Verführerischer Sog

von Jürgen Spieß

REUTLINGER NACHRICHTEN, 10.07.2021

 

Reutlingen − Die Premiere von »Romeo und Julia«, das diesjährige Sommerstück des Tonne-Theaters, entwickelt durch die Tanzeinlagen eine ganz eigene Dynamik

 

Sie sind wie zwei junge  Rehe, immer auf dem Sprung, der Ungeduld Ihrer Herzen folgend. Ihre Hingabe inszenieren sie wie einen lustvollen Kampf, wie einen intensiven Flirt, der ganz ohne Worte auskommt. Trotz aller Widerstände und der Aussichtslosigkeit ihrer Beziehung finden die beiden Jugendlichen Romeo und Julia zusammen. Sie verlieben sich, heiraten heimlich und lassen sich auch von ihren untereinander zerstrittenen Familien bis in den Tod nicht auseinander bringen. Im Gegenteil. Die zarten Bande werden zur brennenden Liebe und der Krieg zwischen den Capulets (Julia) und Montagues (Romeo) schweißt das junge Paar nur noch enger zusammen.

 

Liebe tänzerisch gestehen

Enrico Urbaneks Sommertheater-Inszenierung »Romeo und Julia« hat dem berühmtesten Liebesdrama der Welt eine weitere Lesart hinzugefügt. Die Premiere wurde dabei am Donnerstag aufgrund der unsicheren Wetterlage vom Spitalhof in den großen Tonne-Saal verlegt. Dabei wagen der Regisseur und der israelische Choreograph Yaron Shamir mit ihrer anderthalbstündigen Fassung eine eher ungewöhnliche Wiederbelebung des Shakespeare-Klassikers: Denn Romeo (der aus Griechenland stammende Konstantinos Papamatthaiakis) und Julia (die Italienerin Simona Semeraro) gestehen sich ihre Liebe ausschließlich tänzerisch ein und leben auch sonst in ihrer ganz eigenen Welt. Für sie scheint der Konflikt zwischen den neureichen Capulets und den übermütigen Montagues nicht zu existieren. Gleichwohl werden sie immer mehr in den Streit hineingezogen, bis es zum Eklat kommt und Romeo einen Capulet im Streit ersticht. 

 

Geliebt, gestritten und gekämpft wird überwiegend auf einem Bau- und Metallgerüst mit beweglicher Treppe und die zwei Tänzer und vier Schauspieler sind mit zeitlosen Kostümen ausgestattet, die Elemente aus Mittelalter, Renaissance und Moderne vereinen (Ausstattung: Iskra Jovanović-Glavaš). So bewegen sich die Figuren permanent in einer unfertigen, unsicheren Welt. Alles ist in Bewegung, wie bei einer Bootsfahrt auf stürmischer See und die vier Schauspieler Chrysi Taoussanis (Fürstin, Julias Gouvernante, Giftverkäuferin), David Liske (Graf Capulet, Romeos Freund, Neffe des Grafen), Daniel Tille (Bruder Lorenzo, Diener der Capulets) und Irfan Kars (Bruder Markus, Romeos Cousin, Franziskaner) übernehmen darüber hinaus alle mehrere Rollen. Wären die rivalisierenden Gruppen optisch nicht durch ihre roten oder blauen Turnschuhe zu unterscheiden, würde man als Zuschauer leicht den Überblick verlieren.

 

Auch verzichtet Enrico Urbanek weder auf spektakuläre Kampfszenen mit Messern, Boxhieben und Macheten noch auf emotionale Dramatik. Er lässt seine Schauspieler singen, über Gerüste klettern und pantomimisch Gefühle ausdrücken. Er lässt sie echte Wutausbrüche zelebrieren, herzergreifend schmachten, Tränen vergießen. Dabei vetraut er auf deren Körpersprache und Shakespeares Sprachgewalt.

