Mülltonnenblues an der Bushaltestelle
von Matthias Reichert
SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 23.10.2021
Uraufführung: Die Reutlinger Tonne inszeniert das Thema Respekt in sechs szenischen Facetten diverser Autorinnen und Autoren – und landet damit einen Theatercoup.
Das Stück zur aktuellen Identitätsdebatte, angesiedelt zwischen Mülltonnen an einer Bushaltestelle »Under Construction« mit durchsichtigen Planen als Kulisse (Bühne: Sibylle Schulze). In sechs kurzen Szenen nähert sich das Tonne-Theater dem Thema »Respekt« an – fluchend, polternd, singend, klingend und pfeifend. »Inklusion – scheiße«, schimpfen Mitglieder des inklusiven Theaterensembles eingangs. Und hämmern Beats auf leeren Mülleimern.
Chrysi Taoussanis spielt zunächst eine Mutter, deren Mann das Kind betreuen und sieben Monate in Elternzeit gehen will, in einer Szene von Marion Schneider-Bast. Die Kommentare der Kannten und Passanten an der Haltestelle spiegeln die fehlende gesellschaftliche Anerkennung: »Ab nach Hause, bevor das Chaos ausbricht und die Windel überquillt«, empfiehlt Thomas B. Hoffmann als radelnder Kleingeist.
Reime im Rollstuhl
Santiago Österle stimmt einen Rollstuhlfahrer-Rap von Helge Thun an und seziert gesellschaftliche Vorurteile gegen Menschen mit Handicaps: »Ihr sitzt hier, weil ihr es wollt – ich sitz hier, weil ich muss.« Zuletzt steigt Österle vom Rollstuhl und robbt hinter die Kulissen, weil er pinkeln muss: »Ich dachte, jemand hilft mir«, klagt er das Publikum an.
Alle Szenen haben überraschende Pointen. Etwa die von Hoffmann über einen Mann, der mit Tabletten, Strick, Rasiermesser Suizid begehen will und sich von einem Yuppie-Passanten (Daniel Tille) dabei filmen lässt. Dieser schimpft auf Unternehmen und die Naldo-App, macht aber bereitwillig mit, ohne auf den vermeintlich Hilfebedürftigen einzugehen. Doch der hat in Wirklichkeit etwas ganz anderes im Sinn.
Die Dialoge sind streckenweise zum Schreien komisch. Doch oft bleibt das Lachen im Hals stecken. Barbara Herold verpackt das Ensemble in Mülltüten im blauen Einheitslook. Nur einer trägt eine orangefarbene Joppe und wird nach Herzenslust diskriminiert: »Ein Inländer ist das nicht«, hetzt Volkes vermeintliche Stimme. Endlich meldet sich der Mann in Orange selbst zu Wort: »I komm aus Kuschterdinga.« Karin Eppler hat eine Anbaggerszene beim Warten auf Buslinie eins geschrieben. Zwischen Tille und Taoussanis sprühen die Funken – aber auch in dieser Sequenz ist nichts, wie es scheint.
Verbindendes Element zwischen den Szenen in der Inszenierung von Tonne-Intendant Enrico Urbanek ist Michael Schneider als Bettler, der unterm Kontrabass pennt, die Mitspielenden anschnorrt, als musikalischer Leiter multiinstrumental den Takt vorgibt, den Chor der Müllabfuhr aus dem inklusiven Ensemble dirigiert und zwischendurch mit dem Ensemble einen Choral von Monteverdi oder einen elegischen Chorsatz der britischen Renaissance anstimmt. Plötzlich quäken die Handys der Akteurinnen und Akteure los, bald telefonieren sie in unterschiedlichen Sprachen. Die Handys landen schließlich im Müll – und brabbeln in voller Lautstärke weiter, bis jemand »Ruhe« brüllt. Geht es auch ohne?
Das stärkste Stück folgt am Ende. David Liske spielt einen Exhibitionisten, der eine junge Frau an der Bushaltestelle bedrängt, sich als ihr vermeintlicher Beschützer geriert, um schließlich im nächtlichen Kunstnebel unterm Trenchcoat ein Fetisch-Outfit mit nacktem Hintern zu präsentieren und sich anschickt, die junge Frau zu vergewaltigen. Liske hat den Text dieser Wahnsinns-Szene selbst geschrieben, mit fast schon dostojewkischen Qualitäten. Yaron Shamir hat daraus eine dramatische Verfolgungsjagd choreografiert. Svenja Marija Topler als Opfer bleit die ganze Szene über stumm. Er umkreist sie, jagt und verfolgt sie, setzt sich neben sie, berührt sie – bis das Opfer zuletzt anklagend ins Publikum schreit, warum hier niemand eingreife.
Abschließend schmettert Topler mit starker Soulstimme »Respect« – den Songklassiker, in dem Aretha Franklin dieses Leitwort der Frauenbewegung einem Millionenpublikum vorbuchstabiert hat. Das Ensemble verliest parallel Zuschauer-Statements zum Thema Respekt, inklusive eines Seitenhiebes auf »pseudodiskursive Leerformeln«. Aber das kann dem geglückten Abend nicht schaden. Großes Kino und viel Applaus.
Unterm Strich
Respekt! Ein kurzweiliger Theaterabend voller Ideen, mit Witz, Anspruch, Tiefgang sowie gelungenen aktuellen Bezügen – und Musik ist auch reichlich drin.
