Keine Zeit für Helden

von Christoph B. Ströhle

REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 8.7.2023

 

Open Air – Die Tonne zeigt Friedrich Dürrenmatts Komödie »Romulus der Große« als Sommertheater im Spitalhof

 

REUTLINGEN. Der Fuchs hat die Hühner geholt, nur eines mit Namen Odoaker hat er verschmäht. Solche Nachrichten beschäftigen den titelgebenden römischen Kaiser »Romulus der Große« in Friedrich Dürrenmatts »ungeschichtlicher historischer Komödie« in dem Moment, als Odoaker, der hunnisch-germanische Warlord, zu ihm vordringt. Der wiederum entspricht so gar nicht dem Bild, das sich Romulus von ihm gemacht hat – er kommt ihm wie ein verkleideter byzantinischer Botaniker vor. Und als Odoaker sich ihm unterwirft, statt ihn zu töten, bricht Romulus’ Plan einer geschichtlichen Wendung durch kaiserliches Nichtstun völlig zusammen.

 

Rupert Hausner füllt die Glanzrolle von Westroms letztem Kaiser, den Dürrenmatt als passionierten Hühnerzüchter anlegt, der sich aus Krieg und Politik raushält, nicht aber aus den Heiratsplänen seiner Tochter Rea, mit komödiantischer Bravour. Und führt im Reutlinger Sommertheater der Tonne im Spitalhof unter freiem Himmel ein Ensemble an, das ihm in puncto Pointensicherheit und Freude an der Farce das Wasser reichen kann. Bei der Premiere am Donnerstagabend bei schönstem Sommerwetter fiel der Beifall, der auch dem Team um Regisseurin Marion Schneider-Bast und wohl nicht minder Dürrenmatts absurd-hintersinnigem Text galt, überwältigend aus.

 

Zugegeben, etwas comichaft wirkt die schräge Geschichtsstunde, und das ist Absicht. Dürrenmatt ließ keinen Zweifel daran, dass es ihm in seinem 1949 uraufgeführten Stück nicht um eine realitätsnahe Aufbereitung der Ereignisse ging. Im Paradoxen, so formulierte es der Schweizer Dramatiker, erscheine die Wirklichkeit. Es habe ihn gelockt, »einmal einen Helden nicht an der Zeit, sondern eine Zeit an einem Helden zugrunde gehen zu lassen«.

 

Dünkel und Ambition

 

Was Schneider-Bast und das Tonne-Ensemble auf die Bühne bringen, ist irgendwo zwischen Asterix-Ästhetik und Bertolt-Brecht-Ton angesiedelt. Wobei Dürrenmatt auf die Brecht-These, dass die Welt veränderbar sei, folglich verändert werden müsse, mit dem soziologischen Hinweis antwortete, eine Veränderbarkeit der Welt durch den Einzelnen sei unrealisierbar geworden, außer Kurs gesetzt. »Was alle angeht, können nur alle lösen. Jeder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern«, sagte er. Und so hat sein Romulus im Stück vor allem ein Ziel: die Weltgeschichte nicht zu stören. Gegen das Vaterland gelte es misstrauisch zu sein, befindet er. Seiner Frau Julia, mit einer Mischung aus Dünkel und Ambition dargestellt von Jessica Schultheis, passt das gar nicht. Sie hängt am Römerreich, will weder Stand noch Privilegien aufgeben.

 

Dürrenmatts Komödie – die schlimmstmögliche Wendung, die eine Geschichte nehmen kann, ist nach seiner Auffassung die Wendung in die Komödie – strotzt nur so vor Sinnsprüchen, wird aber nie zum Thesentheater. Dafür sorgen Dürrenmatts anarchischer Witz und die lebensprall und mit viel Ironie auf die Bühne gebrachten Figuren. Michael Schneider, der seinen Odoaker ängstlich-tollpatschig spielt, hat auch die Musik, die das Bühnengeschehen wunderbar strukturiert, komponiert. Sie deutet Größe an, konterkariert das Pompöse dieser Klänge aber auch mit beschaulichen Landidyll-Anleihen und Brüchen.

 

Und da sind jede Menge skurrile, zugespitzte Figuren. Thomas B. Hoffmann schickt sich als großspuriger Cäsar Rupf, Kopf der auf Hosen spezialisierten »Weltfirma Rupf«, an, Kapital aus dem untergehenden Römer-Imperium zu ziehen. Auch Odoaker sei bereit zu einem Deal, erklärt er. Rupf will durchsetzen, dass das Hosentragen zur Pflicht wird. Und er will aus Prestige-Gründen Romulus’ Tochter Rea heiraten. Hier zeigt sich der Kaiser zum ersten Mal strikt: Er lehnt eine solche Verbindung rigoros ab.