 

Für die Highlights der Aufführung sorgen die beiden wundervollen Tänzer Simona Semeraro und Konstantinos Papamatthaia- kis, die den Zauber wie den Furor der Liebe glaubhaft und mit eigener Note ausdrücken. Ihre Sprachlosigkeit ist den Beiden kein Hindernis, wenn sie wie unter magnetischer Energie voneinander angezogen werden. Vor allem der Wechsel von berührender Bewegungsharmonie und vorwärtstreibender Dynamik zur rhythmischen Clubmusik des Dresdner DJs Stefan Menzel entwickelt einen unwiderstehlich verführerischen Sog.

 

So gerät diese Fusion aus klassischem Schauspiel, Sprechtheater und Modern Dance nie zu Kitsch. Vielmehr ist sie eine pointierte Rückeroberung des romantischen Stoffes durch die tanzenden Hauptdarsteller: »Romeo und Julia« ist hier eine Hymne an den Tanz an sich, eine Kunst, die da beginnt, wo Worte überflüssig werden.

 

 

Hinreißend tragisch und poetisch

von Christoph B. Ströhle

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 10.07.2021

 

Reutlinger Sommertheater − Die Tonne zeigt eine verdichtete »Romeo und Julia«-Fassung mit Tänzern in den Titelrollen

 

Reutlingen. Intendant und Regisseur Enrico Urbanek, der immerhin schon seit 20 Jahren bei der Reutlinger Bühne ist, und das Theater Die Tonne überraschen immer wieder. Diesmal mit einer Fassung von William Shakespeares »Romeo und Julia«, die auf spannende Weise Schauspiel und Tanz vereint. Am Donnerstagabend feierte das Reutlinger Sommertheater Premiere − wetterbedingt im großen Saal der Tonne, der als Ausweichspielstätte für das Open Air im Spitalhof dient. Bis zum 1. August aber sollte es noch etliche Gelegenheiten geben, dort zu spielen. 

 

Das Publikum spendete mehrfach Zwischenapplaus, vor allem, wenn der Tänzer und die Tänzerin, die so hinreißend poetisch und leidenschaftlich Romeo und Julia verkörpern, solistisch oder als Paar agierten. Yaron Shamir hat die Tanzszenen absolut fesselnd choreografiert und mit Simona Semeraro und Konstantinos Papamatthaiakis in den Titelrollen Ausführende gefunden, die viel Herzblut in die Szenen legen.

 

Ruf zum Zähneputzen

Besonders anmutig und geschmeidig geriet ihnen die Erstbegegnung Romeos und Julias bei einer Party, bei der der Moment des sich gegenseitigen Wahrnehmens ohne Umschweife in ein tänzerisches Duett mündete und die prosaische Welt um die beiden herum schlagartig vergessen ließ. Man konnte den Blick bei diesem Auftritt nicht von ihnen lassen. Es war eine bewusste Entscheidung von Regisseur Urbanek und Choreograf Shamir, Romeo und Julia in dieser Inszenierung nicht mit Worten sprechen, sondern lediglich über Mimik und Gesten und in der Sprache des Tanzes kommunizieren zu lassen. An einer Stelle im Stück versucht Romeo, Bruder Lorenzo klarzumachen, dass er unsterblich verliebt in Julia ist. Er nutzt dafür die Mittel der Pantomime.

 

So mancher Dialog, den Shakespeare geschrieben hat, bleibt in dieser Version zwangsläufig auf der Strecke. Auch sind Handlung und Personal in der von Karen Schultze klug erstellten Textfassung nicht unerheblich verdichtet. Bis auf Simona Semeraro und Konstantinos Papamatthaiakis übernehmen alle Darsteller mehrere Rollen. Chrysi Taoussanis vereint als Fürstin von Verona Strenge und Güte. Als Giftmischerin in Mantua verhandelt sie mit Romeo knallhart. Vor allem aber ist sie im Stück Julias Amme, eine Pragmatikerin, die Julia abends zum Zähneputzen ruft, ihre heimliche Hochzeit mit Romeo organisiert, um Julias Vater, der sich mit Graf Paris handelseinig geworden ist, dass dieser sie heiraten darf, vor vollendete Tatsachen zu stellen. 

