Jäger des Weingeists

von Armin Knauer

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 15.1.2024

 

Theater – Er benebelt, beflügelt, zerstört: der Alkohol. Im Spitalhofkeller spürt ihm das inklusive Tonne-Ensemble nach

 

REUTLINGEN. Es ist anders also sonst bei einer Theaterpremiere am Samstagabend im Spitalhofkeller. Das Gewölbe ist leer, keine Stühle fürs Publikum, und dort, wo man die Bühne vermuten würde, keine Kulissen oder Requisiten. Nur ein kleines Schränkchen mit ein paar Flaschen und Gläsern drauf.

 

So steht man mit seinem Glas Wein oder seinem Fläschchen Bier herum und plaudert, als wäre man auf einer Kellerparty. Was die Düsseldorferin Annette Müller als Texterin und Regisseurin auch genau so intendiert hat. Denn ums Trinken geht es, um das alkoholhaltige, und wie es sich durch unsere Geschichte und Gegenwart zieht.

 

Zeitreisende aus der Zukunft

 

Eine Zeitreisegruppe aus einer abstinenten Zukunft ist es, die sich Eindrücke davon verschaffen will, wie sich die  Altvorderen zusoffen. Plötzlich ist sie da, Reiseleiter Michael Schneider schlägt gleich den jovialen Ton eines  Kaffeefahrt-Animateurs an. An seinem Hals baumelt ein kleiner Kassettenrekorder, aus dem muntere Musik dudelt.

 

Die vier Zeitreise-Touristen, die er mitgebracht hat, sind erst starr, fast wie Puppen. Was noch gesteigert wird durch Perücken und Klamotten wie aus dem Karnevalsfundus (Kostüme und Bühne ebenfalls Annette Müller). Doch nach und nach undwomöglich unter dem Eindruck der prozentigen Getränke, die der Conférencier ausgeteilt hat, tauen sie auf, erwachen zu erstaunlichem Leben.

 

Gedenken trinkender Künstler

 

Ein Stuhlkreis wird gebildet, man huldigt verblichenen Künstlern, die gleichzeitig große Trinker waren: François Villon, Edith Piaf, Francis Bacon, Rio Reiser. Man trinkt, man tanzt, man singt: Schneider zuweilen mit der Geige, Justine Rockstroh mit der Gitarre. Roswitha John und Santiago Österle rezitieren, Bahattir Güngör wirft sich in wunderliche Bewegungen. Joseph Roth, der große Dichter, der besoffen ins Grab eines verstorbenen Kollegen stolperte, widmet Justine Rockstroh eine ergreifende Folk-Ballade. Der trinkfeste irische Romancier Flann O’Brien bekommt ein handfestes Pub-Lied mit Jäger des Weingeists Schneider als aufgekratztem Folk-Fiddler. Techno-Klänge erfüllen den Raum, Gedichtewerden rezitiert, Fakten über die Prohibition referiert. Sind wir in einer Disco oder einem Geschichts-Seminar gelandet? Irgendwas dazwischen.

 

In Line-Dance-Formation marschieren sie als protestierende Arbeiterklasse. Sie huldigen in pompösen Gewändern dem Mond, Goethe und Baudelaire, formieren sich zur Prozession in Anbetung des Weingeists. Dessen fatale Auswirkungen Justine Rockstroh in eine schmerzliche Sturz-Performance packt.

 

Zwischendurch weht ein akustischer Sturmwind das Disco-Pulsieren hinweg: Michael Lohmann hat die Soundcollage geschaffen, in der die Zeitreisegruppe sich bewegt. Zuweilen tropft es akustisch von den Kellerwänden.

 

Das alles formt sich zu einer Art Revue, in der Tanz, Gesang und Rezitation ineinander übergehen, zuweilen ins Surreale driften, in mal hellen, mal nächtlichen Lichtstimmungen. Vielleicht wäre es konsequenter gewesen, wenn das Publikum für die Zeitreisenden nicht unsichtbar gewesen wäre. Wenn man noch stärker mitten im Publikum gespielt hätte als in der etwas statischen Arena des Stuhlkreises.

