DIE SCHÖNEN DER NACHT
von Armin Knauer
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 28.04.2012
In ihrer skurrilen Musik- Revue »Nacht- Klub« nehmen Michael Schneider und Jan Paul Werge das Treiben in erotischen Etablissements auf die Schippe
REUTLINGEN. Eintauchen ins Nachtleben, das heißt eintauchen in eine Welt, in der alles Schein und Schein alles ist. Was für eine Vorlage für die Bühnenwelt, die ja ebenfalls dem »Als ob« frönt! Michael Schneider und Jan Paul Werge haben sich dieser Parallele angenommen und die Scheinwelt der Nachtbars, Gogo- Girls und Stripperinnen in die Scheinwelt des Theaters geholt. Mit einer Musik-Revue, die die Tonne im Spitalhof in ein sündiges Etablissement verwandelt.
Vorbei an einer Kartenverkäuferin mit Plastik-Diadem geht es in rot ausgeleuchtete Gänge, in denen Michael Schneider als Zuhälterverschnitt den Eingang bewacht. Im Theatercafé flimmert es animalisch über den Videoschirm. »Hallo, ich bin Gloria!«, haucht die Bardame, und ah, dort ist auch schon das Séparée samt Liege und Sexspielzeug.
Vorerst bleibt es unbenutzt, denn der Weg führt ins höhlendunkle Gewölbe. Aha, hier wartet also die Sünde? Oh nein, hier wartete Michael Schneider, aus dem nach lasziver Entblätterung ein erotischer Cowboy mit Gitarre wird. Begleitet von Jan Paul Werge, der nun Susi heißt und ein tussiges Girl in Blondperücke ist.
Der Westernheld schwört ihr Liebe, er fühlt sich genervt, er stößt sie rüde zu Boden, und dann setzt er sich auf den Barhocker und singt: »Du, lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit.« Den alten Wolf-Biermann-Song über die Würde des Menschen, während Susi sich gedemütigt zum Keyboard schleppt und mit tränenersticktem Sopran »Somewhere« aus der Westside-Story schluchzt.
DRAMEN, VERWANDLUNGEN
Weitere Minidramen, weitere Verwandlungen auf offener Bühne. Michael Schneider wird zu Club-Chefin, die raue Barsongs grölt und ihre Mädels wie Perserteppiche anpreist. Wird zum geheimnisvollen »Baron«, der sich von Lady Flore (Werge) verwöhnen lässt. Werge wird zum »sibirischen Tiger« Helena, »zeig dein Zahnfleisch!«, ruft Schneider, und Werge/Helena bleckt die Lefzen.
Alles ist Verkleidung, alles Scharade, selbst die Musik ein durchgedrehtes Vexierspiel. Korkenzieherklirren und Kettenrasseln, Herzpochen, laszives Stöhnen mischen sich per Tonschleife zu schwülem Klangwabern. Werge und Schneider eilen von Schlagzeug zu Geige zu Melodica zu Akkordeon zu Gitarre. Dann vierstimmige Gesänge, Schubert, Bach, auch das per Tonschleifen-Gerät übereinander, ein echtes Kunststück, dass das klappt. Gesänge, die sündig und unschuldig zugleich klingen, Musik, die sich verkleidet und gleichzeitig die Kostüm-Exzesse der Darsteller untermalt.
Die ziehen ihre bizarren Scharaden so ungerührt durch, dass man unweigerlich hineingezogen wird in diese ins Absurde driftende Rotlicht-Szenerie. Immer läuft da ein Hauch Selbstironie mit, da wird von Moderationskärtchen abgelesen, da springen die beiden aus den Rollen und wieder zurück. Und doch lässt man sich die Sinne vernebeln, lässt sich was vorgaukeln, lässt sich einwickeln von den bizarren Rollenspielen.
Und wie im echten Nightlife ist es auch in diesem theatralisch gemogelten schade, dass am Ende der wilden Clubnacht unweigerlich ein Morgen graut. Doch ehe der schwarze Kaffee die schwülen Fantasien verjagt, steigert sich alles noch einmal zu einem wahrhaft orgiastischen Höhepunkt. Das ist man dem Thema schließlich schuldig.