 

Die Hochzeitsschleppe, die die Amme aus der Einkaufstasche einer Mailänder Modefirma zieht, scheint kein Ende zu haben. Als die Fürstin Romeo aus Verona verbannt und er für Julia damit »so gut als tot« ist, schlägt die Amme Julia vor, nun eben doch Graf Paris zu heiraten, damit wieder alles ins Lot kommt. Herzzerreißend fällt Chrysi Taoussanis Schrei aus, als sie als Amme die vermeintlich tote Julia entdeckt.

 

Daniel Tille sächselt als Diener der Capulets. Als Bruder Lorenzo erlebt man ihn ebenso gewissenhaft wie experimentierfreudig kiffend. Mit der Amme teilt er die Überzeugung, dass sich mit Romeos und Julias Vermählung der jahrelange Streit der verfeindeten Familien Montague und Capulet beenden lässt. Tille spielt auch Romeos Kampfrivalen Tybalt, der, ein absoluter Heißsporn, Romeos Freund Mercutio ersticht und daraufhin vom unter Schock stehenden Romeo getötet wird.

 

Mit Messern und Macheten

 David Liske gibt den Mercutio. Als Graf Capulet erlebt man ihn vor allem in einer Rolle: als Missversteher seiner Tochter Julia. Nicht nur, dass er Paris als künftigen Ehemann ins Spiel bringt. Er versteht auch nicht, dass Julia nicht um ihren getöteten Cousin Tybalt weint, sondern weil sie von einem Abschied für immer von ihrem geliebten Romeo ausgehen muss. 

 

Irfan Kars ist in der Rolle von Lorenzos Mitbruder Markus zu sehen, der, durch Quarantäne während einer Epidemie aufgehalten, einen wichtigen Brief an Romeo nicht rechtzeitig zustellen kann. So erfährt dieser nicht, dass Julia nur scheintot ist. Und Kars ist Benvolio, dem es nicht gelingt, die Aggressions- und Gewaltspirale zwischen den Familien Capulet and Montague zu stoppen.

 

Die zentrale Kampfszene hat Urbanek mit Klappmessern und Macheten choreografiert. Sie wirkt wie eine Auseinandersetzung im Clan-Milieu. Die von Iskra Jovanović-Glavaš geschaffene Ausstattung zitiert Mittelalter, Renaissance und Moderne an. Prachtvolle Kostüme und eine rollbare Treppe, die die in teils verblendeter Baugerüst-Optik gestaltete Ober- und Unterbühne verbindet, lassen keine eindeutige zeitliche Zuordnung zu. Das gilt auch für die von Sandrow M alias Stefan Menzel produzierte Musik, die Formen von Clubsounds, Filmmusik und Klassik aufgreift.

 

In denTanzszenen ist sie wichtiges Ausdrucksmittel und sorgt mit dafür, dass der ganz eigene, abgehobene Kosmos der Liebenden in einer durch Nüchternheit und Hass charakterisierten Welt über die Mittel der Bewegungssprache besonders intensiv zum Ausdruck kommt.

 

 

Tanzen bis in die Gruft

von Bernhard Haage

SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 12.07.2021

 

Premiere − In der Tonne-Sommertheater-Version tanzen »Romeo und Julia« um ihre Liebe und ihr Leben, das sie am Ende bekanntlich verlieren.

 

Reutlingen. Dass Grausamkeit und Schönheit bisweilen eng beieinander liegen, davon legt William Shakespeares »Romeo und Julia« seit Jahrhunderten ein zeitloses Zeugnis ab. Das Reutlinger Theater Tonne hat für sein Sommertheater eine ganz eigene Version gefunden, die Wort, Spiel und Tanz auf besondere Art verbindet. Am Donnerstagabend war Premiere. Das Wetter war mal wieder daran schuld, dass nicht alles so luftig und mit dem besonderen Reiz einer Aufführung unter freiem Sternenhimmel im Spitalhof beginnen konnte. Der Tonneneubau allerdings schaffte dafür eine gewisse Intimität und unterstrich besonders die bedrückenden Szenen in der Familiengruft der Capulets. Dass mit Simona Semeraro als Julia und Konstantinos Pappamatthaiakis als Romeo zwei exzellente Vertreter modernen Tanztheaters die Hauptrollen übernommen hatten, zeigte von Anfang an, wohin die Reise gehen würde. Auch Choreograph Yaron Shamir, der den beiden die Choreographie auf den Leib geschrieben hatte, ist in Reutlingen Iängst kein Unbekannter mehr.