 

Dichte Atmosphäre

 

Davon abgesehen ist es eine Kulturgeschichtsreise voll dichter Atmosphäre und starken Momenten. Einmal aufgetaut verschmelzen die Zeitreisenden immer intensiver mit den Persönlichkeiten, denen sie nachspüren. Michael Schneider ist ein anfangs herrlich halbseidener Reiseführer, der immer flammender im Thema aufgeht. Bahattin Güngör entfaltet auf hinreißende Weise sein einzigartiges Bewegungstalent.

 

Justine Rockstroh erweist sich als schlangengleiche Tanzkünstlerin und anrührende Chanson-Interpretin. Santiago Österle glänzt als Beatboxer und skandiert aus seinem Rollstuhl heraus wie ein charismatischer Revolutionär. Und  Roswitha John rezitiert die Dichter auf Deutsch und Französisch mit Würde und Präzision.

 

So erlebt man in rund 75 pausenlosen Minuten einen Abend, der witzig ist, launig, poetisch, auch mal ein bisschen tragisch oder aufrührerisch. Und ja, auch ein bisschen berauschend. (GEA)

 

 

Cheers, Prost und chin-chin

von Justine Konradt

SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 15.1.2024

 

Premiere – Rund ums Thema Alkohol: Annette Müllers »Rausch« hatte am Samstagabend im Reutlinger Tonnekeller Premiere.

 

»Manchmal stiftet sie Frieden, manchmal Streit. Sie lässt uns singen oder einschlafen. Für manche ist sie ein Prüfstand der Selbstdisziplin, für andere eine Quelle der Poesie. Sie ist eine Seuche und todbringend.« Wovon ist die Rede? Von Trunkenheit. Das inklusive Ensemble des Reutlinger Tonne-Theaters begibt sich mit seinem neuesten Stück mitten hinein in den »Rausch«. Einer poetischen Collage gleich werden »alkoholische« Schlaglichter geworfen und Grenzbereiche zwischen Realität und Vision erkundet. Es wird gesungen, getanzt und natürlich: getrunken.

 

»Guten Abend. Schön, dass Sie da sind«, Schauspieler Michael Schneider betritt den Gewölbekeller des Spitalhofs. Er begrüßt die vierköpfige Reisegruppe, die sich vor ihm aufgestellt hat, und gibt einen Aperitif aus. Wo kommt die Truppe her, wo will sie eigentlich hin? Antworten auf diese Fragen wird man nicht bekommen. Die Grenzen von Rollen, Charakteren und Narrativen werden aufgebrochen und verschwimmen, bis ihre Konturen nicht mehr zu erkennen sind. Michael Schneider übernimmt an diesem Abend die Aufgabe des Moderators, des Event-Managers, vielleicht auch die des Therapeuten. An erster Stelle ist er aber ein exzentrischer Reiseleiter, der seine Gruppe durch den Gewölbekeller führt. Im Gepäck hat er verschiedene Theorien zur historischen Funktion und Nutzung des Raumes. Obendrauf gibt es gemächliche Aufzugsmusik aus dem Kassettenrekorder, der ihm um den Hals baumelt.

 

Für einen nächsten Drink setzen sich alle fünf in einen großen Stuhlkreis. Was sie dort tun? Derer gedenken, die sich auch gerne betranken, vielleicht sogar am Alkohol starben. Jeder Teilnehmer nennt einen Namen, ein Schicksal und setzt ihm mit unterschiedlichen künstlerischen Mitteln ein Denkmal. So werden unter anderem Charles Baudelaire, Joseph Roth und Francis Bacon genannt. Für Jackson Pollock wird eine Konfettikanone gezündet, für Flann O’Brien wird ein irisches Lied mit Gitarre und Violine gespielt. Der Eindruck eines gruppentherapeutischen Treffens passt gut ins Bild, Stichwort Anonyme Alkoholiker.

