DER TANZ MIT DEN ZAHLEN
von Monique Cantré
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 12.05.2012
REUTLINGEN. »Pi oder Was die Welt im Innersten zusammenhält« - philosophischer, faustischer Forscherdrang suggeriert der Titel der neuen Tonne-Produktion mit der Theatergruppe Baff.
Diese Erwartung wird dann aber originell ad absurdum geführt: Die Mathematik-Kapazität Miss Fox (Dunja Fuchs) antwortet auf die Frage »Wie stehen Sie zur Quadratur des Kreises?« kurz und knapp: »Es gibt nur Vierecke«. Unter uns leben eben Menschen, die ihre Welt mit unkonventioneller Logik erfassen! Und ein Dutzend dieser Menschen zeigt in den besten Momenten von Enrico Urbaneks Stück, wie der Kosmos der Zahlen die Spielfreude befeuert. Bei der Premiere am Donnerstagabend gab es in der ausverkauften Planie 22 stürmischen Applaus dafür.
Erneut hat die Zusammenarbeit von Tonne, Baff und der Fakultät für Sonderpädagogik der PH Ludwigsburg/Reutlingen zu einem sehenswerten Bühnenerlebnis geführt. In diesem Jahr noch verstärkt dadurch, dass ein Teil der behinderten Darsteller seit einiger Zeit an der Tonne eine Schauspielausbildung erhält, die sich in selbstsicherem Auftreten und Sprechen und ganz besonders in körperlicher Geschmeidigkeit auszahlt. Ein begnadeter Tänzer vor dem Herrn war indes schon immer Bahattin Güngör, der auch im Zeichen von Pi wieder zum Publikumsliebling wurde.
MUSIK VON MICHAEL SCHNEIDER
Das Pi tragen sämtliche Darsteller auf der Brust. Ausstatterin Ilona Lenk hat es auf ihre bunten Kapuzenpullis appliziert. Auf den Pullover-Rücken schlängelt sich durch viele Zeilen die endlose Pi-Zahlenfolge: 3,14159265... und so weiter und so weiter. Ilona Lenks Fußboden zitiert Piet Mondrians konstruktivistische Kunst, auf deren Geometrie zu Beginn weiße Stühle verteilt sind, die nach und nach besetzt werden. Wie schon in früheren Inszenierungen hält Michael Schneider, der Musik-Allrounder und Schauspieler, als Dirigent der Aufführung die Fäden in der Hand.
Zu flirrenden, nervenzerrenden Geigentönen liest er einen ziemlich langen, ziemlich theoretischen Text über die moderne Geldwirtschaft vor, über Börsen und Fonds, Unternehmensphilosophie und »den perfekten Algorithmus«. Inmitten der Bühne bewegt dazu Gabriele Wermeling synchron die Lippen, während sich die Bühne langsam füllt. Die »Firmenmitarbeiter« werden nach diesem zähen Einstieg einzeln interviewt, einige singen, einige schütteln ihre Stühle. Die Musik gibt diversen Trios ein Raster für chorische Darbietungen.
DICHT UND SINNLICH
Während man als Zuschauer noch rätselt, was Enrico Urbanek mit seinem Stück mitteilen will, wird ein Flipchart hereingetragen, und ein Spieler nach dem anderen schreibt eine Zahl darauf. Als würden sie sich damit freispielen, wird die Aufführung jetzt dicht und sinnlich. »Du musst verstehen«, raunen sie sich wie eine Drohung zu. Und sie zeigen, wie man sich ohne höhere Mathematik der Lebensfreude hingeben kann. Zahlen sind auch zum Spielen da. Oder fürs Hexen-Einmaleins.
Als Miss Fox sagt, zur Berechnung der Weltformel fehle ihr das Pi, versuchen sich die Mitspieler an einem Pi-Rap, mit Wörtern, die mit Pi beginnen. Eli Alici beginnt minimalistisch zu tanzen, um dann immer leidenschaftlicher den Rhythmus zu erfühlen. Schließlich singt sie türkisch, was Bahattin Güngör sofort in Beine und Hüften geht. Zu einer wundervollen Liebesszene verknüpft Urbanek Walter Rebstocks Zahlen-Lesung mit Dunja Fuchs' Wünschen, die Chrysi Taoussanis sehnsuchtsvoll aus dem Off mitteilt. Unter die Haut geht, wie Franziska Schiller aus dem Rollstuhl gekippt wird und an diesem Experiment zum selbstständigen Gehen stirbt.
Am Ende wird die Weltenformel überreicht: Es ist das Blatt vom Flipchart mit den Zahlen eins bis zehn.