 

Brautschleier aus der Tüte

Wie dumm nur, dass Graf Capulet (David Liske) seine Tochter ausgerechnet einem ihr völlig unbekannten Grafen Paris verheiraten will. Aber so war das damals ja nicht nur in Verona. Und wie es das Schicksal so will, verschlägt es den jungen Heißsporn Romeo aus der Familie der Montague ausgerechnet auf ein Fest der Capulet, die mit seiner Familie spinnefeind sind. Bei dieser Gelegenheit sieht er zum ersten Mal Julia und erleidet so etwas wie einen Hormonschock, der in die Theatergeschichte eingehen wird. Da es Julia kein bisschen anders ergeht, ist die Sachlage eigentlich klar, aber in Verona ein Politikum. Sowohl Julia als auch Romeo tanzen ihre stürmischen Gefühle, was ein Augenschmaus ist. Chrysi Taoussanis, die außer der Fürstin von Verona auch noch Julias Gouvernante spielt, lässt sich in letzterer Rolle von den Fakten überzeugen und fädelt einen Plan ein, Julias Vater vor vollendete Tatsachen zu stellen. Ein viele Meter langer Brautschleier wird dazu aus einer Prada-Tüte gezaubert, und ein hilfsbereiter Franziskanermönch erteilt dem jungen Paar heimlich den Brautsegen. 

 

Ärgerlich nur, dass Romeo nicht nur selbst heißblütig ist, sondern auch von lauter Heißspornen umgeben ist. Mercutio (ebenfalls von David Liske verkörpert) und Benvolio (Irfan Kars), zwei Freunde von Romeo, legen sich mit Tybalt (Daniel Tille), dem Neffen des Grafen Capulet, an. In einer spektakulären Kampfszene stirbt dabei Mercutio, und der hinzueilende Romeo ersticht Tybalt. Für Romeo bedeutet das, er wird von der Fürstin aus der Stadt verbannt. Noch einmal leistet die Gouvernante einen Freundschaftsdienst, ermöglicht Romeo und Julia eine Hochzeitsnacht und bietet damit dem Publikum weitere Facetten tänzerischen Ausdrucks. Was folgt, ist Verzweiflung, Drama und ein unglücklicher Plan, der leider schief geht. Wunderbare Todestänze zeigen einmal mehr die Klasse von Tänzerin und Tänzer.

 

Ganz eigene Poesie

Es ist auch der Textfassung von Karen Schultze zu verdanken, dass bei all dem, was leider kommen muss, auch immer wieder ein wohldosierter Schuss Humor aufblitzt und das ganze Elend der Geschichte ertragbarer macht. Das Bühnenbild ist eine Gerüstkonstruktion mit einer verschiebbaren Leiter, welche die Akteure zum Teil auf abenteuerliche Weise überwinden, und die Ausstattung von Iskra Jovanović-Glavaš ist entsprechend auf das Wesentliche reduziert. So ist leicht an kleinen Ausstattungsmerkmalen zu erkennen, ob Taoussanis zum Beispiel nun gerade Fürstin, Gouvernante oder Gift- mischerin ist. »Romeo und Julia« der Reutlinger Tonne profitiert sehr davon, dass sowohl die Textfassung als auch die Choreographie aus den eigenen Reihen stammen. Diese Aufführung gewinnt damit eine ganz eigene Poesie, die so wahrscheinlich kaum zu reproduzieren ist. Der lange Schlussbeifall jedenfalls gibt dem gelungenen Konzept, der Kombination von starkem Tanz mit gutem Schauspiel, recht.

 

 

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