 

Rea – Justine Rockstroh spielt sie Perspektiven für die Jugend einfordernd dickköpfig – sieht man im Stück immer wieder theatralische Haltungen einnehmen. Sie hat sich die Figur der Antigone für ihre Schauspielübungen ausgesucht, übertreibt es aber mit dem in der Rolle zur Schau getragenen Pathos. Kristin Scheinhütte wird als Ämilian, Verlobter Reas, der lädiert aus germanischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, zum Wortführer einer Revolte gegen den Kaiser. Um den Untergang des Vaterlands abzuwenden, wäre Ämilian auch bereit, seine Verlobung mit Rea zu lösen, damit sie den Unternehmer Rupf heiraten kann. Rea erkennt Ämilian bei seiner Rückkehr erst gar nicht – so sehr haben ihn die Gefangenschaft und der Hass auf die Germanen verändert.

 

Chronik und Groteske

 

Und dann sind da noch Figuren wie Spurius Titus Mamma, von Daniel Irschik vom inklusiven Ensemble mit viel Sinn für Komik verkörpert. Der Reiterpräfekt harrt nach Tagen der Schlaflosigkeit darauf, zum Kaiser vorgelassen zu werden, um ihm die Nachricht vom herannahenden germanischen Unheil zu überbringen. Dem vom Kaiser ernannten Generalfeldmarschall (in einer Doppelrolle: David Liske) fällt nichts Besseres ein, als in aussichtsloser Situation von »totaler Mobilmachung« zu faseln.

 

Seyyah Inal versteckt als Zeno der Isaurier, Kaiser von Ostrom, seine Schwäche unter hochtrabenden Phrasen. Als Kunsthändler Apollyon feilscht Bahattin Güngör hart um den Preis von Stücken aus der kaiserlichen Büsten-Sammlung. Er nutzt die Situation aus, dass Romulus auf Geld angewiesen ist, damit er das Futter für seine geliebten Hühner bezahlen kann. Mit dem Einkaufswagen fährt Apollyon die erlesenen Stücke raus.

 

Antje Rapp gibt mit kleinen Andeutungen auf der Bühne einen Theoderich zum Fürchten. Vor allem sein Onkel Odoaker ist überzeugt, dass er von ihm nichts Gutes erwarten kann. Die Geschichtsschreibung gibt ihm recht: Theoderich tötete Odoaker im Jahr 493 im Zuge ihres Machtkampfs.

 

Immer wieder treten die Schauspielerinnen und Schauspieler (unter ihnen auch Heather High und Emma Vopel vom Tonne-Jugendforum) zu Sprechchören zusammen, in denen sich Chronik und Groteske mischen.

 

Das Bühnenbild ist eher einfach gehalten. Dafür scheint Ausstatterin Iskra Jovanović-Glavaš bei den Kostümen Anleihen bei Familie Feuerstein oder im Rokoko zu nehmen. Besonders die Perücken haben einen Hang zur Extravaganz. (GEA)

 

 

Ein packender Untergang

von Sophie Holzäpfel

SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 8.7.2023

 

Sommertheater – Mit »Romulus der Große« führt das Tonne-Ensemble die Zuschauer auf die Spuren Roms.

 

Als ihm die weltumstürzende Nachricht von dem leichenblassen Innenminister Tullius Rotundus (David Liske) überbracht wird, reagiert der pazifistische Kaiser Romulus Augustus (Rupert Hausner) mit einem gelassenen Schulterzucken. Eine Hiobsbotschaft ist es für ihn ohnehin nicht, will er doch das blutige Imperium schon lange mit wehenden Fahnen untergehen sehen. Warum auch die Weltgeschichte stören? Vor dem Hintergrund eines Krieges wird unter dem Abendhimmel im Reutlinger Spitalhof ein Stück erzählt, das von Patriotismus und Tyrannei nicht weiter entfernt sein könnte.

 

Romulus rückt seinen goldenen Lorbeerkranz zurecht, schüttelt ein paar Federn aus seinem Morgenmantel und macht sich auf die Suche nach seinen gefiederten Freunden: die Legefrequenz seiner geliebten Hennen ist ihm das Wichtigste.

 

Rom schwarz, Romulus orange

 

Schauspieler Rupert Hausner sitzt im Lichtkegel und hält mit prüfendem Blick ein Ei in die Höhe. Er spielt einen humorvollen, lässigen und zuweilen fast philosophischen Romulus, der der Aufregung um sich herum mit geradezu provokanter Gelassenheit begegnet. Nachdem der Kaiser das Römische Weltreich bis zum Ruin heruntergewirtschaftet hat und nun der Einmarsch der Germanen bevorsteht, stellt er sich nicht die Frage, wie das Imperium gerettet werden kann. »Wir gehen unter, nicht die Welt. Das ist ein großer Unterschied«, erklärt er seiner aufgebrachten Ehefrau Julia (Jessica Schultheis), die mit kunstvoll aufgetürmten Haar die Bühne betritt.