METAMORPHOSEN DES NACHTLEBENS
von Moritz Siebert
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 28.04.2012
Premiere in der Reutlinger Tonne: Erst einmal frühstücken
REUTLINGEN. Um 21.30 Uhr beginnt das Nachtleben im Club Desire. Der Sänger Timothy Baker (Michael Schneider) hat die undankbare Aufgabe, den Anfang zu machen.
Zum Titel »Dreamer’s Ball« von Queen stößt Susi (Jan Paul Werge), eine kindliche Frau mit furchtbar dämlichem Lachen, dazu: »Warum kommt eigentlich Keiner zu unseren Konzerten«, fragt sie. Das Nachtleben beginnt halt erst um 21.30 Uhr.
Die gesamte Spielstätte im Spitalhof ist in einen Nachtklub verwandelt. Die Bühne selbst, auf der das Nachtleben vom späten Abend bis in den frühen Morgen in eineinhalb Stunden nachgespielt wird, allerdings weniger: Mit Requisitenchaos, Unmengen an Kostümen und Musikinstrumenten gleicht sie eher einer Werkstatt für Experimentiertheater. Und so kommt das Stück auch daher: spontan, episodenhaft, ohne stringente Handlung und mit einer irrwitzigen Steigerung an Kuriosität. Also eigentlich genau so, wie es sich für eine rauschende Nacht im Club gehört.
Um 23.30 Uhr zeigt sich zum ersten Mal die Hausherrin, Madame du Pain (Schneider), selbst, um die nun schnullerlutschende Susi auf ihrem Schoß mit einem Märchen zu trösten. Der Klub-Gast (in diesem Fall der reale Zuschauer) fragt sich, ob das für diese Uhrzeit nicht schon etwas zu absurd ist. Tatsächlich beginnt das Nachtleben aber jetzt erst richtig. Um Mitternacht folgt ein erstes musikalisches Highlight mit Violine, Melodica, Gitarre und Loop-Gerät, mit dessen Hilfe Werge und Schneider wenig später Schuberts »der Entfernten« anstimmen.
Währenddessen verwandeln die beiden sich in Lady Flore (Werge), eine Gestalt, wie man sie eher in einem Tim-Burton-Film vermuten würde, und in deren Kunden, den Baron (Schneider), den sie nach zwei Stunden »weich und glücklich« gemacht hat. Er stimmt eine Schostakowitsch-Nocturne auf der Violine an und Lady Flore versucht nach dem Mond zu greifen. Der Bezug zur Realität geht verloren. Der Rausch erreicht seinen Höhepunkt.
Da Werge und Schneider nicht nur schauspielerisch in diesem Stück mitwirken, sondern auch das Konzept entwickelten, die Musik zusammenstellten und Regie führten, kann man ihnen natürlich vorwerfen, sie hätten die Rollen auf ihre individuellen musikalischen und schauspielerischen Fähigkeiten zugeschnitten. Das haben sie nämlich zweifellos getan.
Da aber beide jeweils fünf Figuren spielen und mindestens drei Musikinstrumente übernehmen, muss man dann aber auch berücksichtigen, dass dafür ziemlich viele Fähigkeiten notwendig sind. Das zeigt auch die folgende Verwandlung in die Stripperin Helena (Werge) und in einen schmierigem Kerl (Schneider), der ihren Auftritt moderiert: »Ja, das macht Spaß, das gefällt«, kommentiert dieser unentwegt. Dem (in diesem Fall sowohl realen als auch fiktiven) Publikum gefällt das allerdings überhaupt nicht. Mit seinem Desinteresse an Interaktion macht es Werges Auftritt als Helena aber nur noch besser.
Das Höchstmaß an Absurdität erreichen Werge und Schneider, wenn sie zwischen Latenight-Special und Orgie im Saunaklub »wie wunderbarlich ist doch diese Strafe« aus Bachs Matthäus-Passion anstimmen. Das ist einer dieser Momente, in dem das Stück nach Moralischem und Zeichenhaftem fragt, indem es die bitteren Hintergründe eines schmuddeligen Milieus aus Gewalt, Rausch und Unterdrückung ans Licht zerrt: Schwere Kost für ein eigentlich komödiantisch aufgezogenes Stück.
Um sechs Uhr in der Früh beginnt die Kaffeemaschine zu brodeln. Das ist der Zeitpunkt, an dem man sich überlegen muss, ob es sich überhaupt noch lohnt, ins Bett zu gehen. Erst einmal frühstücken ist in jedem Fall nicht verkehrt.