 

Nicht nur die Beziehung von Rausch zu Kunst und Kultur wird bearbeitet, auch sozial- und gesellschaftspolitisch werden einige Themen angeschnitten, wenn auch nicht wirklich vertieft. Mal geht es um die Geschichte von Absinth, dann um geschlechterspezifisches Trinken im 19. Jahrhundert. Sehr unterhaltsam ist die Stelle, an der Schauspielerin Roswitha John als Pfarrerin in goldener Kutte den Einzug in die Kirche imitiert und währenddessen, gefolgt von der restlichen Bagage, dem guten Tropfen Wein huldigt.

 

Obwohl das Stück auf ein ausformuliertes Bühnenbild verzichtet und auch die Wahl der Requisiten minimalistisch gehalten ist, gefällt es durch seine Vielseitigkeit. Nicht nur inhaltlich, ganz besonders auch, was die verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen betrifft. Als »performativer Theaterabend« beworben, kann er halten, was er verspricht. Denn es sind gar nicht unbedingt die Textbausteine, die in Erinnerung bleiben, sondern vielmehr die Tanzperformance von Bahattin Güngör, die Beatbox-Einlage von Santiago Österle oder auch die tolle Stimme von Justine Rockstroh, die einen mit ihrem Gesang immer wieder in den Bann zieht. Dazu die wechselnde Beleuchtung, die elektronischen Klänge aus den Boxen, die den ganzen Keller zum Beben bringen, und der Rauch, der ab und an verteilt wird, machen den Abend zu einem synästhetischen Erlebnis.

 

Es gibt zwei Besonderheiten, die zu der Schönheit des Stücks beitragen. Das eine ist der Aspekt des gemischten, inklusiven Theaters: Aus jedem Schauspieler und jeder Schauspielerin werden die Stärken herausgearbeitet,  unabhängig von ihren Einschränkungen. Die andere Komponente, die den Theaterabend von vielen anderen abhebt, ist, dass es keine Stühle gibt. An den Wänden des Gewölbekellers sind zwar ein paar Bänke angebracht, sie reichen aber längst nicht für alle. Und so ist das Publikum dazu angehalten, sich mit den Schauspielern im Raum zu bewegen oder sich einen Sitzplatz auf dem Boden zu suchen. Dadurch entsteht eine ganz besondere Form des Miteinanders und die Zuschauer werden Teil der Inszenierung. Es ist das, was das Stück so einzigartig macht.

 

Unterm Strich

 

Eine vielseitige, unterhaltsame und experimentelle Theaterperformance rund ums Thema Alkohol und Rausch.

 

 

Tonne – im »Rausch«

von Martin Bernklau

CUL-TU-RE.DE, 22.10.2023

 

Bühne – Im Reutlinger Tonnekeller widmet sich Annette Müller dem Trunk und seiner reichen Kulturgeschichte

 

REUTLINGEN. Das Tonnegewölbe ist in rotes Licht getaucht, die Farbe von Liebe, Leidenschaft und Exzess. Die grüne Lichterkette umschlingt ein hölzernes Grabkreuz: Als Joseph Roth, der große österreichische Erzähler, seinem Freund Ödön von Horvath in Paris die Totenrede hielt, fiel er ins offene Grab – sturztrunken. Das ist eine von den Geschichten, die Annette Müllers »Rausch« erzählt, eine Revue, eine Performance über den König, nein den Gott und Abgott Alkohol, die am Samstagabend ihre gut besuchte Premiere hatte.

 

Das Publikum darf sich frei im fast leeren Raum lümmeln. Am Rand eine kleine Cocktail-Bar. Einlass gebe es nur mit einem Drink in der Hand, wurde geflachst. Den Rahmen gibt die fiktive fünfköpfige Reisegruppe (aus einer fernen, alkoholfreien Zukunft) des inklusiven Tonne-Ensembles, der Michael Schneider, ein Mephisto-Cicerone, erst mal die Örtlichkeit erklärt: Auerbachs trunkseliger Keller, Nachtclub womöglich sogar zeitweise, wer weiß; Weinkeller sicherlich und jedenfalls ein geschützter, untergründiger Raum, in dem lange Theaternächte stiegen, samt verrauchten, verruchten und versoffenen Aftershow-Partys vielleicht. Kult und Kultur. »Und hier, für Sie, von mir, ein Bier«, reimt der Führer und fordert zum Anstoßen auf.