 

Bühnenbildnerin Iskra Jovanović-Glavaš setzt bei der Inszenierung von »Romulus der Große« auf ein klares Setting ohne Transformation: vor dem hellen Hintergrund des kaiserlichen Landhauses wird auf zwei Ebenen gespielt. Die Römer treten in schwarzen, schlichten Kostümen auf, Romulus hebt sich mit seinem orangefarbenen Mantel von ihnen ab.

 

Hausner überzeugt als hedonistischer Anti-Held mit pointierter Komik. Mit gut platzierten Späßen, dem Einsatz von dramatischer Musik und narrativen Choreinlagen gelingt Regisseurin Marion Schneider-Bast eine moderne und aufgelockerte Inszenierung von Dürrenmatts lehrstückhafter Komödie (Dramaturgie: Michel op den Platz).

 

Lachsalven aus dem Publikum

 

Vermeintlich kurze Szenen werden zu komödiantischen Highlights: etwa wenn Apollyon, der Kunsthändler (Bahattin Güngör) im Einkaufswagen die Büsten, die er dem Kaiser abkauft, von der Bühne schiebt oder Romulus plötzlich über das noch nicht bezahlte Hühnerfutter nachdenkt. David Liske brilliert in seiner Doppelrolle als besorgter Innenminister Tullius Rotundus und Kriegsminister Mares. Im fliegenden Wechsel gelingt ihm scheinbar mühelos der Spagat zwischen dem verzweifelten Tullius Rotundus und dem überambitionierten Mares. Liske und Hausner tragen die Inszenierung gleichermaßen und spielen sich die Bälle souverän zu.

 

Der Gegensatz zwischen der wachsenden Verzweiflung des Hofstaats, der zunehmend panischer wird und dem vergnügten, munter frühstückenden Kaiser stehen im Mittelpunkt der Komödie. Selbst als Schauspieler Seyyah Inal mit seinem Rollstuhl auf die Bühne rollt und sich als Zeno der Isaurier verzweifelt an den Kaiser wendet: »Ohne den Glauben sind wir verloren«, kann das dessen gute Laune nicht trüben. »Also gut, dann glauben wir«, sagt er schulterzuckend und faltet die Hände vor der Brust. »Du glaubst?«, fragt Zeno zweifelnd. »Felsenfest«, antwortet Romulus zutiefst gelassen. Lachsalven aus dem Publikum ertönen im Spitalhof. Während es langsam dunkel wird, nähert sich die Handlung dem Höhepunkt. Der Untergang Roms steht kurz bevor.

 

Plötzlich betritt Cäsar Rupf (Thomas Hoffmann) die Bühne. Der Hosenfabrikant hebt seinen Hut an und blickt von der oberen Etage auf Romulus herab. »Nur Rom im Anzug wird dem Ansturm der Germanen widerstehen«, verkündet er. Das heruntergewirtschaftete Imperium wolle er nur dann aufkaufen, wenn er Prinzessin Rea (Justine Rockstroh) heiraten dürfe. Rea willigt ein, nachdem ihr geliebter Ämilian (Kirstin Steinhütte) aus seiner Kriegsgefangenschaft zurückkehrt und ihr die kalte Schulter zeigt. Rupf kann sein Glück kaum fassen und bricht in Tränen aus: in Szenen wie dieser zeigt sich, dass hinter jeder der noch so schrägen Figuren die Menschlichkeit entdeckt und gezeigt wird.

 

Ein echter Germane?

 

Als der Kaiser die Bewilligung zur Ehe jedoch nicht erteilt, ist der Hofstaat verzweifelt. »Dieser Kaiser muss weg«, stellt Ämilian kopfschüttelnd fest und leitet das große Finale ein.

 

Doch es kommt anders: Romulus bleibt, seine Familie und die Kammerdiener verlassen ihn jedoch und nehmen das Schiff nach Sizilien. Dass er am Ende also ganz allein der Ankunft der Germanen harrt, scheint fast Teil seines Plans zu sein. Mit großem Gepolter erscheinen Odoaker (Michael Schneider) und sein Neffe Theoderich (Antje Rapp) auf der Bühne. »Du bist ein echter Germane?«, begrüßt Romulus den siegreichen Helden erstaunt. Er sehe schließlich aus wie ein byzantinischer Botaniker. Sein Gegenüber stellt sich als ebenso politikverdrossen und pazifistisch wie der Kaiser selbst heraus. Die beiden eint eines aber noch viel mehr: die gemeinsame Leidenschaft für die Hühnerzucht. In der Bühnenmitte sitzend, tauschen die Anti-Herrscher sich über ihre gefiederten Helden aus.

