Spiel mit Mythos und bitterer Realität
von Christoph B. Ströhle
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 14.06.2021
Tanztheater − In der Tonne-Produktion »Mr. Krake« wird die Reutlinger Innenstadt zur Bühne. Thema ist die Pandemie
Tanztheater an der Tonne, das war jahrelang eine auf Reutlingen zugeschnittene Zusammenstellung bestehender Produktionen unter dem Stichwort »Internationales Tanztheater«. Daraus aber sind längst Beziehungen zu Choreografen entstanden, die im Auftrag der Tonne ganz Eigenständiges entwickeln. Erinnert sei etwa an Yaron Shamirs kraftvolles Abendstück »Urban Wolves« im November 2019. Eine spartenübergreifende Produktion, an der neben Tänzerinnen und Tänzern auch Daniel Tille als Schauspieler und Co-Autor mitwirkte.
Shamir hat zuletzt auch mit dem inklusiven Ensemble der Tonne einen Teil des Stücks »Hierbleiben... Spuren nach Grafeneck« erarbeitet, das sich mit der systematischen Ermordung von Menschen mit Behinderung im Nationalsozialismus auseinandersetzt. Nun hat der in Israel geborene, in Berlin lebende Choreograf mit »Mr. Krake« die jüngsten Pandemie Erfahrungen in Tanz übersetzt. Bei der Premiere am Samstag war das Tonne-Foyer in der Jahnstraße einer von sechs Spielorten - die letzte Station eines auf sechs Halte angelegten Spaziergangs durch Reutlingen mit den Tänzerinnen Risa Kojima und Simona Semeraro, dem Tänzer Konstantinos Papamatthaiakis und Schauspieler Daniel Tille.
Eine assoziativ-fantasievolle Auseinandersetzung mit dem sagenumwobenen Phänomen des Riesenkraken ist das Stück geworden. Einer Kraft, die die Fähigkeit besitzt, alle in Angst und Schrecken zu versetzen und Menschen mit sich in die Tiefe zu ziehen. Tille hat dafür Texte geschrieben, die er vorträgt. Texte, die sich auf den Mythos beziehen und die spiegeln, was der Krake unserer Tage, das Virus, mit uns als Individuen und der Gesellschaft macht.
Von der ersten Begegnung mit dem Thema in Medienberichten aus China bis zur ersten direkten Betroffenheit geht da an der ersten Open-Air-Station, im Spitalhof. Kontrollierte Panik, Regeln, die gesucht werden, Entscheidungen zwischen Sicherheit und Freiheit, die getroffen werden müssen, beschäftigen das Ensemble auf dem Marktplatz, wo seine Darbietung neben den Theaterspaziergängen auch ein verwundertes, die Smartphones zückendes Zufallspublikum erreicht.
Tiefe Verunsicherung
Durch ihren eruptiven, energiegelandenen Tanz, im Ensemble und auch solo, und die erratischen Texte sorgen die Akteure für Aufsehen; durch die von Stefan Menzel/Sandrow M komponierte Musik, die Yaron Shamir aus einem Lautsprecher-Rucksack einspielt; und nicht zuletzt durch die von Sibylle Schulze gestalteten und von René Magrittes surrealen Bilderwelten inspirierten Kostüme.
Tille trägt die meiste Zeit Anzug und einen mitunter zum Spielball werdenden Bowler-Hut. Man sieht ihn teilweise mit einem schwarzen Luftballon. Das Publikum ist beim Spaziergang mit vom Theater ausgegebenen roten Schirmen unterwegs. Auch Kunst im öffentlichen Raum spielt eine Rolle (allerdings nicht in dem Maße, wie es der Flyer zu »Mr. Krake« glauben lässt). Gudrun Krügers Edelstahl-Plastik »Vogelauge« vor der Stadtbibliothek wird direkt umspielt. »Drowning« (Ertrinken) nennt Shamir diese Station. Die Furcht vor und die Sehnsucht nach Umarmung spielt hier und immer wieder in dem 75-minütigen Stück eine Rolle. Was, wenn es der Krake ist, der einem da, ohne dass man es gleich bemerkt, (zu) nahe kommt? Die tiefe Verunsicherung ist auch an den übrigen Stationen zu spüren, die Titel wie »Transparency« (Transparenz) und »Love in a Box« (Liebe in einer Box) tragen.
Die Frage, was man noch glauben kann, ist auf dem Oskar-Kalbfell-Platz Thema. Kinder, die mit ihren Eltern dort zufällig unterwegs sind, bewegen sich hier zum Rhythmus der Musik mit. Eine Parkbank bei Lothar Schalls Glasplastik »Rose« wird für das Ensemble zur beengten Wohnung, in die sich das Leben während der Pandemie zurückzieht. Man ist sich nahe, braucht und nervt einander. Ist genervt auch zunehmend von sich selbst.
Der Knoten platzt im Tonne-Foyer. Hier entsteigen die Tänzerinnen und Tänzer aufblasbaren, transparenten Kunststoff-Bällen und tasten und kämpfen sich ins normale Leben zurück. Anfangs sind ihre Bewegungen noch mechanisch, angetrieben von den gleichförmigen Beants der Musik. Dann aber erwächst daraus eine kraftvoll-archaische Form des Empowerments. Absolut beeindruckend!