WAS KOSTET DIE WELT
von Matthias Reichert
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 12.05.2012
Menschen mit Handicap suchen kosmische Konstanten
REUTLINGEN. »PI oder Was die Welt im Innersten zusammenhält«, heißt die neueste Tonne-Produktion von und mit Menschen mit Handicap. Bei der Premiere am Donnerstag in der Planie 22 gab es Ovationen für die zwölf Akteurinnen und Akteure. Die Rahmenhandlung spielt in einer Firma, die ihren Aktienhandel vollständig auf Computer umgestellt hat.
»PI oder Was die Welt im Innersten zusammenhält« hatte gefeierte Premiere in der Planie... »PI oder Was die Welt im Innersten zusammenhält« hatte gefeierte Premiere in der Planie 22.
Der musikalische Leiter Michael Schneider verliest eine Selbst-Beschreibung des Unternehmens. «Unsere Algorithmen sind gerade bei Panik erfolgreich.« Dazu eine Suada über die Gefahren des digitalen Zeitalters: »Jeder Gedanke wird noch tausend Jahre verfügbar sein. Wir hinterlassen eine digitalisierte Spur wie Schnecken ihre Schleimspur.«
Damit hat es sich freilich zunächst mit der Kapitalismus-Kritik. Sprecherin Chrysi Taoussanis stellt aus dem Off die Mitglieder der Firmen-Crew vor. Ein Beispiel: »Mrs. Stevens findet die Nadel im Heuhaufen.« Die Akteure singen und bewegen sich. Es geht um den Traum einer Wissenschaftlerin, die nach der Weltformel forscht, um alle Zusammenhänge des Universums zu enträtseln.
Das Bühnenbild von Ilona Lenk ist den geometrischen Strukturen des Malers Piet Mondrians nachempfunden, farbige Quadrate und schwarz-weiße Rechtecke teilen Spiel-Räume ab. Darstellerin Dunja Fuchs kauert eingangs im Vordergrund über ihrer PC-Tastatur, dann lässt sie die Finger über die Tasten sausen. Schneider zupft die Geige dazu. »Ja, ja, ja« – »ach so, richtig« – »falsch«, rufen sie in drei Chor-Blöcken. Immer schneller, begleitet von Schlagzeuger Cornelius Hoffmann-Kuhnt. Das Sprechtraining an den sieben künstlerischen Arbeitsplätzen für Menschen mit Handicap hat Früchte getragen.
Die Geige schluchzt, Taoussanis singt wehmütig. Die Akteure zählen laut, schreiben Ziffern auf eine Tafel. Sie stellen die unendliche Kreiszahl Pi als Tanzperformance dar. 51 Milliarden Dezimalstellen sind erforscht, 20 Jahre würde es dauern, alle vorzutragen, heißt es. Pi zu ergründen sei wie die Erforschung des Universums. Kunstnebel wabert.
Regisseur Enrico Urbanek gibt den jeweiligen Stärken der Akteure viel Raum. Das Ensemble zitiert hinter beleuchteten Leinwänden im infernalischen Chor das Hexeneinmaleins aus Goethes Faust, die Schatten der Mimen werden kleiner und größer. Schneider interviewt die Mathematikerin: Gibt es unendlich viele Primzahl-Zwillinge? »Da gibt es nur zwei« – Fuchs hat auf jede Frage eine lakonische Antwort.
Es folgen im Rezitations-Staccato Assoziationen zur Kreiszahl: Pichelsteiner, Pillen, Pinkelpause, Pizza. Dann schwungvolle Gesangs-Soli (Elif Alici mit eigenem Lied in ihrer türkischen Muttersprache), Bahattin Güngör tanzt dazu, bis in die Fingerspitzen motiviert. Expressive Gesten. Walter Rebstock verliest ein Zahlengedicht von Gerhard Rühm von einer Papierrolle, während hinter den Kulissen die Schatten promenieren. Fuchs schmachtet im Vordergrund, Sprecherin Taoussanis gibt der Liebeserklärung Worte: »Wollen wir beide sein wie Primzahlen?«
Rollstuhlfahrerin Franziska Schiller mimt bei einem Menschen-Experiment souverän den plötzlichen Exitus. Gabriele Wermeling verliest mit klarer Aussprache ein selbstgeschriebenes börsenkritisches Gedicht: »Was kostet schon die Welt?«
Sie schlagen mit Schuhen auf Rohre, von der Geige begleitet. Schiller dirigiert. Währenddessen hat sich Karin Dürr seitlich an die Tafel mit Zahlen gesetzt – und präsentiert am Ende die fertige Weltformel. Es wird dunkel. Fuchs tanzt mit einem illuminierten Globus, die anderen schwenken fluoreszierende Gießkannen, Blütenkelche und einen Rettungsring. Was die Welt zusammenhält: Hier ist es ein starkes Ensemble.