Revolte auf dem Effizienzplaneten
von Matthias Reichert
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 14.11.2022
Premiere – Im neuen Jugendprojekt »Morph« des Reutlinger Tonne-Theaters ist die Menschheit auch nach ihrer Flucht ins Weltall nicht mehr zu retten.
Viele Jahre nach dem Ende der Erde bewohnen die letzten Menschen den weit entfernten Planeten Morph. Ein benachbarter Planet droht, von einem Meteoriteneinschlag zerstört zu werden – angeblich sind dessen Bewohner bereits auf dem Weg nach Morph. Die Morphianer schotten sich ab, bauen eine Mauer. Doch die bietet keinen Schutz gegen die Invasion.
Die Premiere des Theaterprojekts »Morph« mit zwölf jungen Akteurinnen und Akteuren zwischen 13 und 24 Jahren unter Leitung von Jana Riedel ist am Donnerstag im Reutlinger Tonne-Theater gefeiert worden. Dank Förderung des Bundesprogramms »Kultur macht stark« hat Katja Büchtemann dystopische Tanz-Choreografien mit dem Ensemble einstudiert. Und Medienpädagogin Kerstin Risse entwickelte mit den Jugendlichen anspruchsvolle Video-Projektionen. Zudem ist der Eintritt dank der Förderung frei, was endlich mal wieder für einen vollen Saal gesorgt hat.
Michael Schneider, von dem die sphärische Begleitmusik stammt, beschreibt eingangs aus dem »Off« vermeintliche naturwissenschaftliche Charakteristika des fiktiven Planeten. Das Ensemble kauert auf dem Boden. Wenn vom Pilzgeflecht im Boden die Rede ist, das dort alles Leben verbindet, recken sie einander die Hände entgegen, während auf der Leinwand ein amorphes Etwas wabert. Die Darstellerinnen und Darsteller tragen weiße Kleider. Jeweils einfarbige Jacken charakterisieren die drei Schichten der Bevölkerung: die Berater des Königs, die Wächter und Beschützer sowie die Arbeiter.
Die Zeit auf Morph, so heißt es, vergeht schnell und effizient. So etwas wie Kapitalismus gibt es längst nicht mehr. Wohl aber einen König. Den spielt der Geflüchtete Hadi Mousavi. Er spricht im Stück Farsi, eine Mitspielerin übersetzt. Zunächst geht es um Nahrungsbeschaffung – und um das nacherzählte Ende der Erde in Aufständen, Überwachung und Gewalt. Das Ensemble geht ins Publikum und fragt: »Wie künstlich ist deine Intelligenz?« Oder: »Wie sozial bist du?«
So richtig menschlich geht es auf »Morph« freilich auch nicht zu. Fühlen, schreit eine Akteurin, sei etwas für Schwächlinge und Feiglinge. Als die Kunde von der möglichen Invasion ruchbar wird, bauen sie ihre Schutzmauer aus weißen Plastikstreifen. Angespornt von den Wächtern dieses Effizienzplaneten: »Härter, stärker, besser, schneller.« Im Volk beginnen Verschwörungsmythen zu kursieren. Eine Morphianerin entwickelt Zerstörungsfantasien: »Sagt mir doch endlich, was ich tun soll«, schreit sie. »Wir dulden keine Gewalt auf Morph«, schimpft der König. Mit klassischem Musikgesäusel wird das Volk eingelullt: »Ich bin glücklich, du bist glücklich, wir alle sind glücklich«, lallen sie im Takt. Im Videobild erscheint ein Wolkenkuckucksheim. Doch es gärt auf dem Planeten. Regimegegner stacheln auf, bald schon tobt ein Aufstand. Höhepunkt des etwa einstündigen Stücks ist diese Revolutionschoreografie: Widerständler und Wächter stehen einander seitlich gegenüber. Trommeln dröhnen, sie rennen aufeinander zu, schreien und kämpfen, hin und her. Zuletzt verkriechen sich alle in ein durchsichtiges weißes Zelt, das wie ein Raumschiff am Bühnenrand steht, nur der König bleibt reglos am Boden liegend zurück.
Doch die Revolte ist zwecklos; die Außerirdischen sind längst schon da – weil sie keine physischen Körper wie die Morphianer haben. Zuletzt rieseln weiße Schnipsel wie eine kaum greifbare Bedrohung von der Decke herab. Aus dem Off ertönt ein Gedicht: »Macht was ihr wollt,/weinen und lachen,/ihr macht, was ihr sollt,/wir überwachen.« Womit das Stück schließlich doch noch die Kurve zum angekündigten Überwachungsthema kriegt.