Der Tanz auf dem schmelzenden Eis
von Bernhard Haage
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 14.06.2021
Tonne-Premiere − Das Tanztheaterstück »Mr. Krake« beleuchtet die psychischen und gesellschaftlichen Folgen der Pandemie.
Reutlingen. Modernes Tanztheater hat im Reutlinger Theater Tonne schon lange eine Bühne. Mit »Mr. Krake« von Yaron Shamir wandert diese Bühne nun auch noch durch die Innenstadt. Am Samstagabend hatte das vielschichtige Werk, das sich mit den Auswirkungen der Pandemie auf die menschliche Psyche auseinandersetzt, Premiere.
An sechs Stationen vom Spitalhof bis zum Theaterneubau folgt das Publikum, mit roten Schirmen bewaffnet, einer Mischung aus Soloschauspiel und energiegeladenem Tanz. Wobei jede Situation einen anderen Aspekt der bedrohlichen Situation hervorhebt.
Schleichendes Unheil
Daniel Tille mit Melone, Streifenanzug und bisweilen auch mit einem schwarzen Luftballon ausgestattet, scheint einem Kunstwerk von René Magritte entstiegen zu sein und sucht sich für seine Rezitationen auch Kunstwerke, die in Reutlingen den öffentlichen Raum bestimmen. Die Texte, die das uralte Schreckensbild einer Riesenkrake als Synonym für unheimliche Bedrohungen nutzen, reichen von Gerüchten um den Ursprung des Schreckgespenstes im weitentfernten China bis zur unmittelbaren Bedrohung, die durch das Eingesperrtsein in der eigenen Wohnung noch eine zusätzliche konkrete Facette erhält.
»So leicht gerät die Weltordnung nicht aus ihren Fugen«, ist sich der Protagonist noch sicher, als er zu Beginn erstmals an der Bedrohung schnuppert. Gleichzeitig aber beginnt ein morbider Tanz von Risa Kojima, Simona Semeraro und Konstantinos Papamatthaiakis. Die Tänzerinnen und Tänzer mit Wanderstiefeln geben dem schleichenden Unheil ein tänzerisches Gesicht.
Chaos und Willkür
An der zweiten Station auf dem Marktplatz bei Otto Herbert Hajeks Stadtzeichen geht es um Regeln, Vorkehrungen. Tanz, Ansprache und rote Regenschirme verschwimmen zu einer eigenwilligen Performance, die auch unter den Passanten für mächtig Aufmerksamkeit sorgt.
Weiter zieht die rotbeschirmte Prozession zur Stadtbibliothek und Grudrun Krügers Kunstwerk »Vogelauge«. Alles wird heruntergefahren, außer die Tänzerin Semeraro, die mit einem verzweifelten, wütenden Solo brilliert, bevor sie zusammen mit Papamatthaiakis einen nicht minder eindrucksvollen Paartanz absolviert. »Wie fühlt sich das wohl an, auf einer schmelzenden Eisfläche zu stehen?", fragt sich der Mann mit Anzug und Melone. Ist das schon der absolute Kontrollverlust?
Nicht weit entfernt von Anton Geiselharts »Sgrafitto« brechen sich Chaos und Willkür auf dem belebten Platz vor dem Tübinger Tor ihre Bahn. Sehr nett allerdings, dass einige spielende Kinder die Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer nachahmen und zur durchaus tanzbaren Musik von Stefan Menzel und Sandrow M - als das genaue Gegenteil von Chaos und Willkür - ihre tänzerische Begabung ausprobieren.
Die Wohnung ist eine Burg
Einen viel konkreteren Aspekt der Auswirkungen von Isolierung und sozialer Distanz zeigt anschließend die fünfte Station neben Lothar Schalls »Rose« im Park vor dem Tonneneubau. Die Choreografie auf einer Parkbank ist eine grandiose Idee von Yaron Shamir. »Unsere Wohnung ist nun eine Burg«, verkündet Tille, weiß aber fast im selben Atemzug: »Die meisten tödlichen Unfälle geschehen in den eigenen vier Wänden.« Das Paradoxon von erzwungener Nähe bei gleichzeitig verordneter Distanz wird eindrücklich in Szene gesetzt.
Tänzer stecken in Luftblasen
Kein Wunder, dass beim Finale im Theaterfoyer vor Hap Grieshabers »Fest« alle Tänzerinnen und Tänzer in Luftblasen stecken. Plötzlich ohne Wanderschuhe und beinahe nackt wird der Begriff Freiheit thematisiert. Wie geht es weiter? Sind wir nach der Pandemie wieder frei? Und was bedeutet Freiheit überhaupt für uns? Auch der Schauspieler steigt nun aus seinem Anzug. Und mit einem kraftvollen rhythmisch getriebenen Tanz endet ein außergewöhnliches Tanztheaterstück, das viele wichtige Fragen stellt und mit hervorragenden Tänzerinnen und Tänzern auch ästhetisch zu überzeugen weiß.