zeit stehlen lässt. Er erklärt Momo, was es auf sich hat mit den Zeitdieben vom Kreditinstitut, und wie man sie besiegt.
Kondschaks Inszenierung meidet jede Effekthascherei, verlässt sich ganz auf Spiel und Fantasie. Robert Atzlinger und David Liske vor allem geben eine wunderbare Vorstellung, wenn sie im Fluge die Gesichter und Kostüme wechseln. Graue Herren sind sie mit grimmigen Gesichtern, hundsgemeinem Tonfall. Aber Liske kann im nächsten Augenblick schon der Friseur Fusi sein, ganz arglos, das perfekte Opfer. Atzlinger, der in einer Szene eine ganze Versammlung grauer Herren verkörpert, verwandelt sich in der nächsten in Beppo, den gemütvollen Straßenkehrer, Momos besten Freund. Und er ist auch Kassiopeia, gibt langsam kauend die perfekte Darstellung der uralten Schildkröte, die Momo zu Meister Hora führt.
Wenn graue Herren Theater machen
von Bernhard Haage
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 17.04.2018
Kinderbuchklassiker – Im Reutlinger Tonne-Theater hatte am Samstag Heiner Kondschaks Version von Michael Endes »Momo« Premiere
REUTLINGEN. Mit einer neuen Theaterfassung von Michael Endes »Momo« hat Heiner Kondschak, nach Otfried Preußlers »Krabat« nun bereits den zweiten Kinderbuchklassiker in ein Bühnenwerk umgewandelt. Am Samstagnachmittag war in der Tonne-Spielstätte Spitalhofkeller Premiere.
Mit kleinen Mädchen, die in Amphitheatern hausen, ist nicht zu spaßen – zumindest dann wenn man nichts Gutes im Schilde führt. Diese Erfahrung mussten auch die »grauen Herren« machen, deren einziger bedrohlicher Lebenszweck es ist, den Menschen ihre Zeit zu stehlen. Sinnbildlich stehen die Zeitdiebe für die Neigung moderner Menschen, sich selbst einem immer grausameren Zeitdiktat zu unterwerfen.
Kondschak, der die musikalische Untermalung des Stückes selbst an einem elektrischen Piano übernahm – der ursprüngliche Plan, das Gleiche mit Saiteninstrumenten zu tun, scheiterte an einem gebrochenen Finger – hatte von Anfang an auch die Rolle eines unaufdringlichen Erzählers. Der erklärte gleich am Anfang, was die Ruine eines Amphitheaters ist und dann war das Premierenpublikum auch schon mitten drinnen in der Geschichte. Denn in der Ruine lebt Momo, gespielt von Nina-Mercédes Rühl, immer wieder besucht von freundlichen Gestalten wie dem Wirt Nino, dem Maurer Nicola oder dem Straßenkehrer Beppo. David Liske und Robert Atzlinger spielen alle guten Rollen und alle bösen, wenn sie sich mit Mantel, Hut und Zigarre in »graue Herren« verwandeln.
Wenn Momo Ihren Freunden zuhört, spielt Zeit überhaupt keine Rolle, was natürlich irgendwann die grauen Herren von der Zeitsparkasse auf den Plan ruft. Das Mädchen ist eine Bedrohung für ihr Geschäftsmodell. Ein Agent, der auf sie angesetzt wird, scheitert allerdings kläglich, weil sie ihm so gut zuhört, dass er ihr alles verrät und sich damit um Kopf und Kragen redet. Es ist schon beeindruckend, wie überzeugend die beiden Schauspieler mit einem Jackenwechsel auch ihren Charakter überzeugend ändern. Als graue Herren sind beide großes Theater, tja, und Momo ist wie sie ist – eben auch genau richtig.
Dramatischer Höhepunkt ist die Belagerung von Meister Horas Haus in der Niemalsgasse durch die grauen Herren. Heiner Kondschak selbst spielt den Herrn über die Zeit, wie ein Mensch gewordenes Understatement. Zu ihm wurde Momo von der Schildkröte Kassiopeia gebracht, die Atzlinger und Liske gleich auch noch verkörperten. Sehr witzig, aber leider auch Ironie des Schicksals, denn auch über das Einsparen von Schauspielern könnte man trefflich ebenfalls ein Kinderbuch schreiben.
Kondschak jedenfalls hat die Essenz von Michael Endes Meisterwerk sehr punktgenau herausgearbeitet und auch das Bühnenbild – bestehend aus drei verschieden einsetzbaren Elementen – konzentriert sich auf das Wesentliche. Das Premierenpublikum dankte mit viel Applaus.
Unterm Strich
Heiner Kondschaks Version von »Momo« hat viel Charme und ist mit Rühl, Liske, Atzlinger und Kondschak prima besetzt. Der Einsatz von Musik macht das Stück kurzweilig und die ausgewählten Szenen treffen (ziemlich zeitsparend!) den Nerv der literarischen Vorlage.