Unterm Strich
Beklemmende Dystopie über das absehbare Ende und eine mögliche Zukunft der Menschheit, mit sehenswerten interstellaren Choreografien und anspruchsvollen Videoprojektionen, die dem jugendlichen Ensemble die Möglichkeit bieten, von Beginn an in die Inszenierung von Jana Riedel hineinzuwachsen. Sehenswert – auch wenn die Exposition ein wenig lang geraten ist.
»Glücklich! Du bist glücklich!« – Das Jugendtheater Tonne zeigt »Morph«
von Lukas Lummer
KUPERBLAU. DAS CAMPUSMAGAZIN, 13.11.2022
Auf einem Planeten namens Morph, mehrere Lichtjahre von unserer Erde entfernt, spielt das diesjährige Stück des Jugendtheaters der Tonne Reutlingen. Das Stück, das von den Jugendlichen selbst entwickelt und geschrieben wurde, handelt von Überwachung und Zusammenhalt. Die Kupferblau hat am Donnerstag, dem 10. November die Premiere besucht und berichtet.
Auch wenn die Morphianer*innen uns sehr ähnlich sehen, ihre Lebensweise scheint uns völlig fremd. Ein ähnliches Sozialkonstrukt finden wir bei uns auf der Erde höchstens bei Ameisen, oder wenn man bei den Säugetieren bleiben möchte, bei Nacktmullen. In verschiedene Klassen unterteilt (nein, nicht Klassen wie bei Marx), leistet jede*r Morphianer*in seinen eigenen wertvollen Beitrag zur Gesellschaft. Doch Panik macht sich auf Morph breit, als die Morphianer*innen erfahren, dass die Bewohner des Nachbarplaneten auf dem Weg nach Morph sind, um Schutz vor einem lebensauslöschenden Meteoriteneinschlag zu suchen. Der König von Morph befielt daraufhin einen Schutzwall zu bauen, aber sein Gefolge ist nur teilweise von der Idee begeistert.
Fantasiereiche Umsetzung
Das Rahmenthema Überwachung kennen die Jugendlichen bereits seit April. In regelmäßigen Proben und Workshops unter der Spielleitung von Jana Riedel sammelten sie dann immer wieder Ideen und Impulse, um in den Intensivproben während ihrer Herbstferien alles zusammenzusetzen.
Die Umsetzung gestaltet sich vielfältig, so werden Kurzvideos als dramaturgisches Mittel eingesetzt und hierfür auf eine Leinwand projiziert, die gleichzeitig das hintere Ende des Spielraumes darstellt. Bei der Umsetzung wurden die Jugendlichen von Kerstin Risse von Medien und mehr e.V. unterstützt. Auch Klanggestaltung spielt im Stück eine große Rolle: Gemeinsam mit Michael Schneider, die musikalische Leitung der Tonne Reutlingen, lernten die Jugendlichen beispielsweise eine Choreinlage ein oder arbeiteten die musikalische Untermalung einiger Szenen aus. Die ein oder andere gut einstudierte Tanzchoreografie darf dann natürlich auch nicht fehlen. Das schlichte und eindrucksvolle Bühnenbild, bestehend aus einer kleinen Kuppel, einem weißen Boden und einer weißen Wand, haben sie ebenfalls selbst entwickelt.
Ein Blick auf die Gesellschaft und das Individuum
Das Thema Überwachung wird während des gesamten Stücks immer wieder aufgenommen und steht dabei in starker Wechselwirkung mit dem zweiten Thema des Stücks: dem Zusammenhalt. Regelmäßig werden die Gedanken der Morphianer*innen als Monolog in Hinblick auf ihre Position in der Gesellschaft und den damit zusammenhängenden Gefühlen beleuchtet. Über der fiktiven Gesellschaft von Morph steht ein großes »Wir« als Selbstverständnis, was damit einher geht, dass dem Individuum im öffentlichen Raum wenig Platz für die eigenen Gefühle zur Verfügung gestellt wird. Mit den Monologen bekommt das Publikum daher einen großen Einblick in die Köpfe der Charaktere, die voller Gedanken sind, welche sie nicht aussprechen möchten oder können. Erzählt wird dabei von großer Angst und Wut gegen das bestehende System und von Bedürfnissen, die im Kollektiv der Gesellschaft zu kurz kommen.