 

Unterm Strich

 

Die Inszenierung bleibt ein leichtes Sommertheater: Für alle, die mit Dürrenmatts Werk vertraut sind, birgt sie zwar keine großen Überraschungsmomente, ist aber dennoch mitreißend und macht Spaß bis zum Ende.

 

 

Romulus der Große

von Lukas Lummer

KUPFERBLAU. DAS CAMPUSMAGAZIN, 9.7.2023

 

Einen Katzensprung von Tübingen entfernt kann man im Sommertheater der Tonne Reutlingen die Landresidenz von Romulus dem Großen besuchen. Der Kaiser Roms haust hier mit seiner Familie, und vor allem mit seinen Hühnern. Friedrich Dürrenmatts Stück wird dabei von einem bunten Ensemble auf die Bühne gebracht, welches die Lust des Kaisers zu regieren mit großem komödiantischen Einsatz konterkariert.

 

Das Morgenessen

 

Der Präfekt Spurius Titus Mamma kommt erschöpft an der Residenz des Kaisers an und bringt eine wichtige Botschaft mit sich: Pavia ist im Kampf gefallen und die Germanen rücken näher auf Rom zu. Leider nur ist das nicht der übliche Weg, den Kaiser zu sprechen, und so wird er darauf verwiesen, den üblichen Akt der Bürokratie in Kauf zu nehmen; eine Audienz beim Kaiser sei dann in ein paar Tagen, vielleicht eher Wochen möglich. Das macht der Reiterpräfekt nicht mit und versucht sich selbst seinen Weg zum Kaiser zu bahnen.

 

Nichts ahnend sitzt dieser am Frühstückstisch, nein, beim Morgenessen. Diese Begrifflichkeit ist Romulus dem Großen ganz wichtig, um zu bezeichnen, wie er von seinen Dienern ein Frühstücksei serviert bekommt. Benannt sind seine Hennen nach großen Persönlichkeiten, manche bereits verstorben. Der Namensgeber des Eis, das er an diesem Morgen verspeist, Odoaker, hat es jedoch mit seiner germanischen Streitmacht auf Rom abgesehen. Der Kaiser wirkt ziemlich uninteressiert, widmet er sich doch lieber dem Verkauf einiger seiner Kunstwerke. Später stößt der Hosenfabrikant Cäsar Rupf hinzu und macht dem Kaiser ein rettendes Angebot: die Germanen, mitunter seinen größten Abnehmern, sind bereit, Rom für eine hohe Geldsumme zu verschonen. Ungeschickt nur, dass der Finanzminister mit der (leeren) Staatskasse abgehauen ist. Cäsar Rupf ist bereit, diese Kosten zu übernehmen und Rom finanziell zu unterstützen, unter einer Bedingung: Er will die Tochter des Kaisers zur Frau haben. Romulus ist auch davon ungerührt, was zu großem Streit unter seiner Belegschaft führt. Fraglich, ob der Kaiser noch so gut für Rom ist.  Aus Furcht vor einem Putsch läuft er fortan auf Eierschalen.

 

Sunny Side Up

 

Für die Rolle des Romulus fand die Tonne mit Rupert Hausner eine ausgezeichnete Besetzung. Er war lange Zeit eine Institution als Ensemble-Mitglied des Jungen LTT am Landestheater und ist nun im Ruhestand. Das heißt, selbst wieder mehr auf der Bühne stehen. Unterstützung findet er hier vom inklusiven Ensemble der Tonne. Kaiser Zeno, gespielt von Seyyah Inal, rollt lässig über eine integrierte Rampe auf die Bühne. Ebenso elegant kann dieser sich dann auch aus dem Staub machen, als ihm die Lage zu gefährlich wird. Die Kammerdiener des Romulus, Achilles und Pyramus, werden jeweils von einem Chor gespielt, dessen Mitglieder bei Bedarf in eigenständige Rollen schlüpfen. Ein schlichtes, flexibles Bühnenbild, bestehend aus einer Hausfassade, mit vielen Fenstern und Türen, und multifunktionalen Holzquadern, wirkt unterstützend für die Absurdität und Komik der Situation, allem voran die Hühnerfedern, die aus jedem Winkel und Hut herausfallen.

 

Romulus der Große wird im Sommertheater der Tonne noch ein wenig lustiger dargestellt als im Original. So bleiben manche ernsteren Passagen aus, was der Qualität des Stücks keineswegs schadet. Die neu gewonnene Leichtigkeit, kombiniert mit Dürrenmatts großer Portion Ironie, macht daraus ein Stück für einen schönen Sommerabend. Für alle Theaterfreunde lohnt sich also ein Ausflug in die Innenstadt Reutlingens.

 

 

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