Musik, Stolz und Vorurteil
von Kathrin Kipp
REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 23.10.2021
Theater – Uraufführung der Szenencollage »Respekt« an der Tonne mit Texten von acht Autoren
Reutlingen. Neben der »Ersatzhaltestelle« hängt ein Clochard mit Kontrabass herum »Haste mal ’n Euro?«, fragt er die Passanten »Ja, hab’ ich«, antwortet einer. »Du nicht?« Hm. Ist das nun lustig oder einfach nur respektlos? Was alles so passiert, wenn mal wieder kein Bus kommt, das spielt die Tonne nun in ihrer schwarz-bunten Szenen-Collage zum Thema »Respekt« durch – mit viel Musik, Texten von acht Autoren und sehr abwechslungsreich inszeniert von Enrico Urbanek.
Vielleicht kommt aber auch kein Bus vorbei, weil sowieso alles nur Theater ist. Aber wie im richtigen Leben treffen auch an der Tonne-Haltestelle (Bühne: Sibylle Schulze) Frauen und Männer, »Inländer« und »Ausländer« und sogar »Kuschterdinger« aufeinander. Mütter, Psychopathen und andere Gestresste tauschen kleine Bosheiten und große Weisheiten aus, Musik, Stolz und Vorurteile.
Ein Interaktionsreigen, bei dem abwechselnd sarkastisch, skurril, gruselig oder tänzerisch unsere Alltagsregeln durchgespielt werden. Mit jeweils mehr oder weniger Respekt für die lieben Mitmenschen und auf jedem Niveau. In einfachen wie vielsagenden Miniaturen mit teils überraschenden Wendungen.
Clochard am Kontrabass
Musikmacher Michael Schneider wärmt sich dabei als Clochard an seinem Kontrabass und fädelt den roten Faden durchs Stück mit immer neuen »Haste mal ’n Euro?«-Varianten. Immer wieder trommelt er die Akteure zu einer Straßenmusik-, Folk- und Trash-Combo zusammen, die als fidele Gauklertruppe auf Mülltonnen herumklopft, einen Ländler spielt, sprechende Handys in die Tonne wirft oder Beethovens gute alte »Freude schöner Götterfunken«-Hymne im lässigen Country-Style präsentiert: »Alle Menschen werden Brüder.« Tja, schön wär’s. Schiller hat ja in seiner Ode vor lauter Freude die Schwestern vergessen.
An die wiederum denkt Autorin Marion Schneider-Bast, wenn sie Chrysi Taoussanis als junge Mutter ins Rennen schickt. Und langsam in den Wahnsinn treibt, weil alle, die sie trifft, ganz viel »Respekt« vor ihrem Mann in Elternzeit haben, weil er sich fürs Baby aufopfert, während sie sich auf Arbeit »austoben« darf: verkehrte Welt. Da rackert man sich ab, aber den Respekt erntet doch wieder nur der Mann.
Und so treffen an der Haltestelle Professor auf Rapper, Richterin auf Baggerer, Fahrradfahrer und Rollstuhlfahrer. Es wird gerumpelt und gerempelt: »Scheiß Inklusion!« Da zeigt sich das inklusive Tonne-Theater mal wieder ganz selbstironisch. Auch, wenn Santiago Österle im Rollstuhl einen Text von Helge Thun abdichtet: »Ihr sitzt, weil ihr es wollt! Ich sitz, weil ich muss.« Und trotzdem: »Ich fühle mich als ganzer Mann«, aber eben wie ein Hund »nur auf halber Höhe«. Da wird einem ganz betroffen zumute. Aber »keine Angst! Ich spiel’ nur Theater«. Und im Theater wird eben auch mit der Wirklichkeit gespielt: »Sind die Verse Zufall oder so gemeint oder extra so gereimt?«
Genauso kompliziert ist es mit dem Respekt: Wenn wir draußen über ihn lachen, sind wir respektlos. Im Theater sind wir respektlos, wenn wir nicht über ihn lachen. Aber drinnen wie draußen, wie es ist, ist es nichts: »Theater und Lebens: Beides ist Scheiße!« Das ist Betroffenheitslyrik, aber ausnahmsweise mal ganz in echt, wenn Österle von seinem Rollstuhl runterkrabbelt: »Ich dachte, mir hilft jemand!«
Unbeeindruckte Moralisten
Nicht mehr zu helfen ist Thomas B. Hoffmann als Selbstmörder, der genüsslich Seil, Messer, Tabletten vor sich aufbaut, während Daniel Tille aufgeregt herumspringt und auf den Naldo schimpft: »Na, lassen wir’s doch!« Beim Selbstmord wäre er gern behilflich, wird aber vom nächsten Dahergelaufenen (David Liske) in ein Gespräch über Moral und Respekt hineingezogen. Und während man den Selbstmörder völlig respektlos am Seil hängen lässt, ziehen die Denker von Weltformat in inniger Freundschaft von dannen – als auch schon Antje Rapp als Engelchen über die Bühne schwebt. So wie in diesen »Short-Cuts« alles ineinandergreift: Musik, Theater, Leben, Überleben. Bahattin Güngör als Müllmann und Straßentänzer wiederum wird von allen respektiert.
Ganz anders David Liske, der als Außenseiter in einer großartig inszenierten Szene von Barbara Herold von einem chorisch trippelnden A-Team in einer neckisch giftigen Choreo durch die Straßen getrieben wird: Bestimmt ein Ausländer, so wie der schaut. »Noi, i bin än Kuschterdinger!« Und so haben selbst Kusterdinger ein klein wenig Respekt verdient, das bringt auch Svenja Marija Topler zum Ausdruck, wenn sie astrein soulig Aretha Franklins »R-E-S-P-E-C-T« in Richtung Zuschauertribüne schmettert. Respekt!