 

Die Rausch-Reise beginnt bei Baudelaire: »Berauscht euch ohne Ende, mit Wein, mit Poesie oder mit Tugend, womit ihr wollt!«, dichtet der Pariser Vielfach-Süchtel in seinen »Blumen des Bösen« und lädt in künstliche Paradiese. François Villon, Rimbauds »Trunkenes Schiff« – und wie sie alle heißen. Eine Tour d’horizon durch die abendländische Kultur, von harten Beats und sanften Songs unterlegt, hat Regisseurin Annette Müller da zusammengestellt und mit Dramaturg Michael op den Platz allerhand originelle Quellen ausgegraben. Und schnell wird klar: Die Ruhmeshalle wäre erschreckend leer ohne all die Alkoholiker.

 

Da ist sind die Maler Jackson Pollock und Francis Bacon, da ist der irische Romancier Flann O’Brien, von James Joyce und Dylan Thomas nicht zu reden. Da ist aber auch ein Rio Reiser, an dessen Grabkreuz ehrerbietig ein Eimer mit Ton, Steinen, Scherben ausgekippt wird. Neben dem Paris der Belle Époche und seinem Absinth, der »grünen Fee«, setzt Annette Müller einen zweiten historischen Akzent. Eine Männergesellschaft sei dieser weltumspannende Trinker-Club gewesen, findet sie. Erst die amerikanische Prohibition (»Die Frauen hatten nichts gegen Alkohol, sondern gegen trinkende Männer«) habe den paradoxen Effekt gehabt, dass in den illegalen Bars auch die Frauen das Cocktail-Glas heben durften.

 

Ein paar witzige Einfälle ergänzen das Bild. Bekanntlich berauscht ja auch Askese. In Priestergewändern wird sie gefeiert: Roswitha John zelebriert das Fastenbrechen mit Veuve Cliquot und erreicht mit dem edlen Champagner ungeahnte, aber lebensgefährliche Rauschtiefen. Zu ohrenbetäubendem Dröhnen verliert sich die Truppe im Exzess des Totalausfalls. Sie choreografiert aber auch das prickelnd Belebende, das dem Gift innewohnt. Und das geradezu fromm anmutende Ritual zu den Klängen eines Madrigals oder von Mahlers Adagietto, die wieder in harte Rave-Beats übergehen.

 

Bahattin Güngör tragt die Bücher bei, die dem Trunk zu verdanken sind und stellt sie vor. Vom Rollstuhl aus rezitiert Santiago Österle Texte, die den tieferen seelischen Gründen der Sehnsucht nach dem Rausch näherzukommen versuchen. Justine Rockstroh, der zur Gitarre ein großer Teil der musikalischen Untermalung obliegt (Michael Schneider greift auch mal zur Geige), begleitet das mit einer endlosen Folge von Abstürzen, akrobatisch-schmerzhaften Stürzen. Den Epilog liefert wie das Vorspiel wieder Michael Schneider. Nicht nur ein König sei der Alkohol, sondern »letztlich ein Gott – ich erhebe mein Glas!«.

 

Die ganze Performance ist nicht nur durchgängig unterhaltsam, voll von szenisch starken Bildern und (Licht-)Effekten, sondern auch informativ und lehrreich – ohne belehrend zu sein. Kein pädagogischer Zeigefinger, vor Missbrauch wird nicht ausdrücklich gewarnt. Und die federleichte Selbstverständlichkeit, mit der die inklusive Truppe ohne jede gutmenschliche Bemühtheit auf dem Theaterboden des Tonnekellers agiert, muss auch wieder einmal gelobt werden.

 

Langer, langer Beifall war der Mimen Lohn.